Es war arschkalt, obwohl ich Zwiebellook trug und den ganzen Weg hierher gelaufen war. Oder eben weil ich gelaufen war. Der beißende Wind lenkte mich von der Schwellung in meinem Gesicht ab. Ein Schmerz ersetzte den anderen. Ich hatte mich nicht getraut, in den Spiegel zu glotzen, aber ich wusste, dass es übel aussah. Immerhin war es nicht das erste Mal. Man müsste meinen, man würde irgendwann immun werden gegen Beulen und blaue Flecken und den unerträglichen Druck der Reue auf der Brust. Aber ich hatte mich nie wirklich daran gewöhnt. Egal, was ich mir einzureden versuchte.
Ich rutschte mit den Händen in den Taschen den Schutthügel zu unserem Geheimversteck nach unten, maulte mich beinahe ab, konnte mich jedoch in letzter Sekunde noch fangen.
„Digga, schon wieder?" Er hielt seinen Ohrstöpsel in der Hand, hatte wohl die Unruhe bemerkt, die ich mit meiner Ankunft verbreitet hatte.
Ich hätte darüber stolpern müssen.
„Dieses Jahr ist es echt übel. Bist du okay?" Er sah im Schein der Kerze, die er angezündet hatte, ein wenig wie ein Bösewicht aus.
Ich hätte hinterfragen sollen, weshalb er mitten in der Nacht im fucking Winter in unserem Geheimversteck hockte.
„Geht schon", brummte ich und schlurfte zu meinem Freund rüber, warf mich zu ihm auf die Couch. Mir tat alles weh. Die Füße, weil ich seit Stunden durch die Gegend wanderte. Sogar das Atmen. Dennoch fischte ich umständlich mein Drehzeug aus meiner Hoodietasche, ohne vorher die Jacke darüber zu öffnen.
„Bro, lass morgen mal deine oder Schrammes Mum drauf gucken. Das sieht echt krass aus." Er betatschte vorsichtig mein Gesicht. Seine Hände waren kalt. Sie taten gut, obwohl ich geglaubt hatte, dass der Wind mein Gesicht bereits abgekühlt hatte. „Du bist voll heiß, Alter."
„Whut...?"
Er schnalzte mit der Zunge. „Nicht so!" Er drückte seine Stirn an meine. „Ich glaub, du hast Fieber. Du solltest lieber ins Bett gehen. Nach Hause, Bruder." Er streichelte meine Wange, ehe er mich losließ und seinen Kopf zurückzog. „Und sprich mit deiner Mama."
Ich hätte es merken müssen. Verdammt nochmal! Denn es wiederholte sich und ich bekam es nicht mit. Ich saß einfach neben ihm und seine Gesellschaft schien zu diesem völlig absurden Zeitpunkt selbstverständlich. Weil ich zu fucking sehr mit mir und meinem eigenen Chaos beschäftigt war.
„Ich werde meiner Mutter nicht unter die Augen treten. Kannste knicken, Digga."
„Husky... Das ist so dumm, ey."
„Ich weiß, dass ich dumm bin. Aber is' mir egal, Bruder. Ich werde mit ihr nicht darüber sprechen. Wir haben genug Streit Zuhause. Da fang ich nicht auch noch damit an, okay?" Ich klemmte mir die Kippe zwischen die Lippen. „Hast du Feuer?"
Momo gab mir die Streichhölzer, mit denen er die Kerze angezündet haben musste. „Du bist so verdammt stur, du kleiner Pisser."
Ich knurrte nur zurück, während ich meine Zigarette ansteckte. Zog daran. Stieß den Raum aus. Wiederholte das. Viel zu schnell. Drücke den Stummel aus und drehte eine Neue. Das tat ich dreimal, bis ich auf dem Sofa weiter runter rutschte und meine Hände tief in den Jackentaschen vergrub. Ich legte den Kopf auf der Rückenlehne ab und schloss die Augen.
Momo ließ mich keine Sekunde aus den Augen. Ich brauchte ihn nicht anzusehen, um seinen Blick zu spüren. Er wartete. Und wartete. Weil er wusste, dass ich irgendwann die Zähne auseinander bekommen würde.
„Ich hab..." Der Kloß in meinem Hals drohte mich zu ersticken. „Ich hab..." Ich versuchte meine Tränen fort zu blinzeln, atmete zitternd aus. Mein Brustkorb schmerzte. Ich konnte nur Ahnen wie ich unter meinem Shirt aussah. „Ich hab ein Messer auf ihn gerichtet und hab ihm gedroht, ihn umzubringen, wenn er sich nicht verpisst." Meine Stimme brach am Anfang des Satzes und war am Ende nicht viel mehr als ein Krächzen. Ein Schluchzer brach aus meiner Kehle. Armselig und absurd und peinlich. Ich wusste nicht, wie nach meinem Ausbruch am Nachmittag noch Tränen und Jammern aus mir herauskommen konnte. Eine verdammte Heulsuse. Das war ich. Mehr nicht. Ein jämmerlicher Haufen Dreck, der sich selbst bemitleidete und dabei vergaß, dass alle anderen auch ein Päckchen zu tragen hatten. Offensichtlich. Denn sonst hätte ich es gemerkt.
„Oh Fuck..." Momo wühlte sich aus seinem Deckenkokon, in den er sich gewickelt hatte, und stopfte irgendwas in die Ritze zwischen Sitzpolster und Armlehne. Er stützte sich auf seine Knie, versuchte Blickkontakt aufzubauen. „Du hättest es aber nicht getan, oder?"
Ich gab ihm, wonach er suchte. Sah ihn nur verschwommen. Die Flamme der Kerze spiegelte sich in seinem Blick. „Ich weiß es nicht", hauchte ich erstickt. „Scheiße, vielleicht hätte ich ihn einfach abgestochen. In unserer Küche. Mit einem verdammten Küchenmesser! Vielleicht wäre einmal zustechen Notwehr gewesen. Aber, Digga, ich glaub, ich hätte ihn wirklich abgemurkst." Ein weiterer Schluchzer schüttelte mich. Tat mir in der Kehle weh. Meine Nase lief und ich hatte nicht die Kraft, etwas dagegen zu unternehmen. Ich ließ sie laufen. Die Nase. Die Tränen. Ich schmeckte Salz auf meinen Lippen, presste meine Fäuste auf die Augen, in der Hoffnung, nie wieder etwas sehen zu müssen. Keine Erinnerungen mehr sehen zu können. Keine Was-wäre-Wenn's. Keinen Vater, der hätte tot sein können. Meinetwegen. Stattdessen aber immer boshaft über mir gestanden hatte. Die Fäuste beschmiert mit meinem Blut. Mein Blut, das irgendwie sein eigenes war. War es ihm bewusst? Hasste er mich so sehr? Sich selbst? Oder war es ihm einfach scheiß egal? „Ich kann nich' mehr...", wimmerte ich. „Ich kann nich' mehr...!"
„Oh Baby!" Mein bester Freund zog mich in seine Arme, drückte mir einen Kuss auf den Kopf. „Du hast ihn nicht getötet. Dich trifft überhaupt keine Schuld. Es ist egal, ob du es getan hättest. Denn du hast es nicht." Er wickelte die Decken um uns, sagte immer mehr dieser beruhigenden Sätze, während ich versuchte, mich wieder einzukriegen. Und es war gut, dass ich bei Momo war und nicht bei Schramme. Ich liebte diesen Scheißkerl. Aber heute Nacht, hätte er mich am Arm gepackt und wir wären meinen beschissenen Vater suchen gegangen. Er hätte zu Ende gebracht, was ich mich nicht getraut hatte. Schramme hätte mir diese Last einfach abgenommen oder das Arschloch zumindest so windelweich geprügelt wie er es mein Leben lang bei mir getan hatte. Schramme liebte seine Familie. Sie war alles für ihn. Aber er verstand diesen Zwiespalt meiner Gefühle für meinen Vater nicht, weil Blutsverwandtschaft ihm nichts bedeutete. Momo schon. Blut war dicker als Wasser. Blut. Das war Schicksal. Gott hatte das so entschieden. Dagegen konnte man nichts tun. Du würdest auf ewig mit diesen Leuten verbunden sein, also tu ihnen nichts Böses. Und ich? Ich stand irgendwo dazwischen. Meine Freunde bedeuteten mir mehr als meine Verwandten. Aber tief in meinem Inneren konnte ich nicht ignorieren, dass mein Vater mein Vater war. Dass ich eine Hälfe er war. Dass ich ohne ihn nicht existieren würde. Ich konnte nicht ignorieren, dass ich ihn irgendwie liebte, obwohl das völlig absurd klang.
Deshalb brauchte ich in dieser Nacht einen Momo an meiner Seite. Einen Momo, der mich hielt, bis ich ganz ruhig wurde. Einen Momo, der mit mir einen Joint rauchte, damit meine Prellungen weniger wehtaten und der Sturm in mir sich legte. Einen Momo, der mit mir seine Kopfhörer teilte und einen Mix aus türkischer Musik, Assi Rap und deutscher Poesie anmachte. Einen Momo, der dabei mitsang ohne es zu merken, weil er diese Playlist mit den sorgsam ausgewählten Songs schon zu häufig gehört hatte. Ich brauchte einen gottverdammten besten Momo. So sehr, dass ich nicht hinterfragte, wieso er da war. Mitten in der Nacht. Im Winter. In einem arschkalten Loch aus Geröll und Dreck und Erinnerungen.

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I cry a lot
General FictionIt will end in tears Jeder verliert irgendwann irgendwen. Doch niemand bereitet dich darauf vor, dass es so schwer wird. Eine Geschichte über das Leben. Über Verlust, Vermissen und vor allem Freundschaft. *Triggerwarnung* (kann Spoiler enthalten) ...