„Hätten wir das nicht Zuhause besprechen können?" Hamza verschränkte seine Arme vor der Brust und ließ seinen Blick gleiten. Die gerümpfte Nase sagte alles, was er über diesen Ort dachte. Wir befanden uns in einen heruntergekommenen Gebäude im alten Industriegebiet. Abrissreif. Doch da es keine neuen Investoren für die Grundstücke gab, blieben die Lagerhallen und Bürogebäude in ihrem jämmerlichen Zustand und brachen langsam in sich zusammen. Seit unserer Kindheit hatte sich nichts getan, sodass wir unser Versteck behalten und über die Jahre mit Möbeln vom Sperrmüll aufgehübscht hatten.
„Hätten wir nicht." Unser bester Freund lief nervös auf und ab.
„Und warum?"
„Weil unsere Eltern davon auf keinen Fall etwas erfahren dürfen." Momo blieb vor seinem älteren Bruder stehen und atmete tief durch. „Du hast doch sicherlich von dem Video mitbekommen, das gerade die Runde macht."
Das kurze Zögern verriet ihn. „Ich weiß nicht, wovon du sprichst." Das war sowas von gelogen. Hamza war der jüngste Lehrer an der Gesamtschule und kannte viele der Kids von früher, weil er mit dessen großen Geschwistern oder anderen Familienmitgliedern befreundet war. Er genoss ihr Vertrauen. Die Schüler begegneten ihm auf einer anderen Ebene als den restlichen Lehrern. Hamza war einer von ihnen. Ein Verbündeter. Niemand von Außerhalb. Er kannte den Dreck und die Scheiße, die abging. Wir kamen alle aus der gleichen beschissenen Gegend. Da kannte jeder jeden und Gerüchte machten verflucht schnell die Runde. Gerüchte und Videos von Partys, auf denen zu viel passiert war. Momos Bruder musste es gesehen haben. Auf den einen oder anderen Weg.
„Gut. Wenn du nicht weißt, wovon ich spreche, dann ist ja auch klar, dass das unter keinen Umständen nach Hause durchdringen darf. Wenn das passiert, bin ich sowas von tot. Tot und enterbt und... keine Ahnung, was noch."
Ich warf Schramme, der am anderen Ende unseres Geheimverstecks an der Wand lehnte, einen Blick zu. Auch ihm war nicht entgangen, dass Hamza alles an dieser Situation störte.
„Denk bloß nicht, dass mir das gefällt. Von mir aus jeder andere. Aber musst ausgerechnet du derjenige sein, der irgendwelchen Typen einen lutscht?" Aus ihm sprach die Angst vor dem, was seinem kleinen Bruder blühte, wenn ihre Familie davon erfahren würde. Besonders ihre Mutter war sehr konservativ. Sie hatte genaue Vorstellungen, wer an der Seite ihrer Söhne stehen durfte. Ein Mann gehörte definitiv nicht zu den erwünschten Heiratskandidatinnen für Momo. Hamza selbst sah das anders. Lockerer. Das wusste ich. Nicht umsonst kamen die Schüler mit ihren Sorgen zu ihm. Niemand hatte Angst, dass er sie dafür verurteilen würde, wer sie waren oder in wen sie sich verliebt hatten. Ich war mir sicher, dass er es auch nicht tat. Jemanden verurteilen. Was seine Schützlinge anging, war er der offenste Typ, den man sich an einer Schule wünschen konnte. Doch bei seinem eigenen Bruder, der mehr als jeder andere seine guten Worte gebraucht hätte, ging er in Angriffshaltung. Er tat, als würde es ihn anwidern. Als wäre er aus dem gleichen Holz geschnitzt wie seine Eltern. Er wusste, was er Momo damit antat und trotzdem brachte er seinem kleinen Bruder all die Abneigung entgegen, die er finden konnte. „Und welcher Vollidiot lässt sich dabei filmen? Wie dumm kann man denn sein?"
Es hatte Momo allen Mut gekostet, seinen Bruder hierher zu beordern, um mit ihm darüber zu sprechen. Er hatte gemeint, es ginge nur darum, dass Hamza die Fresse halten sollte. Doch uns war klar, dass das hier sein Outing sein würde. Erzwungen von einem unachtsamen Moment. „Aber..."
„Ich bin noch nicht fertig." Es war mir ein Rätsel, wie seine Stimme so feindselig klingen konnte, während er so ruhig auf dem Sofa saß. „Hast du keine Pussy zum Lecken gefunden?"
Auf der anderen Seite des Verstecks, trat Schramme einen Schritt nach vorn. Es war ein kurzes Zucken in meinem Augenwinkel, das mich irritierte.
„Was, wenn ich keine lecken will?" Nun war auch Momo in Kampfhaltung übergegangen. Wenn man nicht wusste, dass er unzählige Prügeleien hinter sich hatte, war dieser Anblick lächerlich. Unser bester Freund wirkte zu schmächtig. Zu gutmütig. Zu sanft als, dass er auf jemanden losgehen würde.
„Mach dich nicht lächerlich. Das lag sicher nur daran, dass du so zugedröhnt warst."
Momos Blick huschte kurz zu mir, ehe er wieder zu seinem Bruder sah. „Dann müsste ich schon ständig zugedröhnt sein."
„Übrigens noch etwas, das ich nicht gut heiße. Drogen? Dein Ernst, du kleiner Pisser? Woher hast du überhaupt die Kohle dafür?" Es machte mich ein wenig wütend, dass er Momo das vorwarf, während er in seiner Jugend selbst alles mögliche ausprobiert hatte. Er war doch selbst kein Unschuldslamm gewesen. Nur wurde er nie von jemandem erwischt, den es interessiert hätte.
„Das geht dich 'nen Scheiß an!" Er kannte seinen Bruder und dessen Sünden, weil er bei einigen von ihnen dabei gewesen war. Immerhin hatte der Ältere immer auf den Jüngeren aufpassen müssen, da beide Elternteile berufstätig waren. Momo schien jedoch zu aufgewühlt zu sein, um zu verstehen, dass es Hamzas verkorkste Art war, seinen Bruder beschützen zu wollen. Ihm ausreden zu wollen, so offen zu sein. Ihm zur Vorsicht zu raten, damit es kein Donnerwetter gab, wenn die falsche Person davon erfahren und es daraufhin über drei Ecken bei ihrer Mutter ankommen würde. „Außerdem bin ich Volljährig. Du kannst mir also gar nichts!"
„Na gut." Hamza erhob sich und packte Momo unsanft am Unterkiefer. „Dann knall dir doch damit das Hirn weg und lass dich von irgendwelchen dreckigen Schwänzen ficken. Soll mir egal sein. Schade um die Vorstellung, die ich von dir hatte, Mohammed." Er stieß den Jüngeren von sich. „Irgendwer muss ja das schwarze Schaf der Familie sein. Damit sind alle anderen wohl gerettet."
„Fick dich...!"
Er war ein anderer Mensch als der Lehrer in der Schule. Genau deshalb konnte ich ihn dort nur schwer ernst nehmen, obwohl er seinen Job gut machte. So unvorstellbar das klingen mochte. Aber es war sein Schutzmechanismus. Die Arschloch-Fassade, die die meisten von uns mühsam aufbauten, um nicht selbst verletzt zu werden. Denn vom Schmerz hatten wir alle genug.
Hamza hielt seine Mittelfinger hoch, als er sich auf den Weg nach draußen begab.
„Und wehe du verlierst darüber auch nur ein Wort!"
„Chill... Ich breche meiner Mutter nicht das Herz. Das ist dein Job." Es war kein Trost, dass der Typ sich fast abmaulte, weil der Schutt unter seinen Füßen nachgab, bevor er aus unserem Sichtfeld verschwand.
„Na das... lief doch ganz spitze, Jungs." Ich spürte wie die Anspannung aus meinem Körper wich.
„Du hältst auch dein Maul", brachte Momo mir entgegen, als er sich auf die ranzige Couch warf. „Scheißdreck..."
Ich hob meine Hände. Es hätte auch wesentlich schlimmer laufen können. Doch das behielt ich lieber für mich.

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I cry a lot
Fiction généraleIt will end in tears Jeder verliert irgendwann irgendwen. Doch niemand bereitet dich darauf vor, dass es so schwer wird. Eine Geschichte über das Leben. Über Verlust, Vermissen und vor allem Freundschaft. *Triggerwarnung* (kann Spoiler enthalten) ...