Kapitel 46: Blutiger Donner

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Lissi sah nichts mehr als Schwärze. Ein alles in sich einschließender Schatten hatte das Lagerhaus verschlungen, ausgehend von den finsteren Flügen, die aus Nilims Rücken gewachsen waren.

Die schrecklichen Szenen mit den brennenden Männern, den Feuern oben an der Decke und der in einer Robe gekleideten Magier verschwanden in diesem dunklen Mantel.

Die Welt wurde blind. Sie verlor augenblicklich ihr Zeitgefühl. Sie hörte ihren eigenen Atem und ihren Herzschlag, doch sie war nicht in der Lage diese zu zählen. Ihr Kopf war dazu zu sehr mit Furcht und Grauen erfüllt. Ihre Augen huschten umher, in der Hoffnung etwas zu erfassen. Doch da war nichts.

Nur ein Flüstern. Zuerst dachte sie, es wäre ihre Einbildung. Doch desto angestrengter sie lauschte, desto deutlicher waren da Stimmen. Sie verstand keine Worte, doch in den Lauten war eine strenge Emotionslosigkeit, der unerbittlich auf ihre Seele einprasselte.

Als sie schon glaubte von diesem Wispern zermalmt zu werden, obwohl es weiterhin kaum hörbar war, tropfte die Dunkelheit langsam herab, so als ob schwarze Farbe an einer Glasfläche herabfließen würde.

Die dunkle Kuppel, in der sie hockte, wurde wieder sichtbar und schien sich ausgebreitet zu haben, umfasste nun auch Nilim. Trümmer vom nun vollkommen zerstörten Lagerhaus rutschten an der dünnen, dunkelgrauen Hülle herab.

Aus den Augenwinkeln bemerkte sie noch wie die letzten Tropfen aus Finsternis versickerten und dabei scheinbar Formen annahmen von schrecklichen Szenen, bei denen sich ihr der Magen umdrehte. Es war ein Schattenspiel größter menschlicher Niedertracht und Grausamkeit.

Wassertropfen vom Regen prasselten nun herab. Die magische Glocke löste sich auf und sie fühlte wie ihr Kopf und Kleid nass wurden. Rauch stieg von den nun halb unter Schutt vergrabenen Leichen der Halunken auf. Vom Magier fehlte jede Spur.

Nilim stand vor ihr in ihrem einfachen Kleid, unverletzt und unter dem wolkenverhangenen Himmel wirkte sie ganz anders als beim Sonnenlicht. Die Klingen aus dunklem Glas waren an ihren Armen verschwunden.

Etwas tropfte vor Füßen ihrer Freundin zu Boden. Es war dickflüssig und wirkte schmutzig. Langsam drehte sich das andere Mädchen um.

Lissi strauchelte nach hinten und keuchte entsetzt.

Das rechte Auge von Nilim war nun schwarz, mit Ausnahme eines einzelnen, weiß schimmernden Punkt in der Mitte. Eine schwarze Träne lief an ihrer Wange herab und noch mehr von dieser unheiligen Flüssigkeit sickerte zwischen ihren Lippen hervor. Der Regen wischte es weg, doch es kam immer Neues heraus.

Sie hob ihre Hand und steckte sie Lissi entgegen, um ihr hochzuhelfen.

»Kannst du auch dies ertragen?«, fragte Nilim und sie hatte keinerlei Probleme zu sprechen, trotz der dunklen Flüssigkeit, die zweifelslos ihren Gaumen füllte.

Mit purem Entsetzen erfüllt sprang Lissi auf und begann zu rennen. Sie drehte Nilim den Rücken zu und eilte auf die Überreste vom Tor zu. Sie sah wie Menschen auf der Straße kämpften. Blutverschmierte Helme von Stadtwachen lagen in Pfützen auf dem Boden. Der nasse Stein reflektierte weitere Feuer von anderen Lagerhäusern.

Lissi verspürte keine Angst vor den Schwertern und der Gewalt dort. Sie wollte einfach nur mehr Abstand zwischen sich und Nilim.

Was war geschehen? Was war aus dem hellen, freudigen Tag geworden?

Es war ihr wie ein Wunder vorgekommen al sie heute ihre erste richtige Freundin gefunden hatte. Doch war sie stattdessen in die Fänge eines Dämons geraten?

Sie erreichte die Straße. Ein Körper fiel ihr entgegen, doch sie wich ihm aus. Beinahe stolperte sie dann über etwas, doch sie fing sich und rannte weiter.

Ein Kran stürzte auf ein Schiff im Kanal. Sie sprang über jemanden hinweg in dem fast ein halbes Dutzend Pfeile steckte und der sich dennoch mit einem Arm über den Boden zog. Ein brennendes Pferd ritt vorbei und schleuderte sich ins Wasser. Ein Wehklagen und Schreien scholl durch das Prasseln des Regens wie perverser Donner.

In diesem Sturm aus Himmelsfällen und Blut erreichte sie eine ihre unbekannte Nebenstraße, die menschenleer war.

»Vater«, rief Lissi aus und bemerkte nun erst, dass sie weinte.

Neben ihr wurde eine Tür aufgestoßen und ehe sie sich versah, umpackten sie kräftige Hände und zogen sie hinein.


Das Wispern aus dem AbgrundWo Geschichten leben. Entdecke jetzt