»Die Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht vertrieben werden - und die einzige Hölle, der wir nicht entrinnen können«
- Jean Paul
In all den Legenden, all den Geschichten lauschen wir tapferen Helden, die sich voller Begeisterung in wilde Kämpfe stürzen. Ihre glorreichen Taten auf dem Schlachtfeld werden von Jongleuren besungen, von Kindern mit Inbrunst bejubelt. Aber in keiner einzigen Strophe, in keiner einzigen Zeile wird die Grausamkeit und der unglaubliche Schrecken beschrieben, der einer Schlacht innewohnt. Das Geschrei und Ächzen der Verwundeten. Der Gestank von Blut, der die Luft verpestet wie ein giftiges Gas. Ich hatte gedacht ich wüsste, was es heißt zu kämpfen. Tagtäglich war es in Pandämonium zu kleineren Scharmützeln gekommen. Aber der Angriff auf unser gewaltiges Schiff war etwas völlig anderes gewesen.
»Inzwischen ist schon über eine Spanne vergangen. Und immer noch sitzt du hier und starrst abwesend ins Leere«
Amy ließ sich ebenfalls auf der Reling nieder und ihre Beine baumelten neben den Meinen über dem bodenlosen Abgrund. Liebevoll legte sie einen Arm um mich und bettete meinen Kopf auf ihre Schulter.
»Du hättest ihn nicht retten können. Keiner von uns hätte das, alles ging viel zu schnell. Und du hast es zumindest versucht«
Bei diesen Worten überrollte mich eine Woge der Erinnerung. Sie kollabierte über mir und riss mich mit sich auf den Grund des Ozeans meines Bewusstseins. Mein Geist bäumte sich noch ein letztes Mal auf, versuchte einen Weg an die Oberfläche zu finden, weit weg von den Schmerzen die mich erwarteten, würde ich mich meinen Gedanken hingeben. Doch die Bilder, die ich so lange verdrängt hatte, drückten mich nieder wie ein eiserner Anker. Ich ertrank...
Ich war wieder fünf Jahre alt. Der Boden unseres kleinen Hauses begann zu beben und Staub rieselte aus den Balken des Strohdachs. Wie ein Wasserfall aus Feenlicht, hatte ich mir gedacht und vor Freude laut gelacht. Doch tief in meinem kindlichen Gemüt bemerkte ich die zum Reißen gespannte Atmosphäre, die schwer in der Luft hing. Meine Eltern blickten sich ängstlich an und mein Vater griff zu dem Jagtbogen, der an den alten, morschen Tisch gelehnt stand.
»Lyla!«, hauchte meine Mutter und in einen Sekundenbruchteil überkam mich ein Schauder, als mir das volle Ausmaß ihres Ausrufs klar wurde: Meine Schwester war noch dort draußen. Ich stürzte auf die Veranda und musste voller Entsetzen feststellen, dass die Nebel bereits das Ende unserer Straße erreicht hatten. Sie kamen früher als letztes Jahr. Innerhalb einiger Sekunden würden sie unser Haus vollständig verschluckt haben. In diesem Moment taumelte meine Schwester keuchend aus der weißen Wand, die viel zu schnell näher kam.
»Lyla!«
Ich schrie so laut ich konnte und wollte losrennen aber dann zögerte ich. Nur einen kurzen Moment verharrte ich, während mir tausend Bilder durch den Kopf schossen. Bilder von dem, was in den Nebeln lebte. Einen Liedschlag später stürzte ich dennoch los, meine Furcht verdrängend. Aber es war bereits zu spät. Lyla stolperte und schlug mit einem heißeren Schrei auf dem Boden auf. Ich war nur noch einen Meter von ihr entfernt, als die Nebel sie mit Haut und Haaren verschlangen. Dieses Bild, ihr Gesicht vor Entsetzen und Angst verzerrt, während das Weiß über ihre Haut strömte, brannte sich tief in meine Seele. Dann züngelten auch schon die ersten Schwaden an meinen Beine empor und griffen gierig nach mir wie tausend Hände. Ich atmete noch einmal tief ein, dann trat ich einen letzten Schritt vor. So erfüllt von der Art von Mut, wie er nur kleinen Kinder und Wahnsinnigen vorbehalten ist. Zäh und dickflüssig rannen die Schwaden meinen Körper entlang und das allgegenwärtige Weiß raubte mir komplett die Sicht. Stille senkte sich herab und als ich nach meiner Schwester schrie, kam kein Wort über meine Lippen. Die Nebel erstickten jedes Geräusch im Keim. Blind überwand ich den letzten Meter bis zu der Stelle, an der meine Schwester eben noch gelegen hatte. Doch Lyla war fort. Verzweifelt rannte ich los und versuchte nicht an all die Geschichten zu denken, die von den Monstern im Nebel erzählten.
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Paradise Lost - Das verlorene Paradies
Fantasia∆ Warm und schwer fällt der Regen auf mich nieder. Auf seinem Weg gen Boden reißt er Blut wie Tränen gleichermaßen mit sich, spült sie mit dicken Tropfen hinfort von meinem schmerzenden Körper. Nicht aber die Schuld, die ich auf mich geladen habe. U...