Kapitel 8

36 6 21
                                    

Mitten in der Nacht. Kleines Licht. Meine Freunde warfen lange Schatten an die Wand, während sie nebeneinander auf dem Boden hockten. Es lief leise Musik. Wir hörten Opas Schnarchen dennoch bis hierher.

Wir waren zu Schramme nach Hause gelaufen, um uns das Blut abzuwaschen. Ich beobachtete ihn, wie er sich immer wieder über die Fingerknöchel rieb. Selbst im schwachen Schein der Lampe, die neben ihm stand, sah ich wie gerötet sie waren. Ihm taten seine Hände weh. Weil es eben wehtat, wenn man auf jemandes Schädel einschlug. Ich wusste das. Doch Schramme würde kein Wort darüber verlieren. Vielleicht, weil er es dann bereuen würde. Vielleicht, weil er dachte, dass er nicht das Recht hatte zu jammern, nachdem er einen Menschen zu Brei geschlagen hatte. Denn das hatte er nicht. Es gab keine Entschuldigung für das, was wir getan hatten. Nicht einmal, dass Nico unseren Freund in die Scheiße geritten hatte. Jemanden zu verletzen, war nie die richtige Antwort. Wir wussten das. Ich wusste das. Immerhin war die Sucht meines Vaters auch keine Entschuldigung dafür, dass er Flaschen nach mir warf und zuschlug, wenn ihm mein Gesicht nicht gefiel. Es war erschreckend, dass einem so etwas grausames so viel Freude bereiten konnte. Vielleicht schaffte ich es deshalb nicht, meinen Vater aus meinem Leben zu verbannen. Weil ich nicht besser war als er. Weil ich spürte, wie der Druck nachließ, wenn ich dafür sorgte, dass jemandem die Nase gebrochen werden konnte. Hasste ich mich dafür? Ein bisschen. Hasste ich Schramme dafür, dass er den Weg der Gewalt wählte, um seiner Wut Luft zu machen? Niemals. Er könnte jemanden töten. Ich würde mit ihm die Leiche verscharren. Ihm das Blut abwaschen. Wahrscheinlich war das ein bisschen krank. Aber wenn nicht mit Schramme und Momo, dann wüsste ich nicht, mit wem ich sonst den Schmerz dieser abartigen Welt ertragen sollte. Denn sie wussten, wie die Welt aussah. Sie spürten ihre Dunkelheit. Sie war in unserem Blut. Also würden wir es vergießen, um ein bisschen Licht zu bekommen.

Ich wusste nicht, wie lange wir einfach schweigend dasaßen, bis Schrammes kratzige Stimme die Stille zerriss. „Wieso Nico...?" Er sprach so leise. Klang verletzlich. Es fühlte sich an, als hätte diese Frage schon lange in seinem Herzen gebrannt.

Momo hob seine Schultern und rieb sich mit den Fingern über die angewinkelten Knie. „Ich schätze, er ist ein bisschen süß." Auch Momo sprach leise.

Schramme schnaubte, als er den Kopf in den Nacken legte. Sein Mundwinkel zuckte ein wenig nach oben. Ein gemeines Schmunzeln. Schwach, doch lag so viel Bedeutung darin. Vermutlich mehr als er selbst erahnen konnte. Er sah den Jungen neben sich an. „Jetzt nicht mehr." Wie vorhin, als er mit Nico gesprochen hatte, bildete ich mir ein, das Brummen seiner Stimme in meiner eigenen Brust zu spüren.

Momo erwiderte seinen Blick. Er unterdrückte mit aller Kraft ein Grinsen, doch seine Augen verrieten ihn. Sie strahlten wie die Sterne, die wir in der Stadt nicht sehen konnten. Nein, sie waren die verdammte Sonne. Er hatte Gänsehaut.

Der Anblick fühlte sich so intim an, dass ich wegsah. Denn es war nicht mein Moment. Es war ihrer. Das Funkeln war nicht für mich bestimmt, sondern füreinander. Die Gänsehaut. Die Motten im Magen, die so offensichtlich waren, weil sie Löcher in die Kleidung fraßen. Ich fragte mich, ob sie es wussten.

„Wieso hast du uns nicht erzählt, dass es Nico war?", wollte Schramme irgendwann wissen.

„Weiß nicht."

„Bullshit."

Momo schnalzte mit der Zunge. „Es war halt ganz einfach egal. Hätte jeder sein können." Ihm entfuhr ein leises Seufzen. „Das Video war eh schon hochgeladen. Und ich wusste, dass ihr durchdrehen würdet."

„Du hast nicht gesagt, dass wir ihn in Ruhe lassen sollen", erwiderte Schramme.

Weil Momo darauf nichts antworten wollte, mischte ich mich ein. „Ist halt einfach richtig asozial, dass er dich überhaupt gefilmt hat. Und das dann auch noch posten? Wie konntest du da so ruhig bleiben?"

„Digga, was hätte es denn gebracht, wenn ich mich aufgeregt hätte?" Seine Stimme war in die Höhe geschossen. Er hatte das Gefühl, sich verteidigen zu müssen.

„Du hättest ihn genauso dumm dastehen lassen können wie er dich."

„Als ob. Er wäre wahrscheinlich noch dafür gefeiert worden, dass er 'nen Blowjob bekommen hat. Ich wäre so oder so das Opfer gewesen. Die Schlampe, die vor allen Typen auf die Knie geht und dann auch noch so dumm ist, sich filmen zu lassen. Das hätte alles noch viel schlimmer gemacht."

„Aber du hättest es uns sagen können. Du bist doch nicht alleine, Mann. Wir hätten ihm auch nichts getan, wenn du was gesagt hättest."

„Hätte, hätte, Fahrradkette. Bruder, ist doch jetzt eh egal!" Er gestikulierte in meine Richtung. „Wen juckt? Hab ihm auch nicht für das Video in die Eier getreten, sondern für den scheiß Vertrag, auf dem wahrscheinlich nur mein Name durchgestrichen wurde. Keine Ahnung, ob das Absicht war von ihm. Aber er hat sich nicht einmal dafür entschuldigt, dass ich seinetwegen nicht spielen durfte. Dass der Manager mich seinetwegen anglotzt als wäre ich das dreckigste Tier aller Zeiten, während ihm der Bauch gestreichelt wird. Er ist einfach 'n richtiger Kek. Hat Auge auf meine Zukunft gemacht und sie mir weggenommen. Aber eigentlich ist er viel zu dumm, um das geplant zu haben." Er zog verärgert die Augenbrauen zusammen, als er mein Grinsend sah. „Digga, lach doch mal nicht. Das ist nicht witzig!" Das stachelte mich nur noch mehr an.

„Mann, bin ich froh, ihm aufs Maul gegeben zu haben", sprach Schramme meine Gedanken aus und lachte ebenfalls auf. „Aber mal ehrlich. Kann euer Manager nicht einfach neuen Vertrag aushandeln. Oder mit 'nem anderen Verein? Ist ja nicht so, als würde es nur den einen geben. Dann geh halt andere Stadt. Spiel gegen Nico und lass ihn verlieren, Digga. Wär doch was."

„Hast du mir nicht zugehört? Der Manager hasst mich. Der steht wohl nicht so auf Schwuchteln."

„Lutsch ihm den Schwanz, dann denkt er anders." Das Kissen, das Momo mir in die Fresse warf, hatte ich definitiv verdient. Allerdings lachte er, als ich es von mir runter pflückte. Und das war es wert gewesen.

„Ich kann nicht einfach in eine andere Stadt. Das kann ich meiner Mutter nicht antun", sagte er dann wieder ernster.

„Aber du wirst nicht ewig bei ihr bleiben. Kinder ziehen halt irgendwann aus."

„Ja. Aber ich dachte eher an eine verdreckte Junggesellenbude mit meinen scheiß besten Freunden." Er grinste uns an. „Wenn es nach anne geht, zieh ich aus, wenn ich eine Frau heirate, um mit ihr eine Familie zu gründen. Wie Hamza."

„Versteh nicht, was du gegen Frauen hast", meinte ich und machte mich auf Schrammes Bett lang, auf dem ich die ganze Zeit saß und mich an die Wand lehnte. „Habt ihr mal 'ne Frau gesehen, Digga? Scheiße. Frauen sind so schön! Selbst wenn ich die Wahl hätte, ey. Frauen. Ganz klar."

Die beiden lachten. Irgendwie hatte ich ein wenig gehofft, dass Schramme sich dazu äußern würde. Dass er endlich ein Wort darüber verlieren würde. Er hatte nie eine Freundin gehabt. Keine Beziehung. Ich wusste nicht einmal, ob er Sex oder überhaupt mal jemanden geküsst hatte. Er unterstrich nur immer wieder, dass ihn eh nie jemand mögen würde. Niemand, der mit ihm nach Paris gehen würde. Denn in Paris gab es keine hässlichen Menschen, sagte er. Das brach mir jedes Mal das Herz, weil er dann immer ein wenig traurig aussah.

„Was ist mit Frauen?" Anklopfen war kein Ding in diesem Haushalt. Jeder latschte einfach so in das Zimmer des anderes.

Ich spürte, wie mir die Hitze in den Kopf stieg, als ich Schrammes Schwester im Türrahmen stehen sah. In einem bunten T-Shirt ihres kleinen Bruders, das ihr viel zu groß war, weil es ihm schon zu groß war. Sie watschelte auf mich zu und warf sich neben mich aufs Bett. Viel zu dicht. Es kribbelte an der Stelle, an der sich unsere Beine berührten.

„Wollt ihr?", fragte sie und verteilte Knabberkram an meine Freunde auf dem Boden. „Carl, hast du was zu rauchen?"

„Du sollst mich nicht so nennen", brummte er und erhob sich schwerfällig, um sein Drehzeug vom Schreibtisch zu holen.

„Okay, Carlos." Sie zog seinen Namen absichtlich lang, was mich zum schmunzeln brachte. Sein Vorname fühlte sich an wie ein Fremdkörper, weil ich ihn so selten hörte.

„Halt's Maul."

„Ein bisschen Respekt vor deiner großen Schwester." Sie rutschte neben mir an der Wand nach unten, wodurch das T-Shirt ein bisschen hochrutschte. Marcela trug nur einen Slip unter dem großen Oberteil.

Fuck...

Momos Grinsen verriet mir, dass auch mein Gesicht ein offenes Buch für meine Freunde war.

I cry a lot Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt