Kapitel ⅩⅠⅠⅠ - Nebel und Wein

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›Hütest du dich wohl vor den Irrlichtern der Täuschung, die in den Sümpfen des Zweifels tanzen

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›Hütest du dich wohl vor den Irrlichtern der Täuschung, die in den Sümpfen des Zweifels tanzen. Denn oft liegt die Wahrheit verborgen im Herzen dessen, was wir zu kennen glauben. Suche nicht in der Ferne, was nah bei dir weilt, auf dass, du nicht das Wesentliche übersiehst, während du nach Schatten greifst.‹
- Kainiten-Kodex, Vers 13:7

Der Nebel schien zu atmen, als hätte er eine eigene bösartige Präsenz. Roran spürte die kalten Fäden, die über seine Haut strichen, Spuren der Verzweiflung hinterlassend, die tief in sein Fleisch krochen. Der Dunst umhüllte ihn wie ein unsichtbarer Mantel, kalt und gespenstisch, ein lebendiges Wesen, das mit jedem Atemzug in seine Lungen kroch. Ockel schnaubte unruhig unter ihm, die Hufe rutschten auf dem schlammigen Pfad, während er sich mühsam vorwärtstastete, mehr geführt von einem dumpfen Instinkt als vom Auge seines Reiters. Zumindest sein treues Ross blieb vom Untergang des Blutgipfels verschont.
Das Dorf tauchte aus dem Dunst auf wie ein schattenhaftes Trugbild, eine wirre Ansammlung verfallener Hütten, jene sich wie erfrierende Bettler zusammenkauerten. Der Weiße zog an den Zügeln und brachte das Tier zum Stehen. Seine Augen suchten vergeblich im dichten Grau, doch alles, was sie fanden, war eine tiefe, drückende Trostlosigkeit, die schwerer in der Luft hing als der Geruch faulender Pflanzen. Kein Lachen, kein Marktgeschrei, keine Stimmen — nur eine erdrückende Stille, gelegentlich unterbrochen von einem unterdrückten Husten oder einem schwachen Stöhnen, das aus den Ritzen der verfallenen Häuser drang.
Widerwillig trieb Roran sein Pferd weiter. Das Zögern des Tieres entsprach seinem eigenen, ein unheilvolles Echo seiner Gedanken. Die Zeichen des Verfalls wurden unübersehbar: Felder, die verdorrten und verrotteten, ihre Stängel schwarz wie verbrannt. Augenpaare, blass und trüb, spähten aus Türöffnungen und Fensterspalten, schattenhafte Gestalten mit ausdruckslosen, fast toten Gesichtern. Kinder, nur noch Hüllen ihrer selbst, kauerten wie verloren in den Ecken, ihre schwachen Husten klangen wie das Flüstern des Todes. Die Alten lagen regungslos auf morsch gewordenen Pritschen, ihre flachen Atemzüge kaum mehr wahrnehmbar.
Die wenigen Überlebenden, die sich noch durch den schlammigen Morast der Straßen schleppten, wirkten gebrochen, als ob das Gewicht der Welt auf ihren Schultern lastete. Jeder Schritt schien ein schier unüberwindbarer Kraftakt zu sein, als sei das Leben selbst zu einer Last geworden, die keine Erlösung mehr versprach. Ihre Haut hatte den Farbton von Asche, ihre Augen waren leer und hoffnungslos, als hätten sie längst jeden Funken von Leben hinter sich gelassen.
Ein kalter Schauer jagte Roran den Rücken hinunter, der nichts mit der feuchten Kälte des Nebels zu tun hatte. Dies war keine gewöhnliche Krankheit, keine simple Pest oder ein Fieber, das man mit Kräutern vertreiben konnte. Hier lag eine düstere Magie in der Luft, ein bösartiges Flüstern, das sich in die Seele fraß. Er spürte es vibrieren, wie einen dunklen Herzschlag, jener Morrigans Amulett gegen seine Brust zum Klingen brachte, als warne es ihn vor der Gefahr, die hier lauerte.
Er stieg ab, seine Stiefel sanken tief in den Morast, während er das dunkle Ross an einen brüchigen Pfosten band. Das Tier wieherte leise, die Ohren angelegt, die Augen vor Angst geweitet. Roran legte eine beruhigende Hand auf seinen Hals, flüsterte tröstende Worte, obwohl sein eigener Herzschlag einem Trommelfeuer glich.
 »Ruhig Ockel, alles wird gut. Es ist nicht schlimm, hm?«
Er wusste, dass er fortgehen sollte, diesen verfluchten Ort hinter sich lassen sollte, bevor auch er von dessen Elend verschlungen würde. Doch etwas hielt ihn zurück, ein nagender, unerbittlicher Ruf seiner Pflicht. Er war ein Kainit, ein Schlächter der Monster. Wenn er sich vom Leid abwandte, was blieb dann von ihm übrig?
Mit fester Haltung wandte Roran sich dem Zentrum des Dorfes zu, die Hand am Griff seines silbrigen Schwertes. Der Nebel, dicht und drückend, umschlang ihn, als wolle er ihn zurückhalten. Doch Roran setzte seinen Weg fort, trat in das finstere Herz dieses Ortes, bereit, den Schrecken zu begegnen, die in dessen Tiefe lauerten.
Und während er durch das trostlose Nest stapfte, erhaschte er einen unerwarteten Farbtupfer inmitten des allgegenwärtigen Graus. Am äußersten Rand der Siedlung, wie ein auffälliges Leuchtfeuer inmitten der düsteren Umgebung, stand eine Frau, gehüllt in leuchtend violette Gewänder. Ihr Rücken war ihm zugewandt, die Haltung aufrecht und würdevoll, ein scharfer Kontrast zu den gebeugten, niedergedrückten Gestalten der anderen Seelen an jener Stätte.
Von Neugier getrieben, näherte sich Roran vorsichtig, blieb jedoch im Schutz der Schatten verborgen. Als er näher kam, erkannte er, dass die Frau in einem seltsamen Ritual vertieft war. Ihre Hände zeichneten komplizierte Muster in die Luft, ihre Finger vollführten eine kunstvolle Choreographie, jene die Wirklichkeit selbst zu formen schien. Ihre Lippen bewegten sich in einem unaufhörlichen Strom murmelnder Beschwörungen, die Worte unverständlich, aber mit Macht durchtränkt.
Wo ihre Spitzen die Luft durchschnitten, wich der Nebel zurück, als wäre er von einer unsichtbaren Kraft vertrieben. Für einen Augenblick bildete sich eine Blase der Klarheit, ein flüchtiger Blick auf die Welt, wie sie sein könnte – lebendig, frei von der erstickenden Umklammerung des Dunstes. Doch immer wieder kroch der Schleier zurück, verschlang das kurze Aufleuchten der Normalität, als ob er sich weigern würde, auch nur einen Zoll Boden preiszugeben.
Roran verharrte regungslos, gebannt von dem Anblick, wie die Zauberin mit dem Nebel rang, ihre Magie flackerte und erstrahlte wie eine flüchtige Flamme im Sturm. Sie war schön, erkannte er, aber auf eine wilde, ungezähmte Weise. Ihr Haar, schwarz wie das Gefieder eines Raben, wehte in einem unsichtbaren Wind, während ihre Haut ein inneres Leuchten ausstrahlte, als würde die Macht, die sie beherrschte, sie von innen heraus erhellen.
Doch es waren ihre Augen, die ihn fesselten. Selbst aus der Ferne konnte er die Intensität spüren, ein brennendes Bernstein, das den Nebel durchdrang und tief in seine Seele zu blicken schien. In diesen Augen lag eine uralte Macht, unermesslich und tief, aber auch eine bittere Traurigkeit, als hätten sie zu viel gesehen, zu viele Schrecken ertragen.
 »Wer bist du?«, flüsterte Roran in die Stille, fast zu sich selbst. Er hatte viele ihrer Art getroffen auf seinen Reisen, doch keine wie diese. Etwas an ihr war anders, eine Präsenz, eine Schwere, die sie von den gewöhnlichen Hexen und weisen Frauen abhob. Die Kraft, die sie entfachte, war gewaltig, weit jenseits der Reichweite der meisten, jene die Kunst ausübten.
Und doch, trotz all ihrer Gewalt, schien sie zu kämpfen. Der Schleier drängte immer näher, wurde mit jedem Moment aggressiver, entschlossener in seinem Vorstoß. Ihre Bewegungen wurden hektischer, die Beschwörungen klangen zunehmend verzweifelter. Schweiß perlte auf ihrer Stirn, und ihr Atem ging stoßweise, als koste jeder Zauber sie immense Anstrengung.
Rorans Hand schloss sich fester um den Griff seines Schwertes, ein instinktiver Reflex des Schutzes. Er hegte dank Morrigan wenig Zuneigung für Magier, hatte zu oft die Zerstörung gesehen, die ihre Kräfte hinterließen. Doch dies war anders. Diese Frau, wer immer sie sein mochte, kämpfte für die Menschen hier, stellte sich einer Bedrohung, die sie nicht begreifen konnten. Das allein verdiente Anerkennung.
Dennoch zögerte er, gefangen zwischen dem Drang, ihr beizustehen, und der Vorsicht, die er aus bitterer Erfahrung gelernt hatte. Diese Gestalten waren unberechenbar, ihre Motive oft so verdreht wie die Wege ihrer Magie. Sich zu offenbaren, könnte eine noch größere Gefahr heraufbeschwören als der Nebel selbst. Und doch, sie einfach allein kämpfen zu lassen ...
Bevor er einen Entschluss fassen konnte, erstarrte die Zauberin plötzlich, ihre Beschwörungen stockten. Langsam, als ob eine unsichtbare Kraft sie lenkte, drehte sie sich um, und ihre brennenden Augen aus Bernstein fanden seine, durchdrangen den wirbelnden Nebel. Einen langen, angespannten Moment verharrten sie so, Hexe und Kainit, ein stummer Austausch, beladen mit unausgesprochenen Fragen und tief verborgenen Geheimnissen.
Dann, als habe sie eine Entscheidung getroffen, hob die Schöne die Hand und gab ihm ein Zeichen, eine einzige, gebieterische Geste. Eine Aufforderung oder ein Befehl? Roran spürte, wie seine Füße sich wie von selbst in Bewegung setzten, gezogen von einer Kraft, die nichts mit Magie zu tun hatte, sondern alles mit der Herausforderung, die in ihren feurigen Augen lag.
Der Nebel umwirbelte sie beide, als er näherkam, zwei Gestalten in einer grauen, schweigenden Welt, an der Schwelle zu einem Schicksal, das keiner von ihnen je erahnen konnte.
Als der Schlächter fast bei ihr war, wandte sich die Zauberin ihm vollends zu, ihre Augen bohrten sich mit einer solchen Intensität in seine, dass er eine Gänsehaut bekam. Aus der Nähe war ihre Schönheit noch eindringlicher, aber es war eine Gefährliche, wie das lodernde Feuer, das gleichermaßen wärmen wie verschlingen konnte. Er kannte es zu gut.
 »Du bist weit weg von deinem Heim, Kainit,« sagte sie, ihre Stimme tief und melodisch, mit einem Hauch eines fremden, nicht greifbaren Akzents. »Was führt dich an diesen verfluchten Ort?«
Roran musterte sie misstrauisch, seine Hand ruhte weiterhin auf dem Griff seines Schwertes.
 »Das könnte ich dich genauso fragen, Hexe. Diese Menschen scheinen in großer Not zu sein, und doch sehe ich hier keine deiner Art, außer dir selbst.«
Ein kaum wahrnehmbares Zucken ging über ihr Gesicht, schneller als er es fassen konnte.
 »Alara von Dornfels« erwiderte sie, ohne auf seine Spitze einzugehen. »Und ich bin hier, weil ich gerufen wurde. Von wem und zu welchem Zweck, ist mir noch nicht ganz klar.«
Bei der Nennung ihres Namens fuhr Roran auf, seine Augen weiteten sich. Erinnerungen strömten zurück, Bruchstücke von Gesprächen mit Helaena, flüsternde Geheimnisse in der Dunkelheit der Nacht. Sie hatte von einer ›Tante Alara‹ gesprochen, einer Gestalt, umwoben von Mysterien und Faszination. Einer Frau, die ihr Geschichten erzählt hatte, jene wie Märchen klangen, aber stets einen düsteren Unterton trugen.
 »Alara« wiederholte er, den Namen wie einen fremdartigen Geschmack auf der Zunge spürend. Es fühlte sich bedeutungsvoll an, beladen mit einer verborgenen Bedeutung. »Ich kannte ein Mädchen, welches einst von dir gesprochen hatte. Sie erwähnte eine ›Tante‹, die ihren Kopf mit Geschichten von Kainiten und Monstern füllte.«
Falls Alara von dieser Offenbarung überrascht war, ließ sie es sich nicht anmerken. Doch ihre Augen wurden schärfer, ihr Blick konzentrierter.
 »Hat sie das?«, murmelte sie, fast zu sich selbst. »Interessant. Es scheint, als sollten sich unsere Wege kreuzen, Kainit.«
Rorans Griff um den Schwertknauf verstärkte sich, Misstrauen nagte an ihm.
 »Was meinst du? Was weißt du über meine ... über Helaena?«
Alara musterte ihn eine Weile, ihr Gesicht unlesbar. Als sie sprach, waren ihre Worte sorgfältig gewählt, bedacht.
 »Ich weiß, dass sie etwas Besonderes ist. Mehr, als sie selbst ahnt. Und ich weiß, dass es jene gibt, die versuchen würden, diese Besonderheit für ihre eigenen Zwecke zu missbrauchen.«
Ein eisiger Schauder lief Roran bei ihren Worten über den Rücken, als ahne er eine noch tiefere, unheilvolle Wahrheit, die sich ihm bald offenbaren würde.
 »Was willst du damit sagen, Hexe? Sprich offen, wenn du es kannst.«
Ein Hauch eines Lächelns spielte um Alaras Lippen, getränkt mit etwas, das wie Bedauern wirkte.
 »Ich fürchte, klare Worte sind ein Luxus, den wir uns beide nicht leisten können, Kainit. Es gibt Kräfte am Werk, die über dein Verständnis hinausgehen, oder auch meines. Es genügt, zu sagen, dass Helaenas Schicksal – und vielleicht das von uns allen – an einem seidenen Faden hängt.«
Rorans Gedanken rasten, während er versuchte, die verborgenen Bedeutungen in ihren Worten zu entschlüsseln. Er dachte an Morrigan, an die Geheimnisse, die sie gehütet hatte, die Halbwahrheiten, die sie erzählte. War Alara Teil dieses Netzwerks aus Täuschung, oder eine mögliche Verbündete gegen es?
 »Du redest in Rätseln«, knurrte er, seine Stimme vor Frustration geschärft. »Wenn du etwas über Helaena weißt, über Morrigan oder die Gefahr, die ihr droht, dann musst du es mir sagen. Sie ist meine-«, er stockte, das Wort blieb ihm im Halse stecken.
 »Deine Tochter«, vollendete Alara sanft für ihn. In ihren Augen lag nun eine unerwartete Weichheit, ein Schimmer von Mitgefühl. »Ich weiß, Roran aus Sturmtide. Und glaube mir, ich will nichts sehnlicher, als dass sie in Sicherheit ist. Doch der Weg, der vor uns liegt, ist voller Gefahren, und manche Wahrheiten müssen mit Vorsicht angegangen werden, sonst zerstören sie jene, die sie schützen sollen.«
Sie hob eine Hand, um seinen Protest zu unterbinden.
 »Ich werde dir sagen, was ich kann, wann ich kann. Aber für den Moment haben wir dringendere Aufgaben.« Sie deutete auf das Dorf um sie herum, das noch immer im Schleier des Elends versunken war. »Diese Menschen brauchen unsere Hilfe, Kainit. Was auch immer noch kommen mag, das muss unser erster Schritt sein.«
Roran wollte widersprechen, wollte die Antworten erzwingen, nach denen er so verzweifelt verlangte. Was konnte wichtiger sein, als sein eigen Fleisch und Blut, welches vermutlich allein und verletzt war? Doch als er in Alaras Augen blickte, erkannte er darin einen Spiegel seines eigenen Entschlusses, seines eigenen unerschütterlichen Willens, die Rolle eines Beschützers zu erfüllen. Was auch immer sie verbarg, welche Agenda sie auch verfolgte, in diesem Moment waren sie vereint.
»Fein«, sagte er schließlich und löste seine Hand mit sichtlicher Anstrengung vom Schwertknauf. »Aber beeil dich.«
Alaras Lächeln war diesmal echt, ein warmer Lichtstrahl in der allgegenwärtigen Düsternis.
 »Folge mir,« sagte sie und wandte sich wieder dem nebelverhangenen Dorf zu. »Und halte deine Klinge bereit. Ich fürchte, wir werden sie noch brauchen, bevor dieser Tag endet.«
Als Roran an ihrer Seite weiterging, konnte er nicht verdrängen, dass diese Aufgabe weitaus mehr war als eine bloße Monsterjagd. Eine unsichtbare Macht zog ihn tiefer in ein Netz aus Intrigen und uralten Mächten. Alaras rätselhafte Worte, ihre Verbindung zu Helaena, das mysteriös befallene Dorf – all das wirbelte in seinem Kopf herum, Bruchstücke eines Puzzles, das er noch nicht zu verstehen vermochte.
Doch eines war ihm glasklar. Welche Antworten er auch suchte, welches Schicksal ihn auch erwartete, sein Weg war nun untrennbar mit dem der rätselhaften Zauberin an seiner Seite verknüpft. Ob zum Guten oder zum Schlechten, ihre Schicksale waren nun miteinander verwoben, verbunden durch die Fäden des Mysteriums und das Gewicht unausgesprochener Wahrheiten.
Der Nebel umhüllte sie, während sie gingen, zwei Gestalten in einer Welt aus Grau, beide beladen mit Geheimnissen, die der andere nur erahnen konnte. Und in der Ferne, unsichtbar, doch spürbar, pochte und pulsierte die Quelle des Dorfleids, ein bösartiges Herz, das darauf wartete, gestellt und vielleicht, endlich, zum Schweigen gebracht zu werden.

Das Ätherkind - Asche und BlutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt