Kapitel 4

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Die Jeansjacke über dem Stuhl am Fensterplatz. Der Aufnäher in den verschiedenen Blautönen war neu. Schramme hatte ihm die Flagge auf die rechte Brustseite genäht. Sie war unauffälliger als die normale Regenbogenflagge, hatte jedoch noch eine viel genauere Aussage, die die meisten Menschen in unserem Umfeld jedoch nicht verstanden. Um ehrlich zu sein, hatte ich mich damit auch nie besonders gut ausgekannt, bis Emma mich aufgeklärt hatte. Momo hatte jedenfalls dieses Momo-Glitzern in den Augen gehabt, als Schramme ihm die Jacke wieder an den Kopf geworfen hatte. Unser Hinkebein war nicht so gut darin, seine Zuneigung in Worte zu verpacken. Oder eher... Er kannte die Worte, doch sie kamen nicht aus ihm heraus. Es fehlte immer ein kleiner Schritt, den er nie ging. Ich dachte an die Muttertagskarten, die wir in der Grundschule gebastelt hatten. Schramme hatte sich Mühe gegeben, das rote Pappherz perfekt auszuschneiden und ein Bild drauf geklebt, das er gemalt hatte. Er war mächtig stolz gewesen. Ein paar Tage später saß seine Mutter mit meiner gemeinsam an unserem Esstisch. Sie tranken Kaffee und Mama zeigte ihr das Herz, das ich für sie gebastelt hatte. Fragte sie, ob sie sich über ihres gefreut hatte. Immerhin waren Schramme und ich in der selben Klasse gewesen und ich hatte noch erzählt, dass Schrammes Karte viel besser aussah. An dem Nachmittag hatte ich seine Mutter das erste und einzige Mal weinen sehen, während ich heimlich im Türrahmen gehockt und ihr Gespräch belauscht hatte. Schramme hatte ihr seine Karte nicht gegeben. Obwohl er so stolz gewesen war, hatte er sich nicht getraut, sie ihr zu überreichen. Bis heute lag sie zwischen irgendwelchem Kram in seinem Zimmer und war der Beweis für die unsichtbare Grenze, die verhinderte, dass er jemandem seine Gefühle offenbarte. Es fing mit Kleinigkeiten an. Ein einfaches Danke bekam man nie bei Dingen, die zählten. Wir wussten, dass er sie fühlte. Die Dankbarkeit. Er fühlte alles. Es kam nur nicht über seine Lippen. Deshalb wünschte er seiner Mama bis heute keinen schönen Muttertag, sondern setzte sich einfach nur mit ihr an den selben Tisch und trank seinen Kaffee wie an jedem anderen Tag auch und hoffte, dass seine Liebe bei ihr ankam. Deshalb überließ er mir sein Bett für ein Nachmittagsschläfchen. Deshalb nähte er Aufnäher auf Momos Lieblingsjacke.

„Na, träumst du von mir?" Mir wurde eine Schokimilch aufs Pult gestellt.

„Ich träume immer von dir, Baby", stöhnte ich, während ich mit dem Strohhalm meinen Kakao erstach.

Momo setzte sich mit dem Rücken zu mir auf meinen Tisch und schlürfte seine Erdbeermilch. „Hab ich schon immer gewusst."

„Wahrscheinlich träumt im Moment jeder notgeile Schwanz von dir, Blasihasi!", grölte Skinny Ass vom anderen Ende des Klassenzimmers. Der Typ war so schlaksig, dass er sich hinter einem Laternenpfahl verstecken könnte.

Momo spuckte ihm seine rosa Milch entgegen. „Schöne Grüße von deinem Papi!"

„Hab keinen, du Penner."

„Merkst selber, wah? Dein Vater wollte wohl lieber in Arsch gefickt werden, statt deine Mutter zu vögeln." Momo stützte sich nach hinten ab und machte eine obszöne Hüftbewegung in seine Richtung.

„Ich fick dich gleich in den Arsch."

Mein Freund gab ein Würgegeräusch von sich. „Ich steh nicht so auf Spargel."

Skinny Ass streckte ihm den Mittelfinger hin und wandte sich wieder seinen Freunden zu.

„Erschieß mich, wenn ich mit dem rummachen sollte. Egal wie dicht ich bin. Das wäre echt widerlich." Momo drehte sich halb zu mir um. „Nein. Am besten erschießt du mich sofort, wenn ich auch nur in die Nähe von irgendwelchen Typen komme, wenn ich dicht bin."

„Klar. Hab meine Neunmillimeter immer dabei. Nur für den Fall." Ich saugte geräuschvoll an meinem Strohhalm und dachte an den Rückweg vom Parkhaus. „Digga. Soll ich dich eigentlich auch erschießen, wenn du versuchst, mir an die Wäsche zu gehen?" Als ich ihn die letzten Meter zu Schramme nach Hause hatte tragen müssen, hatte er mir die ganze Zeit unters Shirt gegrabbelt.

„Nein. Du bist süß." Er zuckte entzückt mit seinen Schultern und kraulte mir durch die Haare.

„Du bist so schwul, Alter."

„Hä?!" Er baute sich vor mir auf. „Hast du mich grad schwul genannt, du Wichser?"

Ich gackerte, weil der Anblick zu lächerlich war. Mit seiner Erdbeermilch in der Hand.

„Ich hetz meine Cousins auf dich, Digga. Die machen einmal BamBam und du bist Geschichte, Digga." Er boxte mit dem rosa Karton in die Luft, was mich nur noch mehr zum Lachen brachte. Das traurigste an der Sache war, dass das im Grunde überhaupt nicht witzig war. Denn obwohl Momo nichts sagte, wusste ich, dass er Angst hatte, dass seine älteren Cousins genau das mit ihm machen würden. Er wusste nicht, wie sie reagieren würden. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie das Video erreichte. Und die Kerle liefen nicht unbedingt mit Prideflaggen über den CSD. Die Jüngeren schienen noch ein Fünkchen Respekt vor Momo zu haben. Jedenfalls ließen sie sich nichts anmerken, wenn wir ihnen auf dem Schulflur begegneten. Fresse halten war die Devise. So wie Momo über Hamza und die anderen Älteren gegenüber seiner Eltern und den Onkels und Tanten die Fresse gehalten hatte. Verflucht sei diese verfickte Großfamilie. Und gleichzeitig wusste ich, dass wir schon so manches Mal fett in der Scheiße gesessen hätten, wenn genau diese verfickte Großfamilie nicht unsere Ärsche gerettet hätte. Denn diese Familie beschützte ihre Mitglieder. Deshalb war es unmöglich vorherzusagen, wie sie mit Momos Homosexualität umgehen würden.

Mein Freund senkte den Blick und fummelte an seinem Strohhalm herum. „Aber mal ohne Scheiß. Ein Teil von mir ist froh, dass es raus ist", sagte er so leise, dass selbst ich ihn kaum verstehen konnte. Momo hatte sich vorher nicht viel anders verhalten als jetzt. Hatte dumme Sprüche gerissen und an mir rumgefummelt als wäre ich seine feste Freundin. Was er bei jedem machte, den er irgendwie mochte. Im Grunde war er einfach schon immer er selbst gewesen. Es hatte nur nie einer weiter nachgefragt. Und durch das Video würde es nun auch keinen Sinn mehr machen, irgendwas abzustreiten. Momo war einfach Momo. Mit seinen Momo-Kulleraugen, dem Momo-Mundwerk und den Momo-Gesten, die er schon in der Grundschule gemacht hatte. Es war absurd zu behaupten, dass er nun ein anderer Mensch war, nur weil die meisten Leute in seiner Umgebung jetzt wussten, dass er Männer mochte.

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