Kapitel 10

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Mit dem nahenden Winter, breitete sich auch die Dunkelheit in der Wohnung aus, die ich mein Zuhause nennen musste. Die Kälte trieb meinen Vater zu uns rein, denn er würde erfrieren, wenn er wie sonst seinen Rausch auf einer Parkbank ausschlafen würde. Ich wünschte mir, er würde einfach erstarren. Auf einer Bank. Eingeschneit. Und nie wieder auftauen. Denn dann könnte er niemandem mehr wehtun. Dann könnte er mir nicht mehr wehtun. Doch allein mein Wunsch, dass er einfach verrecken sollte, zerbrach mich. Reue nagte an mir. Er war mein Vater. Wie konnte ich so etwas nur denken?

Ich war noch müde von meinem Schläfchen bei Schramme, als ich am frühen Abend die Wohnung betrat. Es war still. Ida war meistens bei ihrer Freundin, um unserem Alten aus dem Weg zu gehen und Mama arbeitete. Wie immer. Sie schob extra Schichten und machte Putzjobs für die sie Bar bezahlt wurde. Sie tat alles, um uns irgendwie über Wasser zu halten, während ihr Mann nichts anderes konnte, als zu versuchen uns zu ertränken. Er war unfähig alleine zu schwimmen. Deshalb klammerte er sich an uns fest und gluckerte uns unter, um sich selbst zu retten.

Ich kickte mir die Schuhe von den Füßen und warf meine Tasche mit dazu, sammelte eine Bierflasche auf, dessen letzter Schluck sich auf dem Boden im Flur ausbreitete.

Ich stellte die Flasche zu den anderen auf die Arbeitsplatte, ehe ich mich daran machte, das Bier vom Boden zu wischen und ein wenig die Küche aufzuräumen. Immer begleitet von dem Schnarchen des Mannes, dessen Kopf auf dem Esstisch hing. Er wirkte so friedlich, wenn er schlief. Doch ich wusste, dass er nur eine tickende Zeitbombe war. Denn sobald er aufwachte, würde er explodieren, wenn man ihm zu nahe kam.

Dennoch kniete ich mich neben seinen Stuhl auf den Boden und legte mein Kinn auf dem Tisch ab, um ihn anzusehen. Er sah furchtbar alt aus. Graues Haar. Es war mal blond gewesen. Jedenfalls sagten mir das alte Fotos, denn ich konnte mich nicht mehr daran erinnern.

Vorsichtig strich ich ihm eine Strähne aus der Stirn. Er roch fürchterlich. Sabber lief aus seinem Mundwinkel. Es war schwer zu glauben, dass er der Mann war, der mit meiner Mama auf dem Hochzeitsfoto um die Wette strahlte. Sie hatte ein einfaches Sommerkleid getragen und er 'ne verwaschene Jeans und ein Hemd, das nicht einmal gebügelt worden war. Aber sie sahen auf diesem Bild so unglaublich glücklich aus, dass sich die Realität wie ein grausamer Fiebertraum anfühlte, wenn man das Paar betrachtete.

Eisblaue Augen starrten in eisblaue Augen. Waren meine auch so matt und glanzlos? So tot? So ausdruckslos mit Aussicht aufs große Nichts? Seit wann sahen seine Augen so leer aus? Oder hatten sie das schon immer getan?
Ich war so in Gedanken gewesen, dass ich gar nicht bemerkt hatte, dass er wach geworden war. Erst als er seine Hand hob, zuckte ich zurück, schützte instinktiv mein Gesicht mit meinen eigenen Händen. Das Blut rauschte in meinen Ohren und mein Herz schlug mir bis zum Hals.

Doch der erwartete Schmerz blieb aus. Seine Hand traf mich nicht. Sie hing zwischen uns in die Luft und sah auch gar nicht nach der Faust aus, die sonst so erbarmungslos auf mich herabfiel. Mein Vater hatte seine Finger nach mir ausgestreckt. Nun fielen sie kraftlos auf die Tischplatte, während wir einander noch immer anstarrten. Irgendwas in seinem Gesicht hatte sich geregt. Eine Welle der Emotionen war drüber geschwappt. Ein Tränenmeer, das in seinem Blick festhing, und dann war wieder Ebbe. Es versetzte mir einen Stich, trieb mir selbst einen Kloß in den Hals. Irgendwas war noch da. Irgendwer steckte noch in ihm, der mehr fühlte als Wut und Hass. Diese Erkenntnis zerriss mich, denn das machte es mir unmöglich, ihn abzulegen. In ein Archiv. Ins Regal, das die Namen der Menschen beherbergte, die ich nie wieder sehen wollte. Alles in mir schrie danach, ihm eine Chance zu geben. Eine weitere, nach den Tausenden, die er schon erhalten hatte. Diese Hoffnung würde mich irgendwann noch umbringen. Denn immer, wenn sie aufflammte, wurde ihr Feuer durch die nächste Flut der Enttäuschung gelöscht.

I cry a lot Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt