Kapitel Ⅺ - Mond und Sonne

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›Wenn die Nacht dem Tag die Hand reicht und der Schatten das Licht umarmt, wird die Welt beben

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›Wenn die Nacht dem Tag die Hand reicht und der Schatten das Licht umarmt, wird die Welt beben. So bleibe Du, wo Du zu sein vermagst. Rechtschaffend in der Beuge der Finsternis.
- Kainiten-Kodex, Vers 12:5

Ein fahles Mondlicht sickerte durch das dichte Blätterdach, tauchte den Wald in ein gespenstisches Zwielicht. Die Luft war schwer vom modrigen Geruch alter Bäume und dem süßlich-faulen Gestank von Verwesung. Kein Laut war zu hören, kein Rascheln im Unterholz, kein fernes Rufen eines Nachtvogels.
Thorne trieb sein Pferd unbarmherzig voran, sein silbernes Auge huschte wachsam durch die Schatten. Der schmale Pfad, dem er folgte, war kaum mehr als ein Wildwechsel, überwuchert von Dornenranken und knorrigen Wurzeln, die nach den Hufen seines Rappen griffen. Doch der vernarbte Kainit ließ sich nicht beirren, drängte sein Ross immer tiefer in das Herz der Finsternis.
Seit Stunden und der Nacht ritt er nun schon durch die düsteren Wälder der Schattenlande, rastlos getrieben von Schuld und Sorge. Die Vorstellung von Helaenas kleinem Körper, gefesselt und blutüberströmt auf jenem grausigen Altar, hatte sich in seine Netzhaut gebrannt, würden ihn heimsuchen. Ihr möglichen Schreie hallten in seinen Ohren wider, egal wie weit er ritt. Er hatte versagt, hatte nicht verhindern können, was sie ihr angetan hatten. Und nun war sie allein, ausgeliefert den finsteren Machenschaften Aldrics und der erbarmungslosen Härte eines Vaters, welcher vom Weg abgekommen war. Bei dem Gedanken ballten sich seine vernarbten Hände zu Fäusten, so fest, dass seine Fingernägel blutige Halbmonde in seine Handflächen gruben.
Und dann war da noch Morrigan. Die undurchschaubare Magierin, deren Spur ihn in diese gottverlassene Wildnis geführt hatte. Irgendwo dort draußen war sie, verletzt und gejagt von Feinden, die Thorne nur erahnen konnte. Er musste sie finden, musste Antworten von ihr erhalten - um Helaenas Willen. Denn tief in seinem Inneren nagte der schreckliche Verdacht, dass hinter alldem ein noch größeres Netz aus Intrigen und uralten Prophezeiungen steckte, indem sie alle nur Spielfiguren waren.
Ein abruptes Geräusch riss Thorne aus seinen düsteren Gedanken. Ein Rascheln im Unterholz, das Brechen von Zweigen unter hastigen Schritten. Im nächsten Moment brachen sie aus dem Dickicht hervor - eine Gruppe von Menschen, Männer, Frauen und Kinder, manche kaum mehr als halbe Portion, die Gesichter aschfahl vor Angst. Ihre Kleider waren zerrissen und verdreckt, einige trugen notdürftig verbundene Wunden. Eine junge Frau stolperte und fiel beinahe, ein schluchzendes Bündel an ihre Brust gepresst. Es waren Flüchtlinge, so viel war klar - aber wovor flohen sie?
Thorne zügelte sein Pferd und hob beschwichtigend eine Hand, als die Erschöpften ihn erblickten und in Panik zu geraten drohten.
  »Fürchtet euch nicht«, sagte er mit ruhiger, fester Stimme. »Ich bin kein Feind. Sagt mir, was ist geschehen? Wovor seid ihr auf der Flucht?«
Ein alter Mann, das graue Haar wirr und die Augen weit aufgerissen, trat zögernd vor.
 »Eine Abscheulichkeit«, krächzte er mit zitternder Stimme. »Es kam in der Nacht, riesig und schwarz wie die Finsternis selbst. Seine Augen glühten rot wie die Feuer der Hölle und sein Maul troff vor schwarzem Geifer.« Er schluchzte erstickt, Tränen strömten über seine hageren Wangen. »Es verschlang alles ... meine Söhne, meine Enkel ... nichts blieb übrig als Blut und Knochen.«
Ein raues Flüstern erhob sich, als die anderen Flüchtlinge sich anschlossen, ihre Schilderungen vermischten sich zu einer Kakophonie des Grauens. Eine Frau mit zerzaustem Haar und tränennassen Wangen drängte sich vor, ihre Stimme schrill vor Angst.
 »Es war riesig, Herr ... mindestens fünf Schritt hoch! Und diese Klauen ... scharf wie Dolche und schwarz wie Pech. Es zerriss meinen Gatten wie Papier, nichts blieb übrig als blutiger Matsch und zersplitterte Gebeine!«
Ein Mann mit einem notdürftigen Leinen als Verband um den Arm schluchzte erstickt.
 »Die Augen«, stieß er hervor. »Der Alte spricht Wahrheit; glühend rot und ohne jedes Gefühl – als blickte man in die Gruben der Hölle selbst. Mein Bruder ... er konnte nicht schnell genug weglaufen. Das Biest begrub seine Zähne in seiner Kehle und ... und riss sein Haupt ab wie eine Marionette.«
Thorne hob eine Hand, sein Gesicht grimmig.
 »Nun ruhig. Nun ruhig ... Was für ein Biest war das? Ein Wolf? Ein Bär? Sprecht!«
Der Alte schüttelte den Kopf, sein Blick gehetzt.
 »Nichts, was ich je gesehen habe, Fremder ... Es war wie aus den schlimmsten Alpträumen geboren - eine verzerrte Mischung aus Tier und Dämon. Es hatte den Körper einer gigantischen Raubkatze, aber der Kopf ... Herr. Oh – der Kopf war der eines Kraken, mit unzähligen Tentakeln, die im Blut seiner Opfer zuckten.«
Thorne runzelte die Stirn, seine Hand wanderte unwillkürlich zum Schwertgriff. Ein Chimärenwesen - eine Kreatur aus den dunkelsten Legenden, geboren aus verdrehter Magie und Wahnsinn. Was hatte so etwas in einem verlassenen Dorf zu suchen?
Sein Blick huschte über die verängstigten Gesichter der Flüchtlinge.
 »Hm. Hat jemand von euch eine Frau gesehen? Eine Magierin mit dunkelbraunen Haar und auffälligen Rotstich? Bernsteinfarbenen Augen?... Irgendwer?«
Stille antwortete ihm, unterbrochen nur vom Wimmern der Verletzten und dem nervösen Scharren der Füße. Doch dann, zögernd, trat ein kleiner Junge vor, nicht älter als sechs oder sieben Winter. Seine Wangen waren noch rund vor Babyspeck, aber seine Augen hatten die Unschuld verloren.
 »Ich hab so eine gesehen«, flüsterte er schüchtern. »Eine mit goldenen Augen. Sie kam drei Nächte, bevor das Monster auftauchte.«
Thorne glitt von seinem Ross, kniete sich vor den Jungen, um auf Augenhöhe mit ihm zu sein. Sanft legte er ihm eine Hand auf die schmale Schulter.
 »So? Erzähl mir alles, was du weißt, Junge. Bitte - es ist sehr wichtig.«
Der Kleine schluckte, die kleinen Hände nestelten nervös an seinem schmutzigen Hemd.
 »Sie war schön«, hauchte er. »Dachte erst, sie wäre 'ne Prinzessin, oder so. Aber auch gruselig. Sie trug ein Gewand, schwarz wie Rabenschwingen und ihre Augen ... sie leuchteten wie Bernstein im Sonnenlicht.«
Thorne nickte ungeduldig. Das klang nach Morrigan.
 »Wohin ging sie? Hast du gesehen, was sie tat?«
Der Junge biss sich auf die Lippe, als müsse er angestrengt nachdenken.
 »Sie ging zur alten Hütte am Rande des Dorfes. Der, von der Mama immer sagt, dass böse Geister darin hausen. Keiner geht da hin, aber die Dame ... sie ging direkt darauf zu, als würde sie den Weg kennen.«
Thorne spürte, wie sein Herz schneller schlug.
 »Wer lebt in der Hütte? Ist die verlassen?«
 »Nein, Herr ... dort haust die alte Vettel. Ein Kräuterweib.«
Ein verlassenes Dorf und eine gefürchtete alte Frau mit Zugang zur Natur - natürlich. Wenn es einen Ort gab, an dem sich eine Magierin wie Morrigan verstecken würde, dann dort.
Thorne beugte sich vor, seine Augen bohrten sich in die eines alten Mannes.
 »Was genau ist das für ein Ort?«
 »Rabenfels, Herr.«
 »Rabenfels?«
Der Alte schluckte schwer, als müsse er die Worte erst an einem Kloß in seinem Hals vorbei zwingen.
 »Ist eine schäbige Angelegenheit, einen Ritt nach Norden, nicht weit«, flüsterte er. »Schon seit Menschengedenken gemieden, ein Ort des Unheils. Es heißt, ein mächtiger Hexenmeister habe dort einst gewütet, die Erde selbst vergiftet mit seiner dunklen Magie. Seither hält sich kein lebendes Wesen dort auf, außer die Vettel ... Wir sind nur einfache Bauern, nicht weit entfernt. Wir dachten nicht, dass-«.
Thorne nickte langsam, als er ihn unterbrach. Sein Gesicht eine Maske grimmiger Entschlossenheit.
 »Ich werde mich darum kümmern«, sagte er fest.
Ein Raunen ging durch die Menge, Angst und Unglaube zeichneten sich auf den müden Gesichtern ab. Der alte Mann trat vor, seine knochigen Hände zitterten.
 »Herr, Ihr dürft nicht!«, flehte er. »Das Biest ... es ist grauenvoll. Selbst unsere tapfersten Burschen fielen unter seinen Klauen. Ihr reitet in Euren Tod!«
Andere stimmten ein, ihre Stimmen von Panik erfüllt.
 »Bleibt hier!«, riefen sie. »Wenn Ihr noch den Winter erleben wollt, rate ich Euch ab! Ihr könnt dort niemanden mehr helfen.«
Aber Thorne schüttelte den Kopf, ein schmales Lächeln auf den Lippen.
 »Ich habe mehr als genug Winter gesehen«, sagte er ruhig. »Und auch den Toten kann man helfen.«
Ehrfürchtiges Flüstern erhob sich, gefolgt von ungläubigen Blicken und hastigen Verbeugungen.
 »Ein Kainit«, murmelten sie. »Ein echter Kainit hier, bei uns.«
Der alte Mann fiel auf die Knie, ein Funkeln der Erleichterung in den Augen.
 »Bei den Dreien«, hauchte er. »Bitte, Herr - tötet das Biest, rächt unsere Gefallenen. Wir haben nichts, um Euch zu bezahlen, aber unsere Dankbarkeit wird ewig währen.«
Thorne legte dem Alten eine Hand auf die knochige Schulter.
 »Steht auf, guter Mann«, sagte er sanft. »Ihr habt mich bereits bezahlt - mit Eurem Vertrauen und den Informationen, die Ihr mir gegeben habt. Nun liegt es an mir, meiner Pflicht nachzukommen.«
Er wandte sich der Menge zu, seine Stimme fest und klar.
 »Ihr seid in Sicherheit - der Morgen naht und die Bestie wird sich verkriechen vor dem Licht.« Er wies nach Osten, wo ein schmaler Streifen Helligkeit den Horizont säumte. »Folgt der aufgehenden Sonne und sucht Zuflucht in der nächsten Stadt. Ich reite nach Rabenfels.«
Mit diesen Worten schwang er sich auf sein Pferd, ignorierte die letzten besorgten Rufe und dankbaren Segenswünsche der Flüchtlinge. Der Wind pfiff ihm um die Ohren, als er in halsbrecherischem Tempo zwischen den Bäumen hindurchpreschte, ein schwarzer Schatten auf den Fersen eines Ungeheuers. Hinter ihm versank der Pfad in der Dunkelheit, als hätte ihn der Wald verschlungen.

Das Ätherkind - Asche und BlutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt