"Jenseits der Blicke"

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Ich habe es wieder gesehen. Er steht in der Ecke, seine Schultern sind angespannt, sein Blick fest auf den Boden gerichtet. Seine langen, blonden Haare fallen ihm wie ein Schleier ins Gesicht und verbergen seine Augen, als würden sie ihn vor den gehässigen Blicken schützen, die auf ihn gerichtet sind.

Manchmal frage ich mich, warum sie es tun. Warum sie es für nötig halten, ihm das Leben so schwer zu machen. Heute war es wieder einer von diesen Tagen. Ich habe es von Weitem gesehen, wie sie sich um ihn scharten, die Jungs aus der Fußballmannschaft. Sie lachen laut, doch es ist kein fröhliches Lachen. Es ist hart und gemein, gefüllt mit der Art von Bosheit, die in den Hallen dieser Schule viel zu oft widerhallt.

"Na, hast du dir wieder das Kleid von deiner Schwester geklaut?" höre ich einen von ihnen sagen, während er ihm an den Haaren zieht. Ihre Worte sind schneidend, so wie sie immer sind. Doch er bleibt stumm, antwortet nicht. Er lässt es über sich ergehen, wie ein stummer Beobachter seines eigenen Schicksals.

Es bricht mir das Herz, ihn so zu sehen. Ich wünschte, ich könnte eingreifen, etwas sagen, ihn verteidigen. Aber ich tue es nicht. Stattdessen verstecke ich mich hinter der Ecke des Schulflurs und beobachte nur. Vielleicht bin ich feige, vielleicht habe ich Angst, dass sie mich genauso behandeln würden. Doch etwas in mir zieht sich jedes Mal zusammen, wenn ich sehe, wie sie ihn schikanieren, weil er anders ist. Weil er den Mut hat, so zu sein, wie er ist.

Manchmal frage ich mich, was er denkt, wenn er all das über sich ergehen lässt. Ob er nachts in seinem Zimmer sitzt und weint, oder ob er einfach nur noch mehr in sich selbst verschwindet. Ich weiß nicht einmal seinen Namen, aber ich kenne jedes Detail seines Gesichts. Seine weichen Züge, die dünnen Hände, die zierliche Figur. Er trägt oft Röcke und farbenfrohe Kleidung, so als wäre die Welt seine Leinwand, und er wolle sie mit Farbe füllen, ganz egal, wie grau die anderen sie sehen.

Es gab einen Tag, da haben sie es übertrieben. Sie haben ihn zu Boden gestoßen, ihm die Haare abgeschnitten, weil sie dachten, das würde ihn "normaler" machen. Doch er erschien am nächsten Tag mit einem strahlenden Lächeln auf den Lippen und noch kürzer geschnittenen Haaren, mit noch mehr Farbe in seiner Kleidung, als würde er ihnen beweisen wollen, dass sie ihn nicht brechen können.

Und in diesem Moment habe ich etwas Seltsames gefühlt. Etwas wie Bewunderung. Vielleicht sogar Neid. Er mag einsam sein, geächtet und verspottet, aber er ist mutig. Er lässt sich nicht verbiegen, nicht durch ihre Worte, nicht durch ihre Taten.

Heute sitze ich wieder in meiner Ecke und schaue zu, wie sie ihn piesacken. Doch da ist etwas anders. Er schaut auf, und unsere Blicke treffen sich. Für einen Augenblick ist alles still. Er lächelt. Ein kleines, wissendes Lächeln, als wüsste er, dass ich ihn beobachte, dass ich mit ihm fühle. Und dann passiert es: Er hebt das Kinn, dreht sich um und geht. Einfach so.

Die Jungs lachen immer noch, aber ihre Stimmen klingen schwächer, fast als hätten sie ein wenig von ihrer Macht verloren. Und da weiß ich, dass es an der Zeit ist. An der Zeit, aus meinem Versteck herauszutreten und meine Stimme zu erheben.

Denn er ist stark, stärker als ich es je war. Doch vielleicht, nur vielleicht, kann ich ein wenig von seiner Stärke finden und es ihm gleichtun.

Vielleicht kann ich heute etwas ändern.

Mein Leben als neko was keiner weiß Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt