𝘛𝘌𝘕, wellenlängen

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( noah ) versuch nicht zu ertrinken
im wechselbad der gefühle
.・。.・゜.・゜・。.

Zugegebenermaßen war ich in so ziemlich keiner Position, mich über mein Studium zu beschweren. Mit meinem Abi-Schnitt hätte ich vermutlich mit der Vermutung extremer Dummheit nicht einmal einen Ausbildungsplatz bekommen, weshalb ein volles Stipendium für Literaturwissenschaften schon eine ziemlich große Sache war. 

    Davon einmal abgesehen war „Zeichen-, Text- und Medientheorien" so ziemlich das langweiligste Einstiegsseminar, was man sich hätte ausdenken können. Natürlich waren sowohl Zeichen, Texte als auch Medien sehr wichtig für die Literatur, aber wenn man Menschen für einen Studiengang interessieren wollte, hätte man sich dieses Fach vielleicht für ein späteres Semester aufheben sollen.

    Die Menschen, die wie die letzten Streber schon mit aufgeklappten Laptops im Hörsaal saßen, als ich – für meine Verhältnisse überpünktlich – in den Raum gehetzt kam, kotzten mich jetzt schon an. Alles bebrillte Streber, die mir das kommende halbe Jahr mit Sicherheit nicht gerade leicht machen würden.

    Ich suchte mir einen Platz möglichst weit hinten, was nicht schwer war, da ich scheinbar als einziger das Bedürfnis verspürt hatte, so wenig wie möglich gesehen zu werden. Die anderen hätten sich vermutlich am liebsten direkt auf das Pult des Dozenten gesetzt.

    Der Dozent war eigentlich eine Dozentin, die überraschenderweise sowohl ziemlich jung als auch ziemlich sympathisch war. Sie trug ein langes graues Gewandt, dessen einziges Farbhighlight der geblümte Hijab war, den sie auf ihrem Kopf verknotet hatte. Sie konnte nicht älter als 25 sein.

    „Guten Morgen", grüßte sie direkt, als sie die Tür hinter sich ins Schloss fallen ließ, „mein Name ist Azra Çelik, ihr könnt mich Azra nennen. Wer nicht geduzt werden möchte, soll mir das bitte direkt sagen, ansonsten werde ich das beibehalten." Sie stellte ihre Tasche auf dem Pult ab und ließ ihren Blick durch die Reihen gleiten. Obwohl ich die meisten Gesichter nicht sehen konnte war ich mir sicher, dass einige von ihnen von Schock gezeichnet waren.

    „Ich würde sagen, wir starten mit einer kleinen Vorstellungsrunde, weil wir so eine überschaubare Gruppe sind. Sagt einfach euren Namen und... etwas, was ihr mögt. Ein Hobby, eine Eiscreme-Sorte, irgendwas. Ich fange an. Meinen Namen kennt ihr ja schon, Azra, und ich mag... Hunde. Besonders Border Collies." Sie nickte einem Jungen direkt vor ihr zu, welcher sich als Emir vorstellte und eine Reihe langweiliger ich-bin-XY-und-ich-mag-Blaubeereis-s in Gang setzte. Niemand verriet etwas spannendes über sich, was nicht nur mich, sondern auch Azra irgendwie zu nerven schien. Im nächsten Semester würde sie sich garantiert etwas anderes überlegen.

    Es dauerte zehn Minuten bis ich schließlich damit dran war, mich vorzustellen. Schlau wie ich war, hatte ich mir nichts vorher überlegt. „Äh, ich bin Noah. Ich mag... eigentlich nichts besonders."

    Azra hob eine Augenbraue und ein paar der Anwesenden, welche sich vorher interessiert zu mir umgedreht hatten, verdrehten die Augen. „Irgendetwas mögen wir doch alle."

    „Was soll ich sagen? Ich trage sehr viel Hass in mir. Sonst würde ich was anderes studieren."

    „Keine Familienmitglieder? Freunde?"

    „Meine Familie ist ziemlich beschissen. Freunde hab ich keine."

    „Warum wohl?", murmelte ein Mädchen zwei Reihen vor mir und obwohl ich ihr am liebsten einen sarkastischen Kommentar an den Kopf geworfen hätte, musste ich ihr insgeheim zustimmen. Schließlich hätte ich einfach lügen und mir jemanden ausdenken können, den ich mochte, anstatt die Aufmerksamkeit aller auf mich zu ziehen. Es war, als wäre ich wieder 14 und der einzige Neue an der Schule. Als müsste ich würde dafür sorgen, dass sich alle von mir fern hielten.

    Den Blicken aller nach zu urteilen, hatte ich zumindest letzteres geschafft. Die meisten hatten sich bereits wieder umgedreht oder sahen mich nur noch mitleidig an, während Azra neben ihrem Pult leicht lächelte.

    „Dein Zynismus gefällt mir. Lass mich raten, Autor?"

    „Manchmal."

    „Ich würde gern mal etwas von dir lesen."

    „Ich habe nichts fertiges."

    „Das ist egal. Ich nehme etwas unfertiges oder einen 1000-Wörter Aufsatz darüber, was man am Leben alles mögen kann, morgen in meinem Postfach." Ich hob verdutzt die Augenbrauen.

    „Okay."

    „Okay! Gut, genug Selbsthass für heute. Lasst uns mit einer Einführung ins Fach beginnen."

    Anstatt ihr zuzuhören begann ich sofort, mental durch meine Sammlung begonnener Werke zu gehen. Ich hatte keinen Laptop – meine Eltern hatten ihn kurz vor Semesterbeginn konfisziert – aber die meisten meiner Geschichten und Ideen hatte ich sowieso nur an der Schreibmaschine erschaffen. Wie ich die innerhalb von einem Abend einscannen sollte, um sie per E-Mail zu versenden, war mir noch nicht ganz klar. Viel schwieriger fand ich es allerdings, eine Geschichte auszusuchen. Da ich zuvor immer nur für mich selbst geschrieben hatte, waren all meine Ideen völlig ungefiltert auf dem Papier gelandet. Ich hatte Seiten an Seiten voller Hass, Wut und Trauer – nichts, was ich meiner Dozentin, die ich erst seit etwa einer halben Stunde kannte, zum lesen geben wollte.

    Es gab nur eine Geschichte, welche ich jemals beendet und auch schon digitalisiert hatte. Sie war auch die einzige, die jemals von jemandem der nicht ich selbst war, gelesen worden war. Ob diese sich aber trotz ihrer Thematik eignete, war fraglich. Doch es schien, als würde ich keine Wahl haben. Hoffentlich war meine Englisch Dozentin, die ich im nächsten Block kennenlernen würde, nicht so exzentrisch.

𝙁𝘼𝘿𝙀 𝙄𝙉𝙏𝙊 𝙔𝙊𝙐 ⁿᵒˡⁱⁿWo Geschichten leben. Entdecke jetzt