Kapitel 38: Die Toten

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Der Musiker begann eine schnelle, lockere Melodie, bei der man an fliegende Vögel an einem Sommerhimmel und Schiffe auf einen weiten Ozean denken musste. Es brachte einen an einen fernen Ort, wo Heiterkeit und ein Gefühl der Freiheit herrschte.

Die Menschen begannen zu klatschen und weiterhin meine Hand haltend begann Lissi zu tanzen. Ihre Füße schienen das Pflaster des Bodens kaum zu berühren und ihr Kleid bewegte sich wellenhaft, während sie sich drehte, sprang und lachte.

Ich derweil behielt es mir bei weiterhin alles mit einer gewissen Distanz zu betrachten und konnte mich deswegen nicht wirklich fallenlassen in die Musik. Dementsprechend waren meine Bewegungen etwas steifer und unbeholfener. Doch die schiere Leidenschaft meiner Begleiterin machte dies wett und ehe mich versah, wurde ich auch umhergewirbelt.

Einige andere Frauen begannen mitzutanzen und bald auch ein junges Pärchen, was sich an beiden Händen hielt. Als Lissi dies sah, umgriff sie dann auch meinen anderen Arm und zog mich näher heran. Dies hatte zu Folge, dass ich beinahe über meine eigenen Füße stolperte. Doch ich fing mich gerade noch.

Wie lange wir am Ende tanzten, konnte ich nicht mehr sagen. Die Energie des Moments überschatte auch meinen sonst beherrschten Geist etwas.

Der Musiker beendete aber irgendwann sein Lied. Die Menge jubelte und sein Hut wurde herumgereicht. Ich und Lissi warfen einige Münzen hinein und kehrten zum Brunnen zurück, um etwas zu trinken.

»Das war wundervoll!«, meinte sie und spritzte sich dazu noch etwas von dem kühlen Nass in das Gesicht. »Aber du musst wirklich etwas Tanzen üben, Nilim!«

»Bisher habe ich noch nie getanzt«, verteidigte ich mich.

»Noch nie? Gab es keine Dorffeste oder so bei dir?«

»Wir habe nie teilgenommen«, entgegnete ich und wir gingen weiter in Richtung unseres Ziels. Dabei dachte ich zurück an mein altes Leben. Hatte ich dort jemals getanzt? Sicherlich nicht. Doch gleichzeitig erinnerte ich mich, dass ich manchmal in späten Nächten, als ich allein im Büro über das Schicksal Hunderttausender bestimmte, aus den Tiefen des Gebäudekomplexes Musik hörte. Ab und an hatten die Wachen und Mitarbeiter in ihren Schlafsälen anscheinend gefeiert. Es war alles ein wenig unscharf, da ich damals sicherlich etwas übermüdet gewesen war, doch waren da nicht Momente gewesen, wo ich überlegt hatte aufzustehen und zu ihnen hinunterzugehen?

»Dann müssen wir in Zukunft wieder zusammen tanzen«, bestimmte Lissi und anscheinend noch immer die Musik im Blut spürend, hüpfte sie etwas auf und ab. »Bei meinem Geburtstag oder an den Feuerfesten.«

»Wie du willst.«

Mit einem Lachen tänzelte sie weiter, sehr zur Amüsiertheit der umstehenden Passanten. Doch ihre Bewegungen verlangsamten sich etwas und irgendwann blieb sie stehen und sah hinauf in den blauen Himmel.

»Glaubst du, dass es genug ist, Nilim?«, fragte sie dann und ihre Stimme war leiser als sonst. »Wir haben Spaß, finden Freunde und leben unser Leben. Glaubst du es ist genug, damit die Toten sich für uns freuen? Glaubst du, dass wir unser Glück mit ihnen teilen können?«

Dies war schwierig zu beantworten. Ich stellte mich neben sie und sah auch nach oben. Als ich meine alte Welt verließ, hatten die Raumschiffe ihre lange Reise begonnen. Wie wohl die Milliarden Toten, die ich zu verantworten hatte, wohl über diese wenigen Auserwählten dachten? Gönnten sie ihnen all die Momente des Friedens und Freude in der neuen Heimat? Wie dachten sie über mich, nun wo sie vom Schmerz ihrer körperlichen Hüllen erlöst waren? Konnten sie meinen Standpunkt nachvollziehen?

»Ich weiß es nicht«, sagte ich schließlich.

»Wissen kann es niemand Nilim. Aber ich auch gefragt, ob du daran glaubst.«

»Es wäre schön, wenn es so wäre.«

»Also ich glaube daran!« Plötzlich streckte Lissi ihre Hand nach oben, so als ob sie etwas weit Entferntes greifen wollen. »Die Toten können nicht mehr mit uns zusammen hier sein. Aber wir können ihnen Gründe geben zu lächeln, wenn sie zu uns herabblicken! Ja, ganz sicher!«

»Aber was«, begann ich nun, »wenn die Toten glücklicher wären, wenn man selbst Tod ist? Wenn man viel Schreckliches getan hat?«

»Dann muss man eben viel tun, damit man Vergebung bekommt von den Toten!«

»Und wenn es Taten waren, die nicht zu vergeben sind?«

»Dann sollte man trotzdem lachen«, entgegnete Liss und ballte ihre Hand zu Faust. »Selbst wenn die Götter einen selbst bestrafen, sollte man lachen. Denn desto mehr Menschen lächeln, desto heller wird die Welt für alle! Ich will für die Toten lächeln und für die Lebenden.«

»Auch dein Vater?«

Lissi nickte und senkte ihren Blick wieder entschlossen. Dabei schien aber dann etwas Neues ihre kurzlebige Aufmerksamkeit zu erhaschen und sie ihre Augen glitzerten wieder mit Begeisterung. »Oh, guck mal Nilim! Elfen!«

»Ach wirklich?«, sagte und ich wollte ihrem Blick folgen. Bisher hatte ich noch kein Exemplar dieser mythischen Spezies mit eigenen Augen gesehen.

»Ah, wie süß ist dieses Menschenkind denn!«

Einem Trend folgend, der mir immer weniger gefiel, wurde ich plötzlich von jemanden in eine Umarmung gerissen.


Das Wispern aus dem AbgrundWo Geschichten leben. Entdecke jetzt