Kapitel 2

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Der zittrige Atem hinter mir brach mir das Herz. Das leise Schniefen. Doch als ich mich zu ihm umdrehte, suchte ich vergeblich die Tränen auf seinem Gesicht. Er würde keine vergießen. Stattdessen starrten mir seine braunen Kulleraugen in die Seele.

„Und wieso heulst du jetzt?" Seine Stimme brach. Sie war kaum mehr als ein Krächzen. Ich konnte seine Zähne klappern hören, während er sprach. Wie er so da saß. Mit den angewinkelten Beinen auf der Rücksitzbank. Ein Häufchen Elend. Das Gras klebte noch an seinen Fußballschuhen, obwohl er sich lediglich hatte aufwärmen dürfen. Das komplette Match hatte er auf der Ersatzbank gesessen. Genau wie die anderen zwei davor. Drei Spiele, in denen er bestraft worden war, indem er nur zusehen durfte. Drei Spiele, in denen ihm die Chance genommen worden war, zu zeigen, dass er es wert war. Das war pure Absicht gewesen. Der Trainer hatte gewusst, dass ein Scout zusah, um talentierte Fußballer für die Profimannschaft zu rekrutieren. Vor ein paar Jahren hatte Momo bereits ein Angebot erhalten. Er hätte an einem Programm für Jungtalente teilnehmen können. Doch damals hatten ihm seine Eltern einen Strich durch die Rechnung gemacht. Sie waren nie angetan gewesen, dass ihr Sohn Profifußballer werden wollte. Solange es nur ein Traum gewesen war, hatten sie es belächelt. Gute Schulnoten waren die Bedingung dafür gewesen, dass er überhaupt Fußball spielen durfte. Doch als Momo die Chance bekommen hatte, wurde sie ihm brutal aus den Händen gerissen. Damals wie heute. Eine weitere würde das Universum ihm sicherlich nicht geben. Das war so unfair.

Ich biss die Zähne zusammen und wischte mir über die Augen. „Weil ich wütend bin." Und damit er es nicht tun musste. Denn ich wusste, dass er zu stolz dafür war. Zu tapfer. Zu stark. Momo heulte nicht vor anderen. Wenn seine Tränen das Feuer löschen könnten, das ihn verschlingen wollte, würde er mit erhobenem Haupt verbrennen. Ich hingegen hasste es, dass ich weinte, wenn ich wütend wurde. Wenn ich enttäuscht war. Müde oder hungrig. Aber wenn Tränen meine Freunde retten könnten, würde ich einen ganzen Ozean für sie weinen.

„Idiot." Momo hob seinen Fuß und drückte ihn mir gegen die Wange, ohne mir wehzutun.

Ich wischte mir die Grashalme aus dem Gesicht, sah zu Schramme, der auf dem Fahrersitz saß. Er umklammerte das Lenkrad, obwohl wir noch immer auf dem Parkplatz standen. Der Typ war mindestens genauso wütend wie ich. „Wieso hat er dich eigentlich nicht spielen lassen?" Irgendwie schaffte er es, dass er ruhig klang.

Momo zog geräuschvoll die Nase hoch und ließ die Füße vom Sitz sinken. „Liegt das nicht auf der Hand?" Er stützte sich mit den Ellenbogen auf seine Knie und streckte seinen Kopf zwischen die beiden vorderen Sitze. „Das beschissene Video hat echt 'ne große Runde gedreht. Ich kann nur noch beten, dass es nicht bei meinen Eltern ankommt." Er würde es nicht zugeben, doch er hatte eine verdammte Angst davor.

Ich wollte nicht daran denken, was ihn daheim erwarten würde, wenn das passieren würde. „Wegen eines blöden Videos dreht dein Trainer durch?"

Momo zuckte mit den Schultern. „Ihn hat wohl weniger die Tatsache gestört, dass ich auf Typen stehe als die Sache mit den Drogen." Langsam fand unser bester Freund seine Stimme wieder. „Es war eine verfickte Party. Ist ja nicht so, dass ich mich für Leistung aufputsche. Fuck und wenn schon? Wäre jetzt eh egal. Es wird sicherlich niemand mehr kommen, um mich spielen zu sehen." Wir ließen ihn seinen Monolog führen, weil wir wussten, dass er es loswerden musste. Weil wir wussten, dass wir die einzigen waren, bei denen er das konnte. „Noch schlimmer ist doch eigentlich, dass ich dafür bestraft werde, während die anderen trotzdem auf den Rasen dürfen. Die waren doch alle auf dieser verschissenen Party. Die Jungs haben fast alle was eingeworfen. Und wieso muss ich auf der Bank hocken, weil ich zugedröhnt einen Pimmel gelutscht hab, während der Pimmel ohne Konsequenzen weiterspielen darf? So eine Scheiße ey..."

Schramme löste sich aus seiner Starre und warf mir einen Blick zu. Ein Blick, der mir sagte, dass er sich genau die gleiche Frage stellte wie ich.

„Einer aus deiner Mannschaft hat das Video aufgenommen?"

Wieder starrten mich diese großen Augen an. Momo würde nichts verraten. Das war mir klar gewesen, noch bevor wir gewusst hatten, dass es jemand aus seinem Team war. Wir hatten ihn bereits nach dem Kerl gefragt, der ihn aufgenommen hatte. Immerhin verursachte dieser winzige Film eine Menge Drama, das hätte vermieden werden können. Schramme und ich waren stinksauer auf den Wichser und die Tatsache, dass es kein Fremder war, machte es nicht besser. Aber wir kamen alle aus der gleichen Drecksgegend. Egal welche Scheiße abging, keiner brach die unausgesprochene Regel, niemanden zu verpfeifen. Auch Momo würde sie nicht brechen. Er hatte schon genug gesagt.

„Wer war es?" Das Grollen neben mir verwirrte mich. Ich wusste, dass er wütend war. Doch ich hatte erwartet, dass Schramme es gut sein lassen würde. Wir waren uns einig gewesen, dass wir Momo deswegen in Ruhe lassen und selbst herausfinden würden, wer für all das verantwortlich war. „Mo. Wer hat das beschissene Video gemacht?"

Ohne ein Wort lehnte er sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Er und Schramme sahen sich durch den Rückspiegel an. Doch es stand fest. Momo würde eher schweigend untergehen, als einen Namen auszusprechen.

I cry a lot Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt