»Die Welt ist gierig, und manchmal umschließen Nebel unsere Herzen, bis wir uns nicht einmal mehr daran erinnern können, wann unsere Träume zu sterben begannen«
- Christoph Marzi
Die Zeit ist eine hungrige Bestie. Unersättlich reißt sie alles an sich. Und hat sie erst einmal ihre Klauen in etwas geschlagen, ist es unweigerlich verloren. Sie ist der ständige Beweis unseres Versagens. Mit jeder Sekunde, die vergeht, müssen wir uns ihren Sieg, ihre Überlegenheit eingestehen. Wir können vieles bekämpfen, unterdrücken, anzweifeln, aber die Zeit vergeht unbeeindruckt. Das alles wussten wir...und dennoch hatten wir es nicht kommen sehen. Unmerklich und lautlos war sie über uns gekommen, die Zeit, und hatte unsere letzten Tage und Stunden mit einem Bissen verschlungen. Man glaubt gar nicht, wie schnell die Minuten ins Land ziehen, wenn man sich vor Augen hält, dass man nur noch wenige hundert davon zu leben hat.
Meine Gedanken schweiften ab, während ich ein letztes Mal auf unseren Balkon heraustrat. Die Sonne war nur noch ein schmaler Strich hoch über mir und bald würde sie gänzlich verschwunden sein. Mein Blick fiel auf die zerstörten Reste des Geländers und ich musste unwillkürlich grinsen. Eine seltsame Ruhe hatte mich überkommen. Ich hatte gedacht, ich würde Panik verspüren, zumindest eine tiefe, bedrückende Angst, so kurz bevor wir den Nebeln übergeben werden sollten. Aber da war nichts. Noch nichts?
Kurzerhand trat ich den letzten Schritt an den Abgrund heran. Ein kleiner Steinsplitter löste sich unter meinen Füßen und trat seine lange Reise gen Boden an. Langsam breitete ich die Arme aus. Kleine Schatten sammelten sich an meinen Füßen. Umwirbelten mich kaum merklich. Ob sie mich retten könnten, würde ich fallen? Während sich mir die Magie der Engel noch nicht gezeigt hatte, verfolgten mich die Schatten seid meinem Gespräch mit Araziel in konstant wachsender Zahl. An ihr ständiges Wispern in meinem Kopf hatte ich mich inzwischen gewöhnt, aber wie ich sie kontrollieren sollte, war mir immer noch ein Rätsel. Der gefallene Engel hüllte sich diesbezüglich ebenfalls in Schweigen und so blieb mir nichts anderes übrig als zu warten. Nachdenklich ließ ich meinen Blick über den Innenhof schweifen.
»Seth! Was machst du da?«
Ein Hauch von Angst schwang in Amys Stimme und erst jetzt bemerkte ich, was ich für ein Bild abgeben musste. Schnell entfernte ich mich einige Schritte von meinem sicheren Tod und drehte mich um.
»Müssen wir schon los?«, ging ich nicht auf ihre Frage ein.
»Wir hätten eigentlich schon längst da sein müssen. Aber was wollen sie denn machen? Uns verhaften?«
Sie lachte trocken und völlig frei von jeglichem Humor. Müde und ausgebrannt blickten mir ihre blauen Augen entgegen. Die letzten Tage hatten in uns allen ihre Spuren hinterlassen. Ich versuchte mich an einem aufmunternden Lächeln und legte ihr sanft den die Hände auf die Hüfte.
»Wir schaffen das! Irgendwie werden wir das schaffen«
Unsere Blicke kreuzten sich und erst jetzt wurde ich mir ihre Nähe bewusst. Der süßliche Duft ihrer Haare wehte mir in die Nase und ich musste schlucken. Die Welt verlor ihren Klang und nur das Rauschen meines Blutes und das wilde Pochen meines Herzens erfüllte meine Ohren. Langsam beugte ich mich nach vorn, meine Hand wanderte ihre Taille hinauf und kam an ihrem Hals zum Stilstand. Ich atmete noch einmal geräuschlos ein, dann öffnete ich meine Lippen, die ihren nur noch eine Fingerbreit entfernt. Ich schloss die Augen. Und spürte plötzlich, wie sich ihr Körper unter meinen Fingern verkrampfte. Sofort ließ ich sie los und sah sie fragend an. Sie erwiderte meinen Blick für einen Sekundenbruchteil, dann wandt sie ihre Augen ab.
»Lass uns gehen«
Ihre Stimme war zittrig und als sie wieder aufsah, schwammen Trauer in ihren Augen. Trauer und noch etwas anderes. Etwas, was ich nicht zuordnen konnte.
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Paradise Lost - Das verlorene Paradies
Fantasia∆ Warm und schwer fällt der Regen auf mich nieder. Auf seinem Weg gen Boden reißt er Blut wie Tränen gleichermaßen mit sich, spült sie mit dicken Tropfen hinfort von meinem schmerzenden Körper. Nicht aber die Schuld, die ich auf mich geladen habe. U...