Kapitel 6

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Triggerwarnung: s. Ende des Kapitels

Nachtsichten und was sie mit sich bringen – Paris, September 1984

Ophelia erlebte ein Déjà-Vu, als sie das Kévin Martin Hopital betrat.

Sie hatte das französische Krankenhaus schon öfter besucht. Wegen ihrer Arbeit, während ihres Studiums, einmal hatte Damocles sich verletzt und sie hatte ihren besten Freund dazu überreden müssen, die Wunden behandeln zu lassen.

Aber es waren andere Momente gewesen, in denen sie das Krankenhaus besucht hatte. Niemals hatte sie das Herzrasen gespürt, welches sie nun überkam.

Niemals hatte sie die Angst gehabt, jemanden aus ihrem Leben zu verlieren, seitdem sie in Frankreich wohnte.

Die langen weißen Gänge erinnerten Ophelia an den Tag, als sie ihre Eltern verloren hatte. Als sie den Gang des St. Mungos Hospitals mit zittrigen Händen entlang gegangen war und einen Moment vor der Tür Inne gehalten hatte, bevor sie den Raum betrat, wo James, Sirius und ihre Eltern schon auf sie gewartet hatten.

Es war dasselbe Gefühl, dieselbe Angst, die sie in diesem Moment überkam.

Denn wie damals hatte sich die Erkenntnis in ihr breitgemacht, dass man nichts mehr für Martin und Genevieve tun konnte. Dass man in diesem Moment nur noch bei ihnen sitzen und auf das Ende warten konnte.

Es hatte nicht so lange gedauert, bis sie beim Krankenhaus angekommen und Damocles nach seinen Verwandten gefragt hatte.

Ein Heiler hatte sie begrüßt und sich vorgestellt, aber Ophelia war der Name so schnell wieder entfallen, wie der Heiler ihn ausgesprochen hatte. Sie bekam auch nur so am Rade mit, wie er mit Damocles redete.

„Bitte, ich bin sein Cousin", sagte ihre bester Freund verzweifelt zu ihm. „Ich muss zu ihm."

Der Heiler schüttelte jedoch mit dem Kopf. „Ich kann nur die engsten Familienmitglieder durchlassen."

„Meine Tante ist in Portugal", erklärte Damocles und klang noch verzweifelter. „Mein Onkel und mein anderer Cousin sind in England. Ich bin der nächste Verwandte, den Sie heute Nacht erreichen können."

„Ich habe Anweis-", versuchte der Heiler es ein weiteres Mal, doch er wurde von Ophelia unterbrochen: „Wir wissen, dass Sie Anweisungen haben und wir respektieren diese, aber ich bin mir sicher, dass Martin nun jemanden bei sich haben will, den er kennt."

„Ich will Sie nicht schockieren, Mademoiselle."

Ophelia hätte aufgelacht, wenn es nicht völlig unangebracht wäre – Sie konnte so schnell nichts mehr schockieren, die Wunden eines Werwolfs erst recht nicht. „Wir haben beide Ausbildungen im Krankenhaus in England gemacht. Während ein Krieg vor sich ging. Glauben Sie mir, so viel schockt mich nicht mehr."

Der Heiler seufzte und schien endlich zu merken, dass er die beiden nicht so schnell loswerden würde. „Wenn Sie meinen, dann folgen Sie mir."

Er ging ihnen voraus und Ophelia und Damocles folgten ihm brav, bis er vor einer der vielen Türen kurz stehen blieb und ernst sagte: „Ich hoffe, Sie haben keine schwachen Nerven."

Sie betraten das Zimmer. Anders als das von Elvire war es weiß und erinnerte Ophelia an die Zimmer im St. Mungos Hospital. Es gab vier Betten, doch nur zwei davon waren belegt und fünf weitere Heiler standen um die Betten und diskutieren miteinander.

Wie in einer Trance ging Ophelia zu den Betten und sah zu Martin und Genevieve, die beide in einem Bett lagen und die Augen geschlossen hatten.

Selbst Ophelia musste schwer schlucken, als sie die Wunden sah. Nicht einmal die Wunden von Simon Zusak und seinem Bruder waren damals so schlimm gewesen. Es waren Bissspuren über den ganzen Körper verteilt und bei Martin war die Kratzspur einer Klaue, die sich über den gesamten Oberkörper zog. Genevieves Gesicht war völlig entstellt und ihr blondes Haar, welches immer wie poliertes Silber aussah, war nun dunkelrot und verkrustet.

cicatrize - the scars of the past [R.L.]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt