Prolog

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›Jeder Kainit ist verpflichtet, bei Entdeckung einer Kainitenbrut, sei es eigen oder fremd, unverzüglich und ohne Zögern zur Vernichtung zu schreiten

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›Jeder Kainit ist verpflichtet, bei Entdeckung einer Kainitenbrut, sei es eigen oder fremd, unverzüglich und ohne Zögern zur Vernichtung zu schreiten. Das Leben der Brut steht unter keinen Umständen über dem Wohl der Welt und der Reinheit unserer Linie.‹
- Kainiten-Kodex, Vers 12:9

Finsternis hüllte die modrigen Tunnel ein, nur erhellt vom schwachen Schein einer einzelnen Fackel. Ihr flackerndes Licht warf gespenstische Schatten an die feuchten Wände, während die Frau sich keuchend und stöhnend vorwärts schleppte. Jeder Schritt sandte Wellen des Schmerzes durch ihren geschundenen Körper, doch sie biss die Zähne zusammen und stolperte weiter. Sie durfte nicht aufgeben. Nicht jetzt.
Ein neuer Krampf durchfuhr ihren Unterleib und sie taumelte gegen die Tunnelwand, die Fingernägel in den glitschigen Stein gekrallt. Ein erstickter Schrei entrang sich ihrer Kehle, hallte in der Dunkelheit wider. Sie presste eine Hand auf ihren geschwollenen Bauch, spürte die wütenden Tritte des Lebens, das sich in ihr wand. Es war so weit. Und bei den Göttern, sie hatte Angst.
Mit zitternden Fingern zerrte sie ihren Umhang enger um sich, verbarg die verräterische Wölbung. Niemand durfte es sehen. Niemand durfte sie finden. Das Geheimnis musste um jeden Preis gewahrt bleiben. Die Konsequenzen wären ... sie schüttelte den Kopf, weigerte sich, den Gedanken zu Ende zu führen. Stattdessen schlurfte sie weiter, eine Hand an der Wand, die andere schützend um ihren Bauch gelegt.
Linker Gang, dann rechts, die schmale Treppe hinab. Die Anweisungen wiederholten sich wie ein Mantra in ihrem Kopf, lenkten sie ab vom Brennen in ihren Lenden, dem Pochen hinter ihren Schläfen. Noch ein Schritt. Und noch einer. Da, Licht vor ihr, schwach aber stetig. Sie hatte es fast geschafft.
Mit einem erleichterten Schluchzen stolperte sie in die kleine Höhle. Der modrige Geruch von Erde und Pilzen hing schwer in der Luft. In der Mitte stand ein niedriges Bett, bezogen mit fleckigen Laken. Kerzen flackerten in improvisierten Halterungen an den Wänden, tauchten alles in dämmriges Zwielicht. Es war nicht viel, aber es würde genügen müssen.
Stöhnend ließ sie sich auf das Bett sinken, zog mit fahrigen Fingern ihre schweißgetränkte Robe hoch. Eine Lache bildete sich bereits zwischen ihren Beinen, durchtränkte das dünne Leinen. Sie keuchte, krümmte sich zusammen, als eine neue Wehe ihren Körper mit gnadenlosen Fingern packte. Zu spät für Zweifel jetzt. Was auch immer in ihr heranwuchs, was auch immer sie unter Qualen in diese Welt pressen würde - ein Monster oder ein Wunder - es war zu spät, um umzukehren.
Mit einem Ruck rollte sie sich auf den Rücken, spreizte die Beine. Ihre Hände verkrampften sich in den Laken, so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Sie atmete stoßweise, versuchte, dem Rhythmus der Wehen zu folgen. Pressen, atmen, pressen, atmen. Ihr Blick verschwamm, Sterne tanzten vor ihren Augen. Etwas zerriss in ihr, ein Schmerz so roh und brutal, dass sie aufschrie. Sie bäumte sich auf, die Zähne zusammengebissen, und presste ein letztes Mal mit aller Kraft.
Ein Schrei zerriss die Stille, hoch und schrill. Dann ein Zweiter, schwächer, gurgelnder. Ungläubig hob sie den Kopf, starrte auf das kleine Bündel blutigen Fleisches, das zwischen ihren Beinen lag. Es lebte. Bei allen Göttern, es lebte und schrie, schrie so laut, dass es jemand hören musste. Panisch griff sie nach dem Kind, presste es an ihre Brust. Es war warm und glitschig, das winzige Herz hämmerte gegen ihre Haut.
Mit zitternder Hand schob sie die blutigen Tücher beiseite, wagte kaum zu atmen. Was würde sie sehen? Ein verzerrtes Abbild ihrer selbst, eine Missgeburt? Doch als sie endlich den Mut fand hinabzublicken, stockte ihr der Atem. Das Kind war ... perfekt. Makellose blasse Haut, winzige Finger, die sich um ihren Daumen kräuselten. Und ein Schopf weißen Haares, so rein wie frisch gefallener Schnee.
Aber dann öffnete das Neugeborene die Augen und ihr Blut gefror in den Adern. Eines der Augen war golden, schimmernd wie geschmolzener Bernstein - ihr eigenes Auge. Doch das andere ... das andere war silbern, mit der Kälte von Stahl und dem Glanz von Mondlicht. Das Auge des Vaters. Des Kainiten.
Ein unheiliges Leuchten schien von diesen ungleichen Iriden auszugehen, als wüssten sie um Geheimnisse, die kein Sterblicher je erfahren sollte. Da war etwas Uraltes in diesem Blick, etwas Grausames, das überhaupt nicht zu diesem unschuldigen Gesicht passen wollte. Eine dunkle Verheißung, ein Flüstern von verbotener Macht.
Das Kind starrte sie an, unnachgiebig, fesselnd, und ein ungekannter Schauer jagte über ihren Rücken. In diesem Moment wusste sie mit eisiger Klarheit, dass sie kein gewöhnliches Wesen in den Armen hielt. Kein sanftes, liebreizendes Baby, sondern etwas weitaus Gefährlicheres. Etwas, das sie alle ins Verderben stürzen könnte.
Heiser und mit zitternden Lippen hauchte sie einen Namen, der sich anfühlte wie ein Fluch auf ihrer Zunge.
     »Helaena.« Das Kind blinzelte, fast als würde es den Namen wiedererkennen, ihn annehmen. Und dann, für den Bruchteil einer Sekunde, huschte etwas über sein Gesicht, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ - ein Lächeln, dünn und scharfkantig wie eine Klinge.
Sie schluckte schwer, presste das Kind enger an sich, hin und her gerissen zwischen dem Instinkt zu beschützen und dem Drang zu fliehen. Doch was auch immer die Zukunft bringen würde, es gab kein Zurück mehr. Die Würfel waren gefallen.
Mit einem letzten, angsterfüllten Blick auf ihr schlafendes Kind raffte sie ihre Röcke und stolperte zurück in die wartenden Schatten. Zurück in eine Welt, die noch nicht bereit war für das, was sie geboren hatte. Und vielleicht, so fürchtete sie in den dunkelsten Winkeln ihres Herzens, würde sie es niemals sein.

Das Ätherkind - Asche und BlutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt