›Der Pfad des Sohnes ist gepflastert mit den Knochen der Schwachen und dem Fleisch der Verräter. Tritt fest, Bruder, und zögere nicht, deine Fußspuren mit Blut zu füllen.‹
- Kainiten-Kodex, Vers 6:15Das erste fahle Licht der Morgendämmerung kroch über die Trümmer des Blutgipfels, tastete mit blassen Fingern über zersplitterte Balken und gebrochene Mauern. Rauch stieg in trägen Schwaden auf, vermischte sich mit den Nebelschwaden zu einem wabernden Leichentuch.
Nichts regte sich in den Ruinen der einst so stolzen Festung. Nur hier und da knisterte noch eine verirrte Flamme, leckte träge an verkohltem Holz. Ab und an löste sich ein Steinbrocken aus einer rußgeschwärzten Wand, polterte dumpf zu Boden und ließ eine weitere Staubwolke aufsteigen.
In dieser Todesstille lag Roran, rührte sich nicht, als sei er eins geworden mit Asche und Trümmern ringsum. Eine Illusion, der sein Körper bald ein abruptes Ende setzte. Ein Husten zerriss die Stille, dann ein Keuchen, als seine Lungen einen ersten, krampfhaften Atemzug taten.
Roran schnappte nach Luft, nur um sich sofort in einem Hustenanfall zu krümmen, als scharfer Rauch seine Kehle hinabkroch. Seine Augen tränten, während er sich unter wildem Blinzeln auf den Rücken wälzte.
Über ihm spannte sich der Himmel, ein wabernd wogender Schleier aus Qualm und aufgehender Helle. Wie von selbst formte sich auf Rorans aufgesprungenen Lippen ein Name:
»Helaena!«
Doch nur das Echo seines eigenen Schreis antwortete ihm, verspottete ihn mit dem Grauen jenes Augenblicks, als Blut und Dunkelheit die Welt verschlungen hatten. Fetzen von Erinnerungen schossen durch sein Geist - flackerndes Kerzenlicht auf schwarzem Stein, der Gestank nach verbranntem Fleisch, ein Jammerlaut, so markerschütternd, dass er die Grundfesten der Erde erzittern ließ. Helaenas Schrei.
Roran stemmte sich auf die Ellbogen, versuchte, den Nebel aus Erschöpfung und Verwirrung abzuschütteln. Sein Blick irrte gehetzt über die Trümmer um ihn herum. Er musste sie finden, musste sehen, dass sie lebte, dass sie ...
Sein Herz setzte einen Schlag aus. Dort, nur wenige Schritte entfernt, lugte eine Hand unter einem Trümmerhaufen hervor, die Finger seltsam verdreht. Und dahinter, ein halbes Gesicht, vom Schutt zerquetscht wie eine überreife Frucht. Sofort füllten Galle und bittere Säure die Kehle des Weißen. Würgend robbte er rückwärts, versuchte, dem Anblick zu entkommen. Doch wohin er sich auch wandte, sah er nur weitere Leichen.
Leiber, zerfetzt und verstümmelt, von Hitze verzerrt wie groteske Wachsfiguren. Manche noch in den blutverschmierten Roben und Rüstungen der Kainiten, andere kaum älter als Kinder, vom Schutt der einstigen Akolythenkammern zermalmt.
Die Luft roch nach Blut, verkohltem Fleisch und dem bitteren Hauch verbrannten Weihrauchs. Ein Ruch, so intensiv, dass sein Geschmack sich auf Rorans Zunge zu legen schien - metallisch, ölig und abscheulich süßlich wie verwesende Opfergaben.
Der Boden schwankte unter seinen Füßen, als er endlich auf die Beine kam. Und dann erneut, als wäre selbst Stein und Fels in Aufruhr. Aber mit der ersten verflogenen Umnebelung wusste Roran es besser. Das Beben kam nicht von außen. Es war die Resonanz des Sturms in seinem Inneren, wo Schock und Schmerz jeden klaren Gedanken ertränkten.
Dennoch stolperte er vorwärts, einen Fuß vor den anderen setzend wie ein Betrunkener. Sein Mund öffnete sich, formte erneut den Ruf seiner Tochter, quälte ihn wieder und wieder hervor wie ein zerrütteter Bußgesang.
»HELAENA!«
Doch wo er auch hinsah, wo er auch nach einem Lebenszeichen suchte - er fand nur den Tod in all seinen hässlichen Facetten. Das Grauen, jenes sie entfesselt hatten.
So taumelte der Kainit durch die Trümmer, seine Mahnungen nach Überlebenden verlor sich im Grollen berstenden Gesteins. Jeder Atemzug brannte in seinen Lungen, da sich die Luft selbst mit der Asche der Gefallenen vermischte. Seine Augen tränten in den beißenden Rauchschwaden, doch er wagte nicht zu blinzeln, aus Angst, mehr zu übersehen, als er ohnehin schon nicht sehen konnte.
Hier und da stieß er auf Nester aus wabernder Energie, Überbleibsel der entfesselten Magie, die in der Luft knisterte wie statische Spannung. Um einen zerbrochenen Türbogen wölbte sich die Zeit wie zähflüssiger Sirup, ließ die Bewegungen zweier fliehender Novizen in einer endlosen Schleife wiederholend erstarren, ihre Münder zu lautlosen Schreien aufgeborsten.
Weiter vorn schwebten Steinbrocken in einem sanften Strudel, als hätte jemand die Schwerkraft verdreht. Dazwischen glommen geisterhafte Lichter auf, Irrlichtern gleich, die Erinnerungsfetzen in der Schwebe hielten - hier eine blutige Hand, dort ein starr aufgerissenes Auge.
Wie Motten von einer Flamme angezogen, stolperte Roran darauf zu und streckte die Finger danach aus. Für einen irrwitzigen Moment glaubte er, Helaenas Gesicht in den flackernden Schatten zu erhaschen. Gerade als seine Spitzen die erste Anomalie streiften, zerbarst die Illusion in einem Funkenschauer, jener prickelnd über seine Haut jagte.
Fluchend stolperte Roran zurück, das Herz bis zum Hals schlagend. Die plötzliche Bewegung ließ seinen Blick verschwimmen, Vergangenheit und Gegenwart ineinander zerfließen. Faelan, welcher sich mit grimmiger Miene über den Altar beugt – Aldrics Gesicht, von Schatten zerfurcht wie eine verwitterte Klippe. Thorne, blutüberströmt und nach Luft schnappend ...
»Nein!«
Roran taumelte gegen eine angesengte Mauer, krallte die Finger in morschen Stein. Die rauen Brocken gruben sich in seine Handflächen, ein willkommener Schmerz, der den Nebel aus Erinnerungen für einen kostbaren Augenblick vertrieb.
Er musste sich zusammenreißen, durfte sich nicht von der Vergangenheit lähmen lassen. Nicht, wenn es noch Hoffnung gab, sie zu finden. Sein Mädchen.
Entschlossen richtete er sich auf und blinzelte die Feuchtigkeit aus seinen Augen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass seine Wangen feucht waren und sein Kiefer schmerzte. Er musste die Zähne so fest zusammengebissen haben, dass es einem Wunder glich, dass er sich die Zunge nicht zerfetzt hatte.
Er holte zittrig Luft und zwang seine Füße, sich wieder in Bewegung zu setzen. Einen Schritt, dann noch einen. Weiter, immer weiter, schob er sich durch Asche und Staub, kletterte über Trümmerberge und spähte in jeden noch so kleinen Hohlraum. Verzweifelt klammerte er sich an die bröckelnde Hoffnung, einen Fetzen weißen Haars zu erspähen, ein Schluchzen zu hören. Irgendetwas.
Doch da war nichts. Nur Tod und Stille und das hohle Pfeifen des Windes, jener durch zerbrochenes Glas und klaffende Mauerrisse strich.
Wie in einem bösen Traum sah Roran sich jählings in ihrer Kammer sitzen, sah das Mädchen zusammengerollt auf seinem Schoß, ihre winzige Hand in seiner. Sie summte eine sanfte Melodie, während er ihr Haar kämmte, jene silbrigen Strähnen um seine Finger wickelte, die selbst die Dunkelheit erhellten. ›Ro'an ...‹
Fast meinte er, das seidige Haar unter seinen Fingerspitzen zu spüren, den Duft nach Lavendel und Milch in der Nase zu haben. Doch als er blinzelte, zerfloss die Vision und ließ ihn nur umso leerer zurück. Mit einem Ruck war er wieder hier, inmitten der Trümmer all dessen, was einst sein Leben gewesen war.
Ein Ächzen durchschnitt die Stille, so unvermittelt, dass Roran zusammenzuckte. Sein Kopf ruckte herum, die Muskeln ruckartig zum Zerreißen gespannt. Dort, halb verborgen unter einem zerbrochenen Balken, ragte ein Ärmel hervor. Die blutige Hand krümmte sich schwach, zuckte wie ein zertretener Käfer.
Mit wild hämmerndem Herzen stolperte Roran darauf zu, hastete über Schutt und Asche. Kurz bevor er den Balken erreichte, versteifte er. Diese Hand, so blass und langgliedrig - er würde sie überall erkennen.
»Faelan!«
Der Name fühlte sich falsch an auf seiner Zunge, wie ein übler Nachgeschmack. Ein Teil von ihm wollte sich abwenden, den Verräter seinem Schicksal überlassen. Hatte er nicht genau das verdient? War er nicht ebenso schuld an der Katastrophe wie Aldric selbst? Eine kleine, gehässige Stimme in Rorans Kopf wisperte, dass es nur gerecht wäre, Faelan in den Ruinen verrecken zu lassen wie einen räudigen Hund. Eine poetische Gerechtigkeit.
Doch der Weiße zögerte nur einen Herzschlag lang, bevor er sich hinkniete und mit einem Ächzen nach dem Balken griff. Egal welche Fehler Faelan gemacht hatte, er konnte ihn jetzt nicht seinem Schicksal überlassen. Nicht, wenn es eine Gelegenheit gab, ihn zu retten. Es mochte töricht sein, aber er klammerte sich an diesen Rest von Anstand wie ein Ertrinkender an einen Rettungsring. Es war sein letzter Anker.
Mit einem unterdrückten Stöhnen stemmte er den zentnerschweren Balken hoch, die Muskeln bis zum Zerreißen gespannt. Zentimeter um Zentimeter hob sich das verkohlte Holz, splitterte unter seinen verkrampften Fingern. Endlich, mit einem endgültigen, verzweifelten Ruck, gelang es ihm, den Balken zur Seite zu wälzen.
Keuchend schwankte er zurück, wischte sich Schweiß und Dreck von der Stirn. Faelan lag zusammengekrümmt zwischen den Trümmern, die schwarzen Haare verklebt von Blut und Schmutz. Sein einst so makelloses Gesicht war zerschrammt und rußverschmiert, die Lippen aufgeplatzt und blau. Rasselnd kämpfte er um jeden Atemzug, eine Hand auf die Brust gepresst.
»Verdammt, Faelan«, murmelte Roran heiser und ließ sich neben ihm auf ein Knie sinken. »Hörst du mich?«
Die Lider des Mannes flatterten, gaben die Aussicht auf zwei blutunterlaufene Augen frei. Sein Blick irrte ziellos umher, bis er sich schließlich auf Roran fokussierte. Ein schiefes Grinsen verzerrte seinen Mund.
»Scheiße man«, krächzte er und spuckte einen Klumpen Blut aus. »Mein edler Bruder. Hier, um den Tag zu retten? Von allen Bastarden hätte ich dich am Wenigsten erwartet.«
Roran schnaubte bitter. Selbst jetzt konnte der Wichser es nicht lassen, Spielchen zu spielen. Einen wahnwitzigen Moment lang fühlte er sich in die Vergangenheit zurückversetzt, zu den unzähligen spöttischen Wortgefechten, die sie ausgetragen hatten. Damals, als die Welt noch in Ordnung gewesen war.
Doch dies hier war kein Spiel. Dies war bitterer Ernst.
»Spar dir deinen Atem«, knurrte Roran und zerrte unsanft an Faelans Arm, um ihn auf die Beine zu hieven. »Wir müssen hier weg, bevor noch mehr einstürzt.«
Faelan lachte kehlig auf, ein Hall wie berstendes Glas. Widerwillig ließ er sich von Roran hochziehen, das Gesicht zu einer Grimasse verzerrt.
»Was, kein Dolch? Keine Vorwürfe?« Seine Stimme troff vor beißendem Spott. »Bei allen Höllen, bist du wirklich so erbärmlich, dass du nicht mal den Mumm hast, es zu Ende zu bringen?«
Roran erstarrte, die Finger um Faelans Oberarm verkrampft. Eine Ader pochte an seiner Schläfe, so heftig, dass er glaubte, sie müsste platzen. Wie konnte dieser elende Bastard es wagen, ihn zu provozieren, nach allem, was geschehen war? Nach allem, was er getan hatte?
Mühsam kämpfte er den Zorn nieder, der brodelnd in ihm aufstieg. Es hätte ein leichtes sein können, Faelan einfach fallen zu lassen, ihm den Schädel auf dem Pflaster einzuschlagen, bis ...
Nein. Er durfte sich nicht auf dieses Niveau herablassen. Nicht jetzt. Nicht hier, inmitten der Ruinen des Grauens, das sie gemeinsam entfesselt hatten.
»Ich habe den Mut«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, »verantwortlich zu sein.«
Damit schlang er sich Faelans Arm um die Schultern und schleifte ihn unsanft über den Schutt. Lange Minuten manövrierten sie schweigend durch die Trümmer, Rorans Kiefer so fest zusammengepresst, dass seine Zähne knirschten. Nur ihr keuchender Atem und das Knirschen von Steinen unter ihren Stiefeln durchbrachen die angespannte Stille.
Doch Faelan Grauauge wäre nicht Faelan, wenn er es dabei belassen hätte.
»Wie rührend«, spuckte er aus und feixte schief. »Der standhafte Kainit, Held wider Willen. Wenn ich nicht selbst dabei gewesen wäre, würde ich glatt glauben, du hättest mit der ganzen Scheiße nichts zu tun.«
Er lachte freudlos auf und verzog das Gesicht, als die Erschütterung seine gebrochenen Rippen malträtierte.
»Na los, Heiliger. Sag mir, was hast du jetzt vor? Die Schäfchen zusammentreiben und die gute alte Zeit hochleben lassen? Hm?«
Es war zu viel. Mit einem wütenden Aufschrei packte Roran den Anderen am Kragen und schleuderte ihn gegen ein angesengtes Hindernis. Faelans Kopf krachte gegen die Steine, ließ ihn aufstöhnen. Aber da war kein Funken Reue in seinem Blick, nur eine bösartige Genugtuung, als hätte er auf genau diese Reaktion gewartet.
»Bei allen beschissenen Höllen, Faelan!«, brüllte Roran, die Faust erhoben. »Ich sollte dich hier und jetzt erledigen für das, was du getan hast! Du hast uns alle verraten, du Scheißkerl, uns in den Untergang gestürzt mit deiner Gier und deinen Intrigen! Und wofür? Ein bisschen mehr Macht? Die Gunst eines Monsters? Antworte mir, du Bastard! War es das wert?!«
Faelan starrte ihn nur an, ein höhnisches Grinsen auf den blutigen Lippen.
»Oh, komm schon, Roran«, keuchte er. »Tu nicht so, als wärst du besser als ich.«
»Ich bin besser als du.«
»Ach? Wir beide wissen, dass du schuldig bist. Hast du nicht zugelassen, dass er deine
Tochter, wie du so sagst, auf diesem Altar geschändet hat? Hast du nicht tatenlos zugesehen, während sie uns alle in den Abgrund gerissen hat?«
Roran erstarrte, die Faust immer noch erhoben. Faelans Worte trafen ihn härter, als jeder Schlag es gekonnt hätte. Die Schuld, die er so verzweifelt verdrängt hatte, wallte mit aller Macht in ihm auf, drohte ihn zu ersticken.
Er taumelte zurück, plötzlich kraftlos. Seine Hand sank herab, als hätte man die Fäden einer Marionette durchtrennt.
»Ich ... ich wollte das nicht«, flüsterte er heiser, mehr zu sich selbst als zu Faelan. »Bei allen Göttern, ich wollte doch nur-«.
Aber was? Was hatte er gewollt? Morrigan beeindrucken? Helaena beschützen? Den Orden bewahren? Am Ende hatte er alles verloren, hatte sämtliches verraten, woran er einst geglaubt hatte.
Faelan lachte dunkel, wie splitterndes Eis.
»Du bist so erbärmlich, Roran«, spuckte er verächtlich aus. »So verloren in deiner eigenen Rechtschaffenheit, dass du die Wahrheit nicht siehst, selbst wenn sie direkt vor dir steht.«
Er richtete sich ächzend auf, eine Hand gegen die Mauer gestützt. Sein Blick bohrte sich in Roran, kalt und unbarmherzig.
»Es gibt keine Unschuld mehr, verstehst du das nicht? Keine Hoffnung, kein höheres Ziel. Das alles ist zu Staub zerfallen in dem Moment, als du zugelassen hast, dass sie deinen kleinen Hybriden auf diesen verfluchten Altar gezerrt haben.«
Jedes Wort traf Roran wie ein Peitschenhieb, ließ ihn innerlich zusammenzucken. Er wollte die Ohren verschließen, wollte Faelans Anschuldigungen zurückbrüllen. Aber er konnte nicht. Denn tief in seinem Inneren, in diesem dunklen, gequälten Teil seiner Seele, wusste er, dass Faelan recht hatte. Und das Schlimmste war, sie haben sie nicht gezerrt, sondern er hatte sie eigenhändig hingelegt, gefesselt, verraten.
Er hatte versagt. Ist allen abtrünnig geworden, die ihm am meisten bedeuteten. Helaena, Thorne, den Orden selbst. Er hatte zugelassen, dass das Böse triumphierte, weil er zu schwach gewesen war, zu feige, sich dem Unvermeidlichen entgegenzustellen.
Eine ganze Weile standen sie so da, Roran mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf, Faelan an die Mauer gelehnt wie ein lauerndes Raubtier. Nur ihr keuchender Atem durchbrach die Stille, vermischte sich mit dem leisen Knistern entfernter Feuer.
Schließlich stieß Roran einen langen, zittrigen Atemzug aus. Als er den Kopf hob, brannte eine düstere Entschlossenheit in seinen Augen.
»Du hast recht«, sagte er leise, die Stimme rau wie Sandpapier. »Ich habe versagt. Bei allen Höllen, ich habe so sehr versagt, dass ich nicht mal mehr weiß, wie ich je wieder gutmachen soll, was ich angerichtet habe.«
Er machte einen Schritt auf Faelan zu, das Gesicht eine Maske grimmiger Entschlossenheit.
»Aber eins weiß ich: Ich werde nicht aufgeben. Nicht, solange noch ein Funken Hoffnung besteht, dass Helaena am Leben ist. Und wenn ich die ganze verfluchte Welt absuchen muss - ich werde sie finden. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue.«
Faelans Augen verengten sich zu Schlitzen. Für einen Moment schien es, als wolle er widersprechen, als wolle er Roran erneut mit beißendem Spott überziehen. Doch dann, ganz langsam, verzog sich sein Mund zu einem schiefen, fast anerkennenden Grinsen.
»Na schön, Patron«, knurrte er. »Dann lass uns zusehen, dass wir hier rauskommen. Bevor uns noch das Dach auf den Kopf fällt oder Schlimmeres.«
Ohne ein weiteres Wort stieß er sich von der Mauer ab und humpelte an Roran vorbei, eine Hand auf die gebrochenen Rippen gepresst. Roran starrte ihm einen Moment lang nach, die Lippen zu einer harten Linie gedrängt.
Dann, mit einem letzten, gequälten Blick auf die Ruinen dessen, was einst sein Leben gewesen war, folgte er Faelan in die Dunkelheit der Gänge, ein gebrochener Mann auf der Suche nach dem letzten Funken Licht.
Ihre Schritte hallten unnatürlich laut von den rußgeschwärzten Wänden wider, als sie tiefer in die Eingeweide des zerstörten Blutgipfels vordrangen. Das flackernde Licht entfernter Feuer warf gespenstische Schatten auf die zerbrochenen Steinplatten, ließ sie erscheinen wie ein endloses Feld aus Grabsteinen. Der beißende Gestank von verbranntem Fleisch und geschmolzenem Metall hing schwer in der Luft, ließ ihre Augen tränen und ihre Kehlen kratzen.
Faelan führte sie durch ein Labyrinth aus eingestürzten Korridoren und zerbrochenen Treppen, ein grimmiger Heiliger auf dem Weg zur Verdammnis. Jeder Schritt schien ihn unsägliche Qualen zu bereiten, ließ ihn scharf die Luft einziehen und leise Flüche ausstoßen. Aber er hielt nicht an, trieb sich unerbittlich vorwärts wie ein Fisch, der gegen den Strom anschwamm.
Roran folgte ihm stumm, den Blick stur auf Faelans gebeugten Rücken gerichtet. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander, ein quälendes Kaleidoskop aus Schuld und Verzweiflung. Wie hatte er es nur soweit kommen lassen können? Hatte er nicht geschworen, Helaena zu beschützen, egal was kam? Hatte er nicht selbst dann noch an seine heilige Mission geglaubt, als die Welt um ihn herum in Scherben fiel?
Er ballte die Fäuste, so fest, dass seine Nägel blutige Halbmonde in seine Handballen gruben. Die Wut, die er so lange unterdrückt hatte, kochte in ihm hoch, vermischte sich mit dem bitteren Geschmack seiner Selbstverachtung. Er hasste sich selbst dafür, dass er so schwach gewesen war, so blind. Dass er nicht erkannt hatte, welch perfides Spiel vor seinen Augen stattfand. Er kannte Aldric, sein Leben lang. Wie konnte er nicht erkennen, dass es gar nicht sein Mentor war, welcher vor ihm stand?
Ein Teil von ihm wünschte sich, er könnte einfach aufgeben, sich in die Schatten verkriechen und der Welt den Rücken kehren. Aber er wusste, dass das nicht ging. Er schuldete es Helaena, weiter zu kämpfen. Und wenn es ihn zerstörte, Leib und Seele - er würde nicht ruhen, bis er sie gefunden und in Sicherheit gebracht hatte.
»Verdammt, Faelan«, knurrte er plötzlich, seine Stimme rau und brüchig. »Was genau ist hier passiert? Was war das für ein Ding, welches sich als Aldric ausgegeben hatte? Was hat er mit Helaena gemacht?«
Faelan stolperte kurz, fing sich aber rasch wieder. Für einen Moment glaubte Roran, er würde die Frage ignorieren, würde ihn einfach weiter durch die Trümmer hetzen, bis sie beide vor Erschöpfung zusammenbrachen. Aber dann blieb der Andere plötzlich stehen, so abrupt, dass Roran beinahe in ihn hineinlief.
Langsam drehte Faelan sich um, sein Gesicht eine Maske aus Schmerz und kaum verhüllter Wut.
»Was er gemacht hat?«, fragte er leise, seine Stimme ein dunkles Grollen. »Sie haben sie geopfert, Roran. Haben sie auf diesem verfluchten Altar aufgeschlitzt wie ein Lamm, um irgendeinen kranken Gott zu besänftigen.«
Roran erbleichte, stolperte rückwärts, als hätte Faelan ihm einen Schlag versetzt. Bilder blitzten vor seinem inneren Auge auf, schreckliche Visionen von Helaenas kleinem Körper, blutüberströmt und leblos.
»Nein«, hauchte er, die Augen vor Entsetzen geweitet. »Nein, das ist nicht ... das kann nicht-«.
Aber Faelan ließ ihn nicht ausreden.
»Weißt du, was das Schlimmste daran ist?«, flüsterte er, einen Schritt auf Roran zumachend. »Dass es nichts gebracht hat. All die Rituale, all das Blut - es war alles umsonst. Was immer sie damit beschwören wollten, es war zu mächtig, zu dunkel. Es hat sie verschlungen, jeden Einzelnen von ihnen.«
»Sie? Aldric, also ... das Ding, welches Aldric perludierte, war allein mit mir.«
Er lachte, ein bitterer, freudloser Laut.
»Andere Kainiten, Brüder von uns. Dieses Monster konnte sie sofort um den Finger wickeln. Haben seine Drecksarbeit erledigt und in den Schatten gelauert, bis du dem Wahnsinn verfallen bist. Und weißt du was? Sie haben es verdient. Jeder einzelne dieser verfluchten Bastarde hat bekommen, was er verdient hat. Aber Thorne-«.
Seine Stimme brach, erstickt von einer Welle roher Emotion. Roran starrte ihn an, unfähig zu begreifen, was er da hörte. Faelan, der eiskalte Zyniker, der Mann ohne Gewissen - hatte er tatsächlich Mitleid? Oder war es Wut?
»Faelan ...«, begann Roran zögernd, aber der andere schüttelte nur den Kopf.
»Lass es, Roran«, knurrte er und fuhr sich ruckartig durch sein schwarzes Haar, warf es über die Schulter. »Wo das Blut endet, beginnen wir. Und das von denen, endete heute.«
Ein schiefes, verachtendes Grinsen verzerrte seine Lippen.
»Und jetzt beweg deinen Arsch. Wir müssen hier raus, bevor die Decke runterkommt und uns erneut alle unter sich begräbt.«
Ohne ein Weiteres wandte er sich ab und humpelte weiter, seine Schritte noch entschlossener als zuvor. Roran zögerte einen Moment. Seine Worte ... er kannte sie.
Hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, mehr zu erfahren und der Notwendigkeit, vorwärtszukommen, stockte er, bis schließlich die Vernunft siegte.
Sie waren noch nicht weit gekommen, als ein markerschütternder Schrei die Stille zerriss. Beide Kainiten erstarrten gleichzeitig, ihre Blicke trafen sich in stummem Entsetzen.
»Was zum-«, begann Roran, aber Faelan brachte ihn mit einer harschen Geste zum Schweigen.
»Still!«, zischte er und spannte sich an wie eine Raubkatze kurz vor dem Sprung. »Hörst du das?«
Roran lauschte angestrengt, den Atem angehalten. Und da war es wieder - ein gequältes Stöhnen, kaum hörbar über dem leisen Knistern entfernter Feuer. Es kam von irgendwo vor ihnen, hinter einer Biegung des Ganges.
Mit wild klopfendem Herzen tauschte Roran einen Blick mit Faelan, jener grimmig nickte, eine stumme Bestätigung dessen, was sie beide dachten.
Jemand hatte überlebt.
Jeder Muskel war zum Zerreißen gespannt, während sie sich den Gang entlang schlichen. Das Klagen wurde lauter, vermischt mit einem seltsamen Raspeln, als würde jemand verzweifelt versuchen, sich durch Geröll zu graben.
Miteins weitete sich der Gang zu einer kleinen Kammer, einer Brutstätte der Verwüstung. Zerborstene Möbel und zerfetzte Wandteppiche lagen verstreut wie die Eingeweide eines geschlachteten Tieres. Und dort, halb begraben unter einem Berg aus Schutt und Asche, ragten Finger hervor.
Die blutverschmierte Hand krümmte sich schwach, wie die Klaue eines sterbenden Vogels. Ein unmenschlicher Laut drang unter den Trümmern hervor, irgendwo zwischen einem Schluchzen und einem abwürgten Schrei.
Roran und Faelan tauschten einen kurzen Blick, schweigsame Übereinkunft zwischen ihnen. Dann stürzten sie gleichzeitig vor, griffen nach Steinen und Balken und schleuderten sie beiseite. Mit bloßen Händen gruben sie, rissen sich die Fingernägel an scharfen Kanten auf, ignorierten das heiße Blut, das ihre Handflächen heruntertropfte.
»Halt durch!«, keuchte Roran, seine Stimme heiser vor Anstrengung. »Wir holen dich raus, wer immer du bist. Halt einfach durch!«
Faelan sagte nichts, aber seine Kiefermuskeln mahlten, als er mit grimmiger Entschlossenheit einen besonders schweren Steinbrocken beiseite wuchtete. Für einen flüchtigen Moment trafen sich ihre Augen über dem Schutthaufen. Was auch immer zwischen ihnen gestanden hatte, welche Konflikte sie ausgetragen hatten - in diesem Augenblick zählte nur eines: Leben zu retten.
Mit einem verbliebenen, deprimierten Ruck schleuderte Roran den letzten Balken beiseite - und versteinerte. Dort, eingebettet in eine Mulde aus Asche und Splittern, lag eine Gestalt, nun klar sichtbar. Blutüberströmt, die Kleidung zerrissen und versengt, aber unverkennbar.
»Thorne«, hauchte er, die Augen vor Entsetzen geweitet. »Bei Blute des Ersten, Thorne!«
Er stürzte nach vorn, fiel neben seinem Freund auf die Knie. Mit zitternden Fingern tastete er nach einem Puls, hoffte gegen jede Vernunft auf ein Lebenszeichen. Sekundenlang geschah nichts, eine Ewigkeit, in der Rorans Herz zu Eis gefror. Dann, schwach wie das Flattern eines Schmetterlings, spürte er es. Ein Pulsschlag, kaum mehr als ein Flüstern unter der kalten Haut.
»Er lebt«, krächzte er, beinahe lachend vor Erleichterung. »Faelan, er lebt!«
Der Angesprochene trat näher, das Gesicht eine Maske aus Schock und Unglauben.
»Verdammte Scheiße«, murmelte er und starrte auf Thornes reglosen Körper herab. »Wie ist das möglich? Er hätte längst tot sein müssen. So wie-«, er brach ab, schluckte schwer.
»-so wie sie alle«, vollendete Roran den Satz, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. »Bei den Göttern, Faelan. Das ist ein Wunder.«
Faelans Miene verdüsterte sich.
»Oder ein Fluch«, murmelte er und deutete auf Thornes Brust. »Sieh ihn dir an, Roran. Wirklich an.«
Der Weiße folgte seinem Blick, erst verwirrt, dann mit wachsendem Grauen. Thornes Brust war eine einzige klaffende Wunde, ein groteskes Loch, das direkt in die blutigen Tiefen seines Thorax führte. Dort, wo einst sein Herz geschlagen hatte, pulsierte nun ein schwarzer Klumpen, verkohlt und schimmernd wie Pech.
Roran schluckte, kämpfte gegen die plötzliche Übelkeit an. Das war unmöglich. Kein Geschöpf konnte so eine Verletzung überleben. Und doch lag Thorne hier, atmete noch immer. Wenn auch schwach und rasselnd, wie eine kaputte Pfeife.
»Was ... was ist das?«, flüsterte er erstickt, die Augen unverwandt auf das groteske Loch gerichtet. »Bei allen Dämonen, Faelan. Was hat sie ihm angetan?«
Faelan schüttelte den Kopf, seine Miene eine Mischung aus Abscheu und widerwilliger Faszination.
»Ich weiß es nicht«, gestand er leise. »Aber was immer es ist - es hält ihn am Leben. Oder zumindest etwas, das wie Leben aussieht.«
Er beugte sich vor, betrachtete die pechschwarze Masse eingehender. Ein unheiliges Glühen schien von ihr auszugehen, ein pulsierendes Leuchten, das in einem abscheulichen Rhythmus schlug. Fast, als hätte es seinen eigenen, verdorbenen Herzschlag.
Einen Moment lang schwiegen sie beide, starrten nur auf ihren gefallenen Kameraden herab. Ein Teil von Roran wollte schreien, wollte toben und fluchen und irgendetwas zerschlagen. Aber ein anderer, weitaus größerer Teil fühlte nur eine bleierne Müdigkeit. Er war es so leid, immer wieder zu verlieren, immer wieder zusehen zu müssen, wie die Schatten alles verschlangen, was ihm lieb und teuer war.
Schließlich hob er den Kopf, suchte Faelans Blick. Der Andere erwiderte ihn, die Augen hart und unnachgiebig in dem blutigen Chaos seines Gesichts.
»Wir können ihn nicht hier lassen«, sagte Roran leise, jedes Wort wie Glas in seiner Kehle. »Egal, was mit ihm passiert ist - er ist einer von uns. Wir müssen ihn mitnehmen, müssen herausfinden, was dieses ... Ding seiner Brust, ist.«
Einen endlos langen Moment schwieg Faelan, sein Blick unergründlich. Dann, ganz langsam, nickte er.
»In Ordnung«, sagte er rau. »Aber ich sage dir gleich, Roran - das gefällt mir nicht. Das alles hier«, er machte eine vage Geste, die Thornes verkrüppelten Körper und die rauchenden Trümmer gleichermaßen einschloss, »ist nicht natürlich. Was immer hier passiert ist, es ist größer als wir beide. Größer noch als dieser ganze verfluchte Drecksorden dieser Monster.«
Roran erwiderte nichts darauf. Er konnte nicht, selbst wenn er gewollt hätte. Seine Kehle war wie zugeschnürt, erstickt von der Wucht seiner eigenen Emotionen. Stattdessen beugte er sich nur vor und schob die Arme unter Thornes Körper, hievte seinen Freund mit einem unterdrückten Stöhnen hoch. Thorne war schwer, so unnatürlich bleiern für seine sehnige Gestalt. Der Narbige hing klobig und entseelt in Rorans Armen, das Haupt auf die Brust gesunken wie das einer Marionette, jener man die Fäden durchgeschnitten hatte. Sein Atem ging flach und rasselnd, mehr ein feuchtes Gurgeln als ein wirkliches Luftholen.
Mit zusammengebissenen Zähnen richtete Roran sich auf, wankte leicht unter der Last. Der dunkle Kainit beobachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen, die Lippen zu einer harten Linie gepresst.
»Lass mich das machen«, sagte er schließlich rau und trat vor. »Du siehst aus, als würdest du jeden Moment zusammenklappen. Bist viel zu schwach dafür.«
Roran schüttelte stur den Kopf, zog Thorne nur noch enger an sich. Er konnte seinen Gefährten jetzt nicht loslassen, nicht nach allem, was passiert war. Wenn er ihn jetzt aus den Armen ließ, fühlte es sich an, als würde er ihn im Stich lassen. Erneut.
Faelan machte Anstalten zu widersprechen, aber ein Blick auf Rorans Miene ließ ihn innehalten, ehe er nur knapp nickte und sich zum Gehen wandte.
»Leg nen Zahn zu«, knurrte er über die Schulter. »Wir müssen hier raus, bevor noch mehr Trümmer runterkommen.«
Der Weiße folgte ihm stumm, den reglosen Körper seines Freundes an sich gepresst wie ein Kind seine liebste Puppe. Jeder Schritt war eine Qual, ließ die Muskeln brennen und seine Lungen schmerzhaft gegen Rippen pressen. Aber er machte unbeirrt weiter, trieb sich vorwärts durch pure Willenskraft.
Es waren keine hundert Schritte, als Thorne plötzlich in seinem Griff zu zucken begann. Ein Stöhnen drang über seine aufgeplatzten Lippen, kaum lauter als ein Windhauch. Roran erfror, wagte, kaum zu atmen.
»Thorne?«, flüsterte er stranguliert, die Stimme rau vor unterdrückter Emotion. »Bei allen Göttern, Thorne, kannst du mich hören?«
Der Krieger stöhnte erneut, warf den Kopf hin und her wie in einem Fiebertraum. Seine Augenlider flatterten, gaben den Blick auf zwei blutunterlaufene, irre Augen frei, obgleich das eine blind war.
»A ... Asche«, krächzte er, kaum verständlich. »Asche ... überall ...«.
Ungelenk sah Roran zu Faelan, der innegehalten hatte und die Szene mit unleserlicher Miene beobachtete.
»Er fantasiert«, sagte Roran bezwungen. »Fiebert vielleicht. Wir müssen ihn hier raus schaffen, Faelan. Schnell.«
Doch der Narbige war noch nicht fertig. Die Hand schoss hoch, krallte sich mit überraschender Kraft in Rorans Wams.
»Der ... Flügel ...«, keuchte er, jedes Wort ein gequältes Luftholen. »Wie ... der Himmel-«.
Dann, so plötzlich, wie es begonnen hatte, erschlaffte sein Körper, sackte nicht seiend in den Armen seines Bruders zusammen. Nur das schwache Heben und Senken seiner Brust zeigte, dass er überhaupt noch am Leben war.
Mit wild klopfendem Herzen starrte Roran auf seinen Freund hinab, suchte in dem zerschundenen Gesicht nach irgendeinem Anzeichen, irgendeiner Erklärung für diese kryptischen, fiebrigen Worte. Aber da war nichts als stille Qual, eingebrannt in jede Falte, jede blutige Schramme.
»Der Bastard ist dem Tod näher als dem Leben«, murmelte Faelan, halb zu sich selbst. Seine Stimme klang rau, fast zittrig. »Ein scheiß Flügel? Wovon redet der da?«
Roran schüttelte nur den Kopf, zu erschüttert, um eine Antwort zu formulieren. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander, trübe und zähflüssig wie Gift. Asche und Schwinge wie der Himmel - was sollte das bedeuten? Waren das einfach nur die Hirngespinste eines Sterbenden, geboren aus Schmerz und Fieberwahn? Oder steckte mehr dahinter, eine verborgene Botschaft, ein letzter verzweifelter Hinweis?
Er wusste es nicht. Und wenn er ehrlich zu sich selbst war, wagte er kaum, darüber nachzudenken. Zu dunkel waren die Abgründe, die sich in diesen Worten auftaten, zu tief die Schatten, die sie heraufbeschworen. Nein, jetzt war nicht die Zeit für Grübeleien und düstere Ahnungen. Jetzt galt es, einen Fuß vor den anderen zu setzen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren: Überleben.
»Wir müssen weiter«, sagte er heiser, mehr zu sich selbst als zu Faelan. »Thorne braucht Hilfe, so schnell wie möglich. Tränke, Leinen, einen Heiler ... irgendwas. Sonst schafft er es nicht.«
Faelan nickte grimmig, seine Kiefermuskeln mahlten, als müsse er physisch die Worte zerbeißen, bevor er sie aussprechen konnte.
»Dann komm in die Pötte«, knurrte er. »Je länger wir hier rumstehen und Löcher in die Luft starren, desto geringer sind seine Chancen.«
Ohne ein weiteres Wort fuhr er zurück und humpelte vorwärts, die Zähne zusammengebissen gegen den Schmerz, der bei jedem Schritt durch seinen geschundenen Leib fuhr. Nach einem letzten, gequälten Blick auf Thornes entstelltes Gesicht folgte Roran ihm, den kostbaren Ballast fest an sich gepresst.
Keiner von beiden sprach aus, was sie beide dachten. Dass Thornes Überlebenschance selbst dann gering war, wenn sie hier rauskamen. Dass das, was auch immer mit ihm geschehen war, weit jenseits ihrer Fähigkeiten als lag, selbst für einen Heiler. Denn dies hier war keine gewöhnliche Verletzung, kein Schwerthieb oder Pfeilschuss, den man mit Kräutern und sauberen Verbänden behandeln konnte.
Dies war etwas anderes. Etwas Dunkleres, Bösartigeres. Etwas, das von jenseits des Schattens zu kommen schien, durchdrungen von einer Macht, die ebenso alt war wie der Tod selbst.
Und tief in ihrem Inneren, in den finstersten Winkeln ihrer Seelen, wussten sie es.
Ihr Weg führte sie tiefer und tiefer in die Eingeweide des zerstörten Blutgipfels, vorbei an einstürzenden Mauern und qualmenden Trümmerhaufen. Die Luft wurde dicker, erstickt vom Gestank nach verbranntem Fleisch und geschmolzenem Stein. Jeder Atemzug brannte in ihren Lungen, kratzte in ihren Kehlen wie glühende Asche.
Roran stolperte vorwärts wie ein Betrunkener, halb blind vor Erschöpfung und Schmerz. Thornes Gewicht zerrte an ihm, drohte ihn in die Knie zu zwingen. Doch er hielt eisern durch, trieb sich weiter an durch schiere Willenskraft und die nagende Angst um das Leben seines Bruders.
Faelan humpelte ein paar Schritte voraus, eine dunkle Silhouette gegen den rötlichen Schein der schwelenden Feuer. Seine Schritte waren unsicher, sein Atem kam in gequälten Stößen. Aber er beschwerte sich nicht, drängte unbeirrt weiter durch die Trümmer wie ein verwundeter Wolf, jener seine letzte Schlacht schlägt.
Ab und zu warf er einen Blick über die Schulter, taxierte Roran und seine leblose Bürde mit zusammengekniffenen Augen. War es Sorge, die da über sein zerschundenes Gesicht huschte? Oder Ungeduld, gepaart mit kaum verhüllter Frustration? Roran vermochte es nicht zu sagen. In jenem Moment war ihm auch egal. Alles, was zählte, war den nächsten Schritt zu machen. Und dann den Übernächsten. Weiter, immer weiter, bis sie einen Ausweg fanden. Oder ihr unausweichliches Ende.
»Sch-Scheiße!«, keuchte Faelan plötzlich und stolperte gegen eine halb eingestürzte Wand. »Ich kann nicht mehr ... ich brauche ... eine Pause ...«
Schwer atmend ließ er sich zu Boden gleiten, die Hände aufs Kniegelenk gestützt. Sein Gesicht glänzte schweißnass im flackernden Licht, jede Linie eine Landkarte aus Pein und Erschöpfung.
»War diese verfickte Festung schon immer so groß?«
Zögernd blieb Roran stehen, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, endlich hier rauszukommen, Thorne in Sicherheit zu bringen, und der bitteren Erkenntnis, dass auch seine Kräfte am Ende waren. Mit einem unterdrückten Stöhnen ließ er seine Bürde vorsichtig zu Boden gleiten, lehnte ihn behutsam gegen einen umgestürzten Steinquader. Dann fiel er schwer daneben, jeder Muskel seines Körpers schrie vor Anstrengung und Schmerz.
Eine Weile saßen sie einfach nur da, zwei gescheiterte Krieger inmitten der rauchenden Ruinen ihres Lebens. Ihre raschen, flachen Schnaufer vermischten sich mit dem leisen Knistern entfernter Feuer, dem gelegentlichen Poltern herabstürzender Trümmer.
Roran hätte die Augen schließen können, sich für einen Moment der Illusion von Frieden hingeben. Aber er wagte es nicht, fürchtete die Bilder, die hinter seinen Lidern lauerten. Stattdessen starrte er nur blicklos geradeaus, den Geist leer und ausgehöhlt wie die zerborstenen Mauern um sie herum.
Es war Faelan, jener schließlich die Stille durchbrach, den Ton so rau und brüchig wie verkohltes Holz.
»Was machen wir jetzt, du Held?«, fragte er, mehr ein Krächzen als ein wirklicher Satz. »Wo sollen wir hin, selbst wenn wir hier lebend rauskommen? Der Orden ... die Bruderschaft ... sie werden uns jagen wie Tiere. Und mit dem Krüppel hier-«, er nickte zu Thornes regloser Gestalt, »kommen wir nicht weit. Er braucht Hilfe, Roran. Mehr als wir ihm geben können. Wenn es überhaupt eine gibt. Schau dir den Dreckskerl doch mal an!«
Roran schluckte, seine Kehle plötzlich eng und schmerzhaft. Faelan hatte recht, so sehr es ihn auch schmerzte, das zuzugeben. Sie waren Krieger, keine Heiler. Was auch immer mit Thorne geschehen war, es ging weit über ihr Verständnis hinaus. Und selbst wenn sie ihn irgendwie am Leben erhalten konnten - wohin sollten sie sich wenden? Wem konnten sie noch vertrauen nach alldem?
Er dachte an Helaena, sein armes, zerbrechliches Mädchen. Er hatte sie noch nicht gefunden. War sie in Sicherheit, wie durch ein Wunder? Oder trieb sie als verlorene Seele durch die Finsternis? Tod? Entführt? Vielleicht lag sie auch unter den Trümmern ... Der Gedanke schnitt ihm ins Herz wie ein rostiges Messer.
»Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich leise, die Stimme erstickt von all den Emotionen, die in ihm tobten. »Kain steh mir bei, Faelan, ich weiß es nicht. Alles, was ich weiß, ist, dass wir Thorne nicht aufgeben können. Nicht nach allem, was passiert ist. Er würde dasselbe für uns tun.«
Faelan lachte bitter auf, ein Laut wie splitterndes Glas.
»Würde er das?«, fragte er und verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die wohl ein Grinsen sein sollte. »Würde er wirklich? Oder würde er tun, was vernünftig ist und seine Haut retten, solange er noch kann? Glaubst du wirklich, er will so leben? Schau ihn dir an, man!«
Er schüttelte den Kopf, plötzlich erschöpft bis ins Mark seiner Knochen.
»Du bist so egoistisch, Roran. So verdammt verblendet von deiner eigenen Rechtschaffenheit. Siehst du denn nicht, dass das alles hier«, er machte eine vage Geste, die Thornes verkrüppelten Körper und die rauchenden Trümmer gleichermaßen einschloss, »sinnlos ist? Wir können ihn nicht retten. Genauso wenig wie wir deine Tochter retten konnten. Oder uns selbst.«
Die Worte hingen schwer und bitter zwischen ihnen, ein Urteil und eine Anklage zugleich. Roran spürte, wie sich etwas in seiner Brust zusammenzog, ein scharfer, klagender Schmerz. Hatte Faelan am Ende doch recht? War das alles nur eine Farce, eine Jagd nach Windmühlen in einer Welt, die längst verloren war?
Seine Augen irrten zu Thorne, ruhten auf dem zerschundenen Gesicht seines Freundes. So bleich und leblos wie das einer Porzellanpuppe, jeder Zug eine Maske aus Schmerz und Qual. Konnte er es wirklich verantworten, ihn durch diese Hölle zu schleifen, ohne zu wissen, ob es überhaupt eine Rettung gab? Wäre es nicht gnädiger, es hier und jetzt zu beenden?
Seine Hand glitt zu dem Dolch an seinem Gürtel, umfasste den Griff mit zitternden Fingern. Es wäre so einfach. Ein schneller, sauberer Schnitt und Thornes Leiden wäre vorbei. Vielleicht wäre es sogar das, was sein Bruder gewollt hätte, wenn er noch bei Bewusstsein wäre. Ein Ende in Würde, frei von Schmerz und Qual.
Mittendrin stieg ein anderes Bild in ihm auf, so klar und lebendig, als würden sich die Schatten vor seinen Augen zurückziehen. Helaena, wie sie neben Thorne kauerte, die kleinen Hände um sein missgestaltetes Gesicht gelegt und ihr Blick, trotz all der Dunkelheit voller Hoffnung und Zuneigung.
»Wach auf, Mond«, flüsterte sie, und in Rorans Innerem schienen sich zwei Stimmen zu überlagern - die seiner Tochter und seine eigene, ein Echo seiner tiefsten Sehnsüchte. »Wach auf. Lass mich nicht allein.«
Mit einem abwehrenden Hall zog Roran die Hand von seinem Dolch zurück, als hätte er sich verbrannt. Nein. Nein, er konnte es nicht tun. Er konnte Thorne nicht aufgeben, so wie er Helaena nicht aufgegeben hatte. Nicht, solange noch ein Hauch von Hoffnung bestand.
»Wir gehen zurück«, sagte er heiser, und in seiner Stimme schwang eine Entschlossenheit mit, jene er selbst nicht für möglich gehalten hätte. »Zurück zu den Ruinen des Rituals. Die Kammer. Sie muss dort sein. Sie muss. Und vielleicht, liegt dort etwas, was Thorne helfen kann.«
Einen Moment lang schwieg Faelan, sein Gesicht unleserlich im flackernden Zwielicht, ehe all seine Züge entgleisten.
»Willst du mich verarschen?«
»Nein. Wir gehen.«
»Roran, sie ist ... Verdammt nochmal, was willst du finden? Glaubst du, sie liegt dort wie Schneewittchen und wartet, dass ihr Prinz kommt?«
Roran schluckte stark und kräftige Adern säumten seinen Hals.
»Wir gehen.«
Dann, ganz langsam, schlich sich ein schiefes Grinsen auf Faelans Lippen.
»Ich hätte es wissen müssen«, schnaubte er und schüttelte den Kopf. »Roran, der heilige Held, gibt niemals auf. Selbst wenn ihm die Hölle persönlich ins Gesicht lacht.«
Schwerfällig stemmte er sich hoch, unterdrückte ein Stöhnen, als seine gebrochenen Knochen protestierten.
»Also gut, du Hurensohn«, knurrte er und wischte sich ein Rinnsal aus Blut und Schweiß vom Kinn. »Auf in den Abgrund. Aber beschwer dich nicht, wenn wir am Ende alle in der Scheiße ertrinken.«
Roran erwiderte nichts darauf. Stattdessen beugte er sich nur vor und hob Thorne erneut hoch, biss die Zähne zusammen gegen die Pein, welche durch seinen erschöpften Leibe fuhr.
Kein Wort verließ ihre Lippen, aber die Eingebung hing zwischen ihnen wie giftiger Nebel. Diese Ruinen mochten vielleicht Antworten bergen. Aber ebenso gut konnten sie ihr Grab werden - die letzte Ruhestätte dreier verlorener Seelen, verbrannt und vergessen in den Trümmern ihrer eigenen Sünden. Denn in Schatten und Asche gab es keine Helden mehr. Nur das Echo der Verdammten - und jene, die noch nicht wussten, dass sie bereits verloren waren.
Die Rückkehr zu der Kammer des Rituals war wie ein Abstieg in die Hölle selbst. Mit jedem Fuß, welchen sie tiefer in die finsteren Eingeweide des Blutgipfels vordrangen, schien die Luft dicker zu werden, drosselnd von beißenden Ausdünstungen nach verbranntem Fleisch und geschmolzenem Stein. Die Wände schienen sich, um sie zusammenzuziehen, ein lebendes, atmendes Ding, das darauf aus war, sie zu verschlingen.
Schließlich erreichten sie die Kammer, ein Herzstück der Verwüstung. Hier hatte alles begonnen - und geendet. Die Brise war durchdrungen vom Geruch der Magie, einer fauligen Süße, jene an verdorbenes Obst erinnerte. Mauern waren mit bizarren Symbolen übersät, halb verborgen unter Ruß und Blut. Und dort, in der Mitte des Raumes, ragte der Altar auf, ein bedrohlicher Monolith inmitten eines Meeres aus Schutt und Asche.
Erstickt ließ Roran Thorne zu Boden gleiten, lehnte ihn vorsichtig gegen einen umgestürzten Steinquader. Dann, ohne ein weiteres Wort, begann er zu suchen. Seine Hände gruben sich in die Trümmer wie die Klauen eines Tieres, rissen Geröll und Gesteinsbrocken beiseite. Asche wirbelte auf, hüllte ihn ein in eine erstickende Wolke aus Staub und Verzweiflung.
»Helaena«, keuchte er, die Stimme ein heiseres Flüstern. »Helaena, komm raus. Bitte.«
Seine Bewegungen wurden hektischer, animalischer.
»Komm raus, Gör. Spiel beendet ... Du hast gewonnen. Ich bin nicht böse.«
Aber so sehr er auch suchte, so verzweifelt er auch in den Trümmern wühlte - er fand nichts. Keine Spur von dem Kind, das er geschworen hatte zu beschützen. Keine Antwort auf seine immer verzweifelter werdenden Schreie.
»Helaena!«
Irgendwann, nach einer Zeit, jene nur Götter selbst vernahmen, gaben seine Knie nach. Mit einem gequälten Schluchzen brach er inmitten der Verwüstung zusammen, die Hände blutig und zerschunden. Tränen strömten über sein rußverschmiertes Gesicht, gruben helle Furchen in den Schmutz auf seinen Wangen.
»Sie ist nicht hier«, flüsterte er gebrochen. »Faelan ... sie ist nicht hier.«
Der dunkle Kainit gab ein abfälliges Schnauben von sich, ein Laut irgendwo zwischen Verachtung und widerwilliger Anteilnahme.
»Natürlich ist sie das nicht, du Narr«, knurrte er und hockte sich schwerfällig neben Roran. »Dachtest du wirklich, du würdest sie hier finden? Heil und gesund, nur darauf wartend, dass ihr Held sie aus der Asche aufliest?«
Er schüttelte den Kopf, plötzlich unendlich müde.
»Sieh dich doch um, Roran. Sieh hin und sag mir, was du siehst.«
Mit einer vagen Geste deutete er auf die Trümmer um sie herum, die verkohlten Knochen und verstreuten Körperteile, die aus dem Schutt ragten wie makabere Pilze.
»Sie ist tot, Roran. Verbrannt zu Staub oder zerfetzt und verstreut, vermischt mit all den anderen, die in diesem verfluchten Ritual gestorben sind. Es gibt nichts mehr zu retten. Nichts außer Elend und Gerippe.«
Roran wiegelte wild das Haupt, wollte die grausame Realität in Faelans Worten nicht akzeptieren.
»Nein!« Mit einem heiseren Aufschrei stürzte er sich erneut in die Trümmer, grub und zerrte wie ein Besessener. Steine flogen zur Seite, prallten gegen die Wände oder zersprangen am Boden zu scharfkantigem Kies. Einer der Brocken traf Faelan am Arm, entlockte ihm einen überraschten Schmerzensschrei.
»Verdammte Scheiße, Roran!«, fauchte er und rieb sich die schmerzende Stelle. »Hör auf damit, bevor du noch das ganze verfluchte Ding über uns zum Einsturz bringst!«
Aber der Weiße hörte nicht, grabschte nur weiter blindlings in den Ruinen herum. Die silbernen Augen weit aufgerissen, die Pupillen zu winzigen Punkten zusammengezogen. Ein wahnhaftes Glühen lag in seinem Blick, der Widerschein eines Geistes, der kurz davor stand, endgültig zu zerbrechen.
Mit einem wütenden Knurren packte Faelan seinen Gefährten am Oberarm, riss ihn grob zurück.
»Es reicht, hörst du?«, schrie er und schüttelte Roran wie einen räudigen Köter. »Sie ist weg, kapiert? Weg! Tot! Verstanden? Tot! Und kein Wühlen in der Asche wird sie zurückbringen!«
Einen endlosen Moment starrte Roran ihn nur an, die Lippen bebend, die Augen glänzend vor ungeweinten Tränen. Dann, ganz langsam, sackte er in sich zusammen.
»Ich kann nicht ...«, flüsterte er bezwungen, ein gebrochener Mann inmitten der Ruinen seiner Hoffnungen. »Faelan, ich kann einfach nicht ...«
Der andere seufzte schwer, plötzlich erschöpft bis ins Mark seiner Knochen. Einen bizarren Augenblick lang sah es so aus, als wollte er nach Roran greifen, ihn vielleicht trösten oder aufrichten. Aber dann ballte er nur die Hände zu Fäusten, als müsse er sich physisch davon abhalten, Mitgefühl zu zeigen.
»Habe ich verstanden«, sagte er leise, kaum hörbar über dem leisen Knistern der Flammen. »Aber wir haben jetzt keine Zeit für deine beschissene Trauer oder Selbstmitleid. Wir müssen hier raus und auch noch diesen Krüppel an die Oberfläche bringen, bevor wir zu blutiger Pampe werden, wie der Rest!«
Wie zur Bestätigung seiner Worte ertönte ein dumpfes Grollen, gefolgt von einem Schauer aus Staub und Kies. Die Wände ächzten und stöhnten, ein klagendes Echo in der Stille.
Roran hob den Kopf, blinzelte träge wie ein Mann, der aus einem tiefen Traum erwacht. Sein Blick irrte ziellos umher, über zerborstene Säulen und gestürzte Statuen, nutzlose Trümmer eines blinden Krieges. Bis er schließlich an etwas hängen blieb, einer kaum sichtbaren Anomalie im Chaos der Zerstörung.
Dort, halb verborgen hinter einem gewaltigen Granitblock, schimmerte etwas in der Dunkelheit. Ein rechteckiger Umriss, zu präzise und symmetrisch, um natürlichen Ursprungs zu sein. Eine Tür, beinahe nahtlos eingelassen in die schwarze Wand.
Mit einem Anstoß kam Roran auf die Füße, jähe Energie pulsierte durch seine Adern. Ohne sich zu besinnen, stürzte er vorwärts und warf sich mit aller Kraft gegen den Steinblock. Faelan schrie etwas, eine Warnung oder ein Fluch, aber die Worte gingen unter im dröhnenden Lärm berstenden Gesteins.
Der Granitblock erzitterte, wankte, schwankte auf seinem Fundament. Für einen schwindelerregenden Moment schien die Zeit stillzustehen, gefangen zwischen Herzschlag und angehaltenem Atem. Dann, mit einem ohrenbetäubenden Krachen, kippte der monströse Brocken zur Seite, zerschmetterte zu einem Haufen aus Kies und Staub.
Es offenbarte eine Öffnung, pechschwarz und bodenlos wie der Schlund zur Hölle selbst.
Faelan starrte fassungslos auf das Loch in der Wand, den Mund halb geöffnet zu einem erstickten Protest. Doch Roran schenkte ihm keine Beachtung. Wie ein Nachtwandler taumelte er auf den Durchgang zu, die Augen glasig vor verzweifelter Entschlossenheit.
Für einen langen Moment standen sie einfach nur da, zwei gebrochene Burschen am Rande eines Abgrunds. Dust und Anderes rieselten von der Decke, verfingen sich in ihren Haaren und Kleidern wie der Schnee eines perversen Winters.
Schließlich war es der Weiße, jener sich als Erster in Bewegung setzte. Mit langsamen, schlurfenden Schritten trat er über die Schwelle, in den Schlund der Dunkelheit. Faelan folgte zögernd, jeder Muskel seines geschundenen Körpers vor Anspannung bebend.
Der Raum, welcher sich vor ihnen auftat, war klein und schäbig, kaum mehr als eine geeignetere Besenkammer. Die Luft war muffig und abgestanden, von altem Schmutz und längst verwitterten Geheimnissen. Unförmige Schatten türmten sich an den Wänden, ein unüberschaubares Durcheinander aus verstaubten Regalen und zerbrochenen Kisten.
»Bei der Fotze der mächtigen Terra«, murmelte Faelan und kickte ein verbeultes Metallteil beiseite. Es schlingerte über den unebenen Boden, prallte scheppernd gegen einen umgestürzten Schrank. »Was ist das hier? Die Kammer der Verdammnis?«
Roran antwortete nicht. Wie ein Geist glitt er durch die Trümmer, die Augen leer und ausdruckslos. Beinahe liebevoll strichen seine Finger über verstaubte Folianten und zerbrochenes Glas, als könne er durch bloße Berührung ihre längst vergessenen Geschichten entschlüsseln.
Schlagartig hielt er inne, der Körper zum Zerreißen gespannt. Dort, halb verborgen unter einem Haufen verrotteter Leinenfetzen, schimmerte etwas im trüben Licht. Eine Kiste aus dunklem Holz, die Oberfläche mit fremdartigen Runen verziert.
Mit einem erstickten Laut stürzte Roran darauf zu, warf Tücher und Schutt beiseite, bis er den Deckel fassen konnte. Seine Hände zitterten, als er die Kiste öffnete, halb erwartend, halb fürchtend, was er darin finden würde.
Im ersten Moment war da nichts als Düsterheit, tiefer und undurchdringlicher als die schwärzeste Nacht. Dann fiel ein einzelner Lichtstrahl in die Kiste und enthüllte ihren Inhalt - ein wirres Durcheinander aus Knochen und verwittertem Metall, überzogen von einer Schicht feinsten Staubs.
Roran hielt inne, die Augen vor Verwirrung geweitet. Mit zitternden Fingern hob er einen der Knochen hoch, drehte ihn ungläubig im schwachen Licht. Ein Totenschädel starrte ihn an, die leeren Augenhöhlen wie ein Sog in die Leere. Auf der Stirn prangte ein Symbol, eingebrannt ins vergilbte Elfenbein - ein siebenstrahliger Stern, umgeben von einem Kranz aus verschlungenen Ranken.
»Oh, das ist ein neuer Fetisch« Faelan trat näher, die Augen schmal vor Misstrauen. »Ist das ... eine Gravur? Meine Güte, so ... schön pervers.«
Roran schüttelte stumm den Kopf, zu schockiert, um zu antworten. Sein Blick wanderte zurück in die Truhe, huschte über die restlichen Knochen und Metallteile. Jedes einzelne Stück war auf dieselbe Art markiert, ein makabres Muster aus Sternen und Ranken. Er schluckte schwer, ein schrecklicher Verdacht begann sich in seinem Hinterkopf zu formen.
Mit fahrigen Bewegungen griff er nach einem anderen Detail, einem langen, schmalen Schaft aus schwärzlichem Metall. An einem Ende war die zerborstene Klinge eines Dolches, am anderen ein kunstvoll gearbeiteter Knauf in Form eines Rabenkopfes. In den Augenhöhlen des Tieres glitzerten winzige Edelsteine, blutrot und unheilvoll.
Roran spürte, wie sich seine Eingeweide zusammenzogen. Er kannte diesen Dolch. Hatte ihn zuletzt in den Händen einer anderen gesehen, einer Frau mit Augen wie geschmolzenes Gold und einem Lächeln so scharf wie eine Rasierklinge.
»Morrigan«, wisperte er, kaum hörbar über dem donnernden Schlag seines eigenen Herzens. »Verflucht nochmal, Faelan ... das ist Morrigans Ritualdolch.«
Faelan trat näher, die Stirn gefurcht vor düsterer Erkenntnis.
»Aber ... was macht er hier?«, fragte er heiser. »Ich wusste ja, dass sie ne kleine versaute Hexe ist, aber das hier?«
Roran schüttelte den Kopf, plötzliches Entsetzen schnürte seine Kehle zu.
»Roran ...«, der dunkle Kainit hockte sich über verschlissene Kainitenabzeichen. »Das ist von Novizen.«
Der Weiße starrte zu ihm. Die Teile begannen sich zusammenzufügen, ein Puzzle aus Dunkelheit und uraltem Schrecken. Die markierten Knochen, der Dolch, der geheime Raum - all das deutete auf etwas hin, das zu scheußlich war, um es beim Namen zu nennen.
»Ich glaube ...«, begann er stockend, jedes Wort wie Asche auf seiner Zunge, »ich glaube, das hier ist ein Grab.«
Faelans Augen weiteten sich, Unglauben und Horror kämpften in seinem Blick um die Vorherrschaft, als Roran seine Vermutung teilt.
»Ein Grab?«, wiederholte er ungläubig. »Du meinst wohl eher ein Massengrab. Und warum sollte Morrigan ihren Dolch hier lassen, inmitten all dieser ... Überreste?«
Roran schauderte, ein eisiger Hauch kroch über seinen Rücken. Plötzliche Gewissheit ballte sich in seinem Magen zu einem Klumpen aus Furcht und Grauen.
»Weil sie Teil davon war«, flüsterte er, und jedes Wort brannte wie Säure in seiner Kehle. »Sie war Teil dieser ... dieser Rituale, oder was immer es war. Diese Knochen, Faelan - ich glaube, das sind die Überreste derer, die sie geopfert hat. Um Macht zu erlangen, oder Wissen oder ... bei den Göttern, ich weiß es nicht.«
Er ließ den Schädel niederstürzen, als hätte er sich verbrannt. Ein trockenes Schluchzen schüttelte seine Schultern, geboren aus Ekel und namenloser Verzweiflung.
»All die Jahre ...«, krächzte er, die Stimme rau vor unterdrückten Tränen. »All die Jahre dachte ich, ich kenne sie. Dachte, da wäre etwas Gutes in ihr, etwas, das all die Dunkelheit aufwiegt. Aber das hier ...«.
Seine Stimme brach, erstickt von der Erkenntnis, die wie Galle in ihm aufstieg. Wie hatte er nur so blind sein können? So naiv, zu glauben, dass jemand wie Morrigan jemals etwas anderes sein könnte als das Monster, das sie im Innersten war? Sie wird ihren Platz nicht ohne Grund innerhalb der Bruderschaft gehabt haben.
Faelan schwieg lange, sein Blick ruhte auf den bleichen Schädel zu ihren Füßen. Als er schließlich sprach, war seine Stimme seltsam sanft, fast mitfühlend.
»Du konntest es nicht wissen, man«, sagte er leise. »Keiner von uns wusste, wozu sie wirklich fähig war. Muss zugeben ... hab die Hure unterschätzt. Wir waren alle geblendet von ihrer Macht, ihrer Schönheit. Selbst ich.«
Er lachte freudlos, ein bitteres, hässliches Geräusch.
»Vielleicht waren wir die wahren Monster«, fuhr er fort, den Blick unverwandt auf die staubigen Gebilde gerichtet. »Weil wir es zugelassen haben. Weil wir weggesehen haben, als die Zeichen da waren. Weil es einfacher war, an das Richtige zu glauben, als der Wahrheit ins Gesicht zu sehen.«
Roran antwortete nicht. Konnte nicht, wollte er nicht den letzten Rest seiner Selbstachtung verlieren. Denn Faelan sprach Wahres, erneut, so sehr es auch schmerzte, es zuzugeben. Sie alle trugen Schuld, auf die eine oder andere Art. Da sie die Augen verschlossen hatten vor dem, was direkt vor ihnen lag.
Und nun, inmitten von Staub und Knochen, schien diese Schuld sie zu erdrücken, schwerer als alle Trümmer der Welt.
Mit einem letzten, angewiderten Blick auf die Kiste erhob Roran sich, wischte sich die blutigen Hände an seiner zerfetzten Robe ab. Sein Gesicht war eine Maske aus Schmerz und ausnehmenden Willen, als er sich zu Faelan wandte.
»Verschwinden wir«, sagte er rau. »Hier gibt es nichts mehr für uns zu finden. Nur Tod und verrottete Erinnerungen.«
Faelan nickte stumm, plötzlich ganz still. Gemeinsam kehrten sie um, niemand sah zurück, als sie den Raum verließen und die Tür hinter sich ins Schloss fiel.
Und doch schien etwas von der Schwärze an ihnen haften zu bleiben, ein Schatten ihrer selbst, jener sich wie ein unsichtbares Gewicht auf ihre Schultern legte. Als wären sie beschmutzt von den Sünden der Vergangenheit, befleckt von der Berührung des Grabes selbst.
In stummem Einverständnis machten sie sich auf den Weg zurück durch die Trümmer der Kammer, dorthin, wo sie Thorne zurückgelassen hatten. Jeder Fuß fühlte sich an wie eine Unvergänglichkeit, eine endlose Wanderung durch jene Existenz aus Asche und Schatten.
Unter Aufbietung all ihrer verbliebenen Ressourcen schleppten sich Roran und Faelan durch die Trümmer des Blutgipfels. Sie bahnten sich ihren Weg vorbei an zerfetzten Leichen und qualmenden Trümmerhaufen, während abwechselnd der bewusstlose Thorne geschliffen wurde. Es war ein ganz eigener Kampf, nicht in einer Schlacht, aber gegen die Zeit und die eigene Erschöpfung.
Doch endlich, nach einer schier fortwährender Odyssee durch Schutt und Verwesung, erreichten sie den Ausgang. Mit einem letzten verzweifelten Kraftakt zerrten sie sich und Thorne ins Freie, brachen auf dem staubigen Grund zusammen. Die kühle Nachtluft war ein Schock für ihre Lungen, jeder Atemzug schneidend wie Eis. Sie waren draußen. Sie hatten es geschafft. Sie lebten.
Für einen Augenblick lagen sie einfach nur da, zu erschöpft, um sich zu rühren. Der nächtliche Himmel wölbte sich über ihnen, ein Meer aus Sternen, kalt und gleichgültig. In der Ferne heulten Wölfe, ein einsames, klagendes Timbre, jener sich mit dem leisen Stöhnen des Windes vermischte.
»Wir sollten weiter«, seufzte Faelan.
Wie auf ein unsichtbares Zeichen hin, rappelten sie sich auf, drängten ihre protestierenden Muskeln zu neuer Bewegung. Sie wussten, sie konnten nicht hierbleiben. Zu groß ist die Gefahr, dass man sie findet, dass die Bruderschaft oder irgendein anderes Übel sie aufspürt. Mit schmerzverzerrten Gesichtern und grimmiger Entschlossenheit schleppten sie sich und Thorne vorwärts, hinein in die schützende Dunkelheit des Waldes.
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Das Ätherkind - Asche und Blut
FantasíaDas Silber des Dolches glänzt im Kerzenschein, als Roran Sturmtide die Klinge gegen die Brust seiner schlafenden Tochter hebt. Ein Stoß genügt - seine Pflicht wäre erfüllt, der Kodex gewahrt. Doch seine Hand zittert, Schweiß rinnt ihm über die verna...