Kapitel 19

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Für einen Augenblick – Montgomery, November 1988

Der November war dafür bekannt, dass der Wind immer die verrücktesten Sachen in den Buchladen wehte. Zeitungen, Schals, Mützen, Handschuhe, Hundeleinen und nun konnte Remus seiner Liste auch noch gutaussehende Franzosen hinzufügen. Spitze.

Eigentlich hatte er nicht damit gerechnet, dass er Alexandre Renaux noch einmal in seinem Leben sehen würde. Er hatte eigentlich damit gerechnet, dass der niemanden aus seinem alten Leben noch einmal sehen würde.

Aber vor allem nicht Alexandre. Von den paar Mal in der Zeitung mal abgesehen.

Doch so war es eben.

„Edith", sagte Remus zu seiner Kollegin, als er ihn sah, wie er mit einem kleinen Jungen (der ihm sehr ähnlich sah) den Laden betrat.

„Hm?"

„Ich glaube, ich gehe mal kurz auf die Toilette", murmelte Remus.

Edith sah von ihrer Zeitung auf und blickte in den Laden. Es war niemand da außer einer alten Dame und Alex eben. Dann sah sie zu Remus. „Klar. Lass dir Zeit."

Remus ließ sich das nicht zwei Mal sagen und schlüpfte hinter eines der Regale. Während die beiden auf das Regal zugingen, in dem die Comics zu finden waren.

Er hörte die beiden sich auf Französisch unterhalten, aber er verstand kein Wort.

Na gut, er verstand eins. Einen Namen. Phelia. Doch mehr verstand er nicht, bevor er sich mit großen Schritten in den Pausenraum flüchtete.

Was taten die beiden hier? In einem kleinen Kaff mitten im Nirgendwo? Konnten sie nicht wo anders Bücher kaufen? In London zum Beispiel oder noch besser: In Paris.

Remus ging am Büro seiner Chefin vorbei und schloss sich in der kleinen Toilettenkabine ein, die die drei sich teilten. Er klappte den Klodeckel runter und lies sich darauf nieder.

Hatte er unbedingt heute kommen müssen? An diesem Tag? Wenn er doch nur zwei Stunden später gekommen wäre. Dann wäre Remus schon auf dem Weg nach Hause gewesen und müsste sich nicht wie der letzte Depp auf dem Mitarbeiter WC verstecken.

Remus starrte auf die weißen Fliesen an der Wand und überlegte, warum Alex überhaupt in England war. Vor allem mit einem Kind.

Seine Gedanken rasten, als ihm plötzlich ein Zeitungsartikel einfiel, welchen er vor Jahren gelesen hatte.

Er war über die Rückkehr von Ophelia nach England gewesen und dass Alex bei ihr war. Lebten sie nicht sogar zusammen und kursierten nicht Gerüchte über sie, dass sie bald heiraten würden? Vielleicht war der Junge sogar Alex' Sohn.

Alex und Ophelias Sohn.

Aber nein, das konnte nicht sein, oder?

Der Junge war doch schon sechs oder so. Man hätte es sicher gehört, wenn Ophelia ein Kind hatte, oder?

Wenn der Junge wirklich sechs Jahre alt war, dann wäre er genau zu der Zeit auf die Welt gekommen, in der Ophelia in Frankreich war.

Remus versuchte, den Gedanken fortzuschieben, während er die Spülung drückte und die Kabine wieder verließ (wenn er länger gebraucht hätte, hätte seine Chefin sich wahrscheinlich sogar noch Sorgen um ihn und seine Gesundheit gemacht), doch es gelang ihm nicht.

Er verließ den Raum und sah Alex und den Jungen am Tresen. Der Junge legte das Comicbuch darauf und sah mit strahlenden Augen zu Edith. Remus begab sich währenddessen zu den Bücherregalen.

„... genau richtig, für die Altersklasse", hörte er Edith sagen.

„Ich durfte es mir ja auch selbst aussuchen", sagte der Junge grinsend. Sein Englisch war genauso akzentfrei wie das von Alex. Natürlich war er also auch in England aufgewachsen. „Es ist über Werwölfe. Wie Daisy."

cicatrize - the scars of the past [R.L.]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt