›Von Vater zu Sohn, von Bruder zu Bruder, so fließt das Blut des Ersten durch die Zeiten. Doch wisse, oh Jäger: Nicht das Blut allein macht dich würdig, sondern die Taten, die du in seinem Namen vollbringst.‹
- Kainiten-Kodex, Vers 19:5Das Geräusch kleiner, nackter Füße auf kaltem Stein hallte durch den düsteren Raum, leise und fast geisterhaft. Das fahle Mondlicht, das durch das schmale Fenster fiel, tauchte den kargen Raum in ein gespenstisches Zwielicht, ließ die Schatten in den Ecken zucken wie unruhige Seelen.
Helaena tapste vorsichtig durch das Gemach, ihre ungleichen Augen geweitet in kindlicher Neugier und einem Hauch von Furcht. Die rauen Steinwände schienen sie zu erdrücken, die Stille war so dicht, dass sie meinte, sie mit ihren kleinen Händen greifen zu können.
Und dann sah sie ihn. Roran, der Mann, der sie beschützen sollte. Er lag auf dem Boden, die Glieder von sich gestreckt wie eine zerbrochene Marionette, das weiße Haar klebte schweißnass an seiner Stirn. Sein Atem ging schwer und rasselnd, als würde jeder Atemzug ihn unendliche Anstrengung kosten.
Mit zögernden Schritten näherte sich das Mädchen, ihr Herz hämmerte in ihrer Brust wie ein gefangener Vogel. Sie hockte sich vor Roran, so nah, dass sie die feinen Linien des Schmerzes auf seinem Gesicht erkennen konnte, die Art, wie seine Lider zuckten, als würde er gegen unsichtbare Dämonen kämpfen.
Eine kleine Ewigkeit verharrte sie so, beobachtete stumm das Auf und Ab seiner Brust, den wilden Tanz seiner Augäpfel unter den geschlossenen Lidern. Es war, als würde sie darauf warten, dass er aufwachte, dass er sie in seine starken Arme schloss und ihr sagte, dass alles gut werden würde. Aber er rührte sich nicht, gefangen in einem Albtraum, den nur er sehen konnte.
Schließlich, ganz langsam, beugte sich Helaena vor und legte ihre kleine Hand auf Rorans Wange. Seine Haut war heiß und fiebrig unter ihren Fingern, rau vom Bart und von unzähligen Narben gezeichnet. Sie spürte, wie er unter ihrer Berührung zusammenzuckte, sein ganzer Körper spannte sich an wie eine Bogensehne kurz vor dem Schuss.
Und dann, ganz plötzlich, flogen seine Augen auf, zwei sturmgraue Seen voller Qual und Verwirrung. Für einen Moment starrte er Helaena nur an, sein Blick glasig und leer, als würde er durch sie hindurchsehen. Aber dann, ganz langsam, kehrte die Erkenntnis in seine Züge zurück, gefolgt von einer Welle aus Schuld und Scham.
»Helaena«, krächzte er, seine Stimme rau und fremd selbst in seinen eigenen Ohren. »Was – was machst du hier? Du solltest nicht ... du solltest schlafen. Es ist noch früh.«
Aber das Mädchen antwortete nicht. Stattdessen kroch sie näher, schmiegte sich an Rorans breite Brust wie ein Kätzchen, welches Schutz sucht. Ihre spärlichen Arme schlangen sich um seinen Hals, ihr Gesicht vergrub sich in der Beuge, warm und vertrauensvoll.
Für einen langen Moment verharrte Roran reglos, überwältigt von der plötzlichen Nähe, der unerwarteten Zuneigung. Dann, ganz langsam, als bewege er sich durch Wasser, hob er seine Arme und zog das Kind an sich, hielt sie fest.
Und während er dalag, das kleine Mädchen an seiner Brust, sein eigener Herzschlag laut in seinen Ohren, spürte er die Last der Schuld auf seinen Schultern, die Erinnerung an das, was gestern geschehen war. Das Blut an seinen Händen, die Wunde an Helaenas Hals ... Bei allen Göttern, was hatte er nur getan? Wie konnte er jemals wieder in diese unschuldigen Augen blicken, ohne vor Scham zu vergehen?
Aber er musste. Er musste stark sein, für sie, für das Kind, das ihm anvertraut worden war. Und so schloss er die Augen, atmete den süßen Duft von Helaenas Haar ein und schwor sich, alles zu tun, um dagegen anzukämpfen. Vor der Welt, vor sich selbst ... und vor den Dämonen, die in seinem Inneren lauerten, hungrig und erbarmungslos.
Das dröhnende Krachen berstender Holzbalken durchschnitt die Stille wie ein Schwerthieb, gefolgt vom schrillen Kreischen aus rostigen Angeln gerissener Türscharniere. Mit einem ohrenbetäubenden Knall schlug die Tür gegen die Steinmauer, wirbelte Staub und Splitter auf wie ein wütender Orkan. Roran fuhr hoch, jeder Muskel seines Körpers angespannt, die Hand bereits am Griff seines Schwertes.
In die Öffnung quollen Gestalten, gehüllt in das schroffe Leder der Kainiten-Rüstungen, die Gesichter verborgen hinter stählernen Helmen. Sie strömten in den Raum wie ein Rudel hungriger Wölfe, die Schwerter blank in ihren Fäusten, bereit zuzuschlagen beim kleinsten Anzeichen von Widerstand.
Ein spitzer Schrei entrang sich Helaenas Kehle, ihre Fingerchen krallten sich in Rorans Tunika, als suche sie Schutz vor diesem plötzlichen Einbruch roher Gewalt in ihre Welt. Roran presste sie enger an sich, sein Herzschlag ein dröhnendes Stakkato in seinen Ohren.
»Was soll dieser Anschlag?«
Doch noch ehe die Wachen auch nur ein Wort hervorbringen konnten, noch ehe Roran sein Schwert auch nur halb aus der Scheide gezogen hatte, brach eine weitere Gestalt durch die Reihen der Eindringlinge. Thorne, das vernarbte Gesicht zu einer Maske grimmiger Entschlossenheit verzogen, die Augen wild und gehetzt.
»Halt!«, donnerte er, seine Stimme ein Peitschenknall, der selbst die abgebrühtesten Wachen zusammenzucken ließ. »Beim Blute, senkt eure verdammten Klingen! Wir sind nicht hier, um zu kämpfen.«
Einen Herzschlag lang herrschte absolute Stille, nur durchbrochen vom keuchenden Atem der Männer und Helaenas ersticktem Wimmern. Dann recht sacht, senkten sich die Schwerter, glitt Verwirrung über die harten Züge der Wachen.
»Verflucht nochmal, was soll das, Thorne?«, knurrte Roran, während er sich vorsichtig erhob, Helaena noch immer schützend an seine Brust gepresst. »Platzt hier rein wie die Axt im Walde, erschreckt das Kind zu Tode-«.
Aber Thorne schnitt ihm das Wort ab, seine Miene eine Mischung aus Dringlichkeit und kaum unterdrückter Panik.
»Aldric«, keuchte er, rang nach Atem wie ein Ertrinkender, dem man endlich Luft gegönnt hatte. »Er verlangt nach dir, Roran. Sofort. Duldet keinen verdammten Aufschub!«
Der Weiße erstarrte, ein kalter Schauer kroch seinen Rücken hinab wie die liebkosenden Finger des Todes selbst. Aldric. Wenn er nach ihm rief, noch dazu auf solch rüde Art... dann musste etwas von enormer Bedeutung geschehen sein.
»Natürlich tut er das«, seufzte der Weiße schließlich.
»Jetzt ... komm.«
»Was ist, hm?«, fragte er gepresst, während er Helaena sanft auf den Boden gleiten ließ, ihr beruhigend über das zerzauste Haar strich. »Du könntest mich zumindest etwas vorbereiten.«
Aber Thorne schüttelte nur den Kopf, ein bitteres Lächeln auf den Lippen.
»Das ist nicht notwendig, Bruder«, sagte er rau. »Tu einfach, was man dir sagt. Um deinet- und ihretwillen.« Sein Blick huschte zu Helaena, ein Hauch von Besorgnis in den sturmgrauen Augen. »Vertrau mir.«
Roran zögerte einen Wimpernschlag lang, ein dumpfes Brodeln in seinen Eingeweiden, halb unterdrückte Wut, halb nagende Furcht. Aber schließlich nickte er ruckartig, die Kiefermuskeln mahlten, als müssten sie Stahl zerbeißen.
»Also gut«, knurrte er. »Bringen wir es hinter uns.«
Mit diesen Worten wandte er sich zu Helaena, ging vor ihr in die Hocke, bis seine Augen auf einer Höhe mit ihren waren.
»Hör mir zu, kleines Gör«, sagte er leise, eindringlich. »Ich muss jetzt gehen, verstehst du? Aber ich komme wieder, das verspreche ich dir. Und Thorne«, er warf dem vernarbten Hünen einen vielsagenden Blick zu, »Thorne wird auf dich achten, bis ich zurück bin.«
Helaena schluckte schwer, nickte dann tapfer, auch wenn ihre Unterlippe verdächtig zitterte. Roran lächelte schief, ein seltener Ausdruck der Zuneigung auf seinen harten Zügen. Dann, mit einem letzten, aufmunternden Streicheln über ihre Wange, erhob er sich und wandte sich den Wachen zu.
»Na dann«, sagte er mit einem freudlosen Grinsen. »Geleitet mich zu eurem Herrn und Meister. Lassen wir den Alten nicht warten, hm?«
»Das Mädchen kommt mit«, wandte einer der Wachen dann eilig ein.
»Wer sagt das?«
»Anweisung von oben.«
Roran warf Thorne einen seufzenden Blick zu, welcher sich sofort zu Helaena schlängelte. Er vertraute ihm, bedingungslos.
»Fein.«
Und so schritten sie los, Roran flankiert von einem Spalier aus Stahl und grimmigen Mienen, Thorne und Helaena dicht auf seinen Fersen. Ihre Schritte hallten durch die finsteren Korridore wie das Echo einer marschierenden Armee, ein unheilvolles Versprechen von Konfrontation und Enthüllung. Und mit jedem Schritt, mit jeder Biegung und Wendung, wuchs die Anspannung, verdichtete sich die Luft, bis sie schwer und erstickend in ihren Lungen lag.
Etwas war im Gange, etwas von großer Tragweite und noch größerer Gefahr. Und was immer es war, Roran wusste mit eisiger Gewissheit, dass er und Helaena im Zentrum des nahenden Sturms standen.
Dieser modrige Geruch von altem Pergament und verbranntem Kerzenwachs hing schwer in der Luft, als der Weiße Aldrics Arbeitszimmer betrat. Das flackernde Licht einzelner Kerzen warf tanzende Schatten an die mit Bücherregalen gesäumten Wände, ließ die ausgestopften Kreaturen und konservierten Organe in ihren gläsernen Gefäßen gespenstisch erscheinen.
Doch es war nicht die makabre und gewohnte Einrichtung, die Rorans Herz gefrieren ließ. Es war die Atmosphäre, die bleierne Schwere der Anspannung, die den Raum erfüllte wie giftiger Nebel. Aldric saß hinter seinem massiven Eichenschreibtisch, die Hände zu einem spitzen Dach gefaltet, sein Blick durchdringend und unnachgiebig. Und dort, lässig auf einem Stuhl in der Ecke drapiert, ein höhnisches Grinsen auf den Lippen, saß Faelan. Natürlich saß er dort.
»Roran«, sagte Aldric, seine Stimme so kalt und schneidend wie frisch geschmiedeter Stahl. »Setz dich.«
Es war keine Bitte, sondern ein Befehl, unterschwellig vor Drohung und Autorität. Roran gehorchte, ließ sich steif auf den harten Holzstuhl vor dem Schreibtisch sinken. Helaena, nun an seine Hand geklammert, wurde unruhig, wimmerte leise.
»Weißt du, warum du hier bist?«, fragte der alte Meister, jedes Wort ein präziser Dolchstoß.
Roran schüttelte den Kopf, seine Kiefermuskeln mahlten.
»Nein. Aber ich vermute, Ihr werdet es mir gleich sagen.«
Ein zorniges Rot kroch Aldrics faltigen Hals hinauf.
»Mir kamen ... diverse Gerüchte zu Ohren. Die Erzählungen schweifen voneinander ab, doch ihr Kern bleibt gleich«, zischte er, die Augen zu Schlitzen verengt. »Das Kind, dieses ... Geschöpf. Sie soll unkontrolliert Magie gewirkt haben, den verdammten Boden zum Beben gebracht haben!«
Aldric wandte sich im selben Atemzug an Helaena.
»Hast du den Verstand verloren?«
Roran spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Bevor er jedoch etwas erwidern konnte oder Helaena etwas sagte, trat Thorne vor, die Hände beschwichtigend erhoben.
»Meister Aldric«, sagte er ruhig, aber bestimmt. »Bei allem Respekt, aber das ist lächerlich. Helaena ist ein Kind von vier Wintern, sie hat keine Ahnung, wie man Magie wirkt. Wer auch immer das behauptet, muss sich geirrt haben, oder schlimmer, eine Lüge erzählt haben.«
»Ihre Mutter war eine Zauberin, soweit mir bekannt ist.«
Sein Blick huschte zu Faelan, eine stumme Anklage in den Augen. Aber der schwarzhaarige Kainit lächelte nur spöttisch, zuckte mit den Schultern.
»Das bedeutet noch lange nicht, dass die Magie auf sie-«.
Aldric schlug mit der Faust auf den Tisch, ließ Tintenfässer und Federkiele klirren.
»Schweig!«, donnerte er. »Dies ist nicht der Zeitpunkt für deine Ausflüchte, Thorne. Die Berichte sind eindeutig. Und das ist nicht alles.«
Sein stechender Blick bohrte sich in Roran, schien direkt in seine Seele zu blicken.
»Man sagt, du hättest versucht, dem Mädchen die Kehle aufzuschlitzen«, sagte er leise, jedes Wort trotz des sanften Tons mit Gift durchtränkt. »Dass dein Körper reagiert hat, weil er die Gefahr erkannt hat, die von dieser Kreatur ausgeht. Das Monster, das sie ist.«
Rorans Mund wurde trocken, sein Herz hämmerte schmerzhaft gegen seine Rippen. Wie konnten sie davon wissen? Wer hatte es gesehen, wer hatte geplaudert?
»Das ... das ist nicht wahr«, presste er hervor, seine Stimme heiser und fremd in seinen eigenen Ohren. »Ich würde Helaena niemals verletzen. Bei Kains Blut, wie könnt Ihr so etwas auch nur denken?«
Aber selbst während er es sagte, wusste er, wie hohl seine Worte klingen mussten. Denn hatte er nicht genau das getan? Hatte er nicht die Kontrolle verloren, hatte zugelassen, dass die Dunkelheit in ihm die Oberhand gewann? Er spürte, wie Helaena sich versteifte.
Faelan lachte, ein grausames, freudloses Krächzen.
»Leugne es nicht, Blutloser«, spottete er. »Wir alle wissen, wozu du fähig bist. Und dieses ... Ding«, er deutete auf Helaena, Ekel und Abscheu in jeder Linie seines Gesichts, »ist der Beweis dafür, dass du schwach geworden bist. Korrumpiert von einem Monster in Menschengestalt.«
Roran sprang auf, die Hände zu Fäusten geballt, bereit, sich auf Faelan zu stürzen. Aber Aldric war schneller. Mit einer Geschwindigkeit, die seinem Alter Hohn sprach, schoss er vor, packte Helaena am Arm und zerrte sie zu sich.
»Ro'an!«
Das Mädchen schrie auf, mehr vor Schreck als vor Schmerz, aber der Laut durchfuhr Roran wie ein glühender Speer. Er wollte vorpreschen, wollte seine Tochter aus den Klauen des alten Mannes reißen, aber die Wachen waren bereits da, packten seine Arme und hielten ihn mit eisernem Griff zurück.
»Aldric! Lass sie los! Lass sie verdammt nochmal los!«
Hilflos musste er zusehen, wie Aldric Helaena auf seinen Untersuchungstisch hob, sie mit ledernden Riemen fixierte, bis sie sich kaum noch rühren konnte. Tränen strömten über das Gesicht des Mädchens, Rotz und Spucke vermischten sich auf ihrem Kinn, als sie schluchzte und nach ihrer Mutter rief.
»Bitte«, flüsterte Roran, nun selbst den Tränen nahe. »Verdammt, tut ihr nicht weh. Sie ist unschuldig, sie kann nichts für das, was sie ist. Lasst sie los!«
Aber Aldric beachtete ihn nicht. Mit grober Hand riss er Helaenas Nachthemd zur Seite, entblößte die zarte Haut ihres Halses. Seine Finger tasteten, suchten, drückten zu.
Roran schloss die Augen, unfähig, den Anblick zu ertragen. Er erwartete einen Schrei, den kupfernen Geruch von Blut, das erste gurgelnde Röcheln eines geöffneten Kehlkopfs.
Aber nichts dergleichen geschah. Stattdessen erklang Aldrics Stimme, scharf und ungläubig.
»Bei den Göttern«, murmelte er. »Hier ist nichts. Nicht einmal ein Kratzer. Aber-«.
Rorans Augen flogen auf, sein Blick traf den von Thorne. In den Augen des vernarbten Kriegers spiegelte sich die gleiche Überraschung wider, gefolgt von einem Funken der Erkenntnis. Die Behandlung. Die Salbe, welche sie gestern Nacht fanden. Irgendwer musste Helaena gerettet haben, musste sich um ihre Wunde gekümmert haben, wissend, was heute folgen würde. Irgendjemand hat ihm und ihr Schutz geboten. Aber wer? Und warum?
Ein schweres Schweigen legte sich über den Raum, nur durchbrochen von Helaenas ersticktem Schluchzen. Aldric starrte auf das Mädchen hinab, die buschigen Brauen zusammengezogen, als stünde er vor einem besonders kniffligen Rätsel.
Schließlich, nach einer Ewigkeit, löste er die Fesseln und zog Helaena unsanft auf die Füße. Das Mädchen taumelte, fiel beinahe, doch Thorne war zur Stelle, fing sie auf und presste sie beschützend an seine breite Brust. Flüchtig steckte er seinen Dolch wieder ein, jenen er hinter seinem Rücke versteckt gezogen hatte.
»Tapfer, kleine Sonne ... du warst tapfer.«
Der Alte beobachtete die Szene mit einem seltsamen Ausdruck auf seinem faltigen Gesicht - halb Verblüffung, halb widerwilligen Respekt.
»Nun«, sagte Aldric langsam, bedächtig, als müsse er jedes Wort abwägen. »Ich mag alt sein, aber nicht dement. Es scheint, als hätten wir es mit einem Mysterium zu tun – einem, dem ich persönlich auf den Grund gehen werde.«
Sein Blick wanderte von Roran zu Thorne und wieder zurück, forschend, lauernd, wie ein Raubtier, das nur darauf wartete, dass seine Beute einen Fehler machte.
»Bis dahin«, fuhr er fort, seine Stimme schneidend wie Winterfrost, »werdet ihr das Mädchen nicht aus den Augen lassen. Jeder. Ihr werdet jeden ihrer Schritte überwachen, jedes Wort, das über ihre Lippen kommt. Und sollte sich herausstellen, dass ihr etwas verschweigt ...«
Er ließ den Satz unvollendet, aber die Drohung hing schwer und erstickend in der Luft. Roran schluckte, nickte ruckartig. Was blieb ihm auch anderes übrig? Er war in der Hand des alten Mannes, gefangen in einem Netz aus Lügen und Halbwahrheiten, das sich immer enger um ihn zusammenzog.
Mit einer unwirschen Geste entließ Aldric sie, die Wachen lösten ihre Griffe und traten zurück. Roran stolperte vorwärts, schloss Helaena in seine Arme, vergrub sein Gesicht in ihrem weichen Haar. Sie zitterte, ihr kleiner Körper bebte vor Angst und Erschöpfung.
»Schon gut«, murmelte er, strich ihr beruhigend über den Rücken. »Schon gut, Mädchen. Ich bin hier. Niemand tut dir weh.«
Aber selbst während er es sagte, wusste er, dass es eine Lüge war. Denn die Wahrheit war, dass er selbst nicht wusste, wie lange er noch in der Lage sein würde, sie zu beschützen. Vor seinen Brüdern, vor der Welt ... und vor sich selbst.
Faelan, der die ganze Szene schweigend von seinem Platz in der Ecke beobachtet hatte, erhob sich plötzlich, schlenderte lässig durch den Raum.
»Meister Aldric«, sagte er gedehnt, fast schon ironisch, »nicht, dass ich Euer Urteil in Frage stellen würde, aber sollten wir nicht auch über die andere Sache sprechen? Die Angelegenheit mit ... dieser Hure von Hexe? Wie war der Name gleich? Morrigan?«
Der Name hing schwer und bedeutungsschwer in der Luft, schien die Atmosphäre im Raum schlagartig zu verändern. Roran spürte, wie sich seine Eingeweide zusammenzogen, wie kalter Schweiß seinen Rücken hinablief. Aldric drehte sich langsam um, fixierte ihn mit einem durchdringenden Blick.
»Hm«, seufzte er leise. »Da war noch etwas. Sag mir, Roran, was genau ist mit ihr geschehen?«
Roran schluckte schwer, sein Mund plötzlich trocken wie Sandpapier. Er wusste, dass er jetzt vorsichtig sein musste, dass jedes Wort, das er sagte, über sein Schicksal und das von Helaena entscheiden konnte.
»Ich ... habe sie gesehen«, begann er zögernd. »Durch das Ätherskop. Sie war in Gefahr, wurde angegriffen von einer Gestalt. Einem Schatten. Ich konnte nicht viel erkennen, aber-«.
»Mama?«, kam Helaenas zitternde Stimme von Thornes Armen. »Mama? Wo ist sie? Ich will zu ihr!«
Tränen schimmerten in ihren ungleichen Augen, drohten, jeden Moment überzufließen. Roran spürte einen schmerzhaften Stich in seiner Brust. Bei allen Göttern, wie sollte er einem Kind erklären, dass seine Mutter womöglich ...
»Das ist ärgerlich«, unterbrach Aldric seine Gedanken, sein Blick noch immer fest auf Helaena gerichtet. »Wenn Morrigan wirklich angegriffen wurde, sollten wir helfen. Für ihre Dienste.«
Er wandte sich wieder an Roran, ein Ausdruck grimmiger Entschlossenheit auf seinem Gesicht.
»Der Hintergrund«, forderte er. »Der Ort, an dem du sie gesehen hast. Kannst du ihn beschreiben? Irgendetwas, dass uns einen Hinweis geben könnte?«
Roran runzelte die Stirn, grub in seinen Erinnerungen nach jedem noch so kleinen Detail.
»Es war ... dunkel«, sagte er langsam. »Feucht. Ich glaube, ich habe Wasser gesehen, vielleicht einen Fluss oder See. Und Bäume, uralte, knorrige Bäume. Mehr Finsternis als alles andere.«
In Aldrics Augen blitzte es auf, ein Funke der Erkenntnis.
»Die Schattenlande«, murmelte er. »Es muss in den Schattenlanden gewesen sein. Dort, wo ihre Macht am stärksten ist – und wo sie am verwundbarsten wäre.«
Hinter ihnen gab Helaena ein leises Wimmern von sich, vergrub ihr Gesicht in Thornes Halsbeuge.
»Wird Mama sterben?«, flüsterte sie, ihre Stimme so dünn und zerbrechlich wie Glas. »Wird das Monster sie holen, so wie in den Geschichten?«
Roran fühlte sich hilflos, zerrissen zwischen dem Wunsch, seine Tochter zu trösten und der Notwendigkeit, einen klaren Kopf zu bewahren.
»Nein, Mädchen«, sagte er sanft, strich ihr beruhigend über den Rücken. »Deine Mutter ist stark und klug. Wer sich mit ihr anlegt, hat definitiv einen Fehler gemacht.«
Er sah den alten Kainiten eindringlich an, stumm flehend, dass er vor Helaena die richtige Antwort geben würde.
»Ja«, sagte Aldric langsam, jedes Wort sorgsam gewählt. »Ja, natürlich. Wir ... finden sie. Wir lassen niemanden im Stich, der uns schon teuer zu Diensten war.«
Aber selbst während er es sagte, huschte ein Schatten des Zweifels über seine Züge, so flüchtig, dass Roran ihn beinahe verpasst hätte.
»Was vermutet Ihr, Meister? Die Bruderschaft?«
Aldric zögerte einen Moment, ein unergründlicher Ausdruck auf seinem Gesicht, während Faelan mit der Zunge schnallte.
»Die Bruderschaft ... ist eine Möglichkeit«, sagte er schließlich. »Aber es gibt noch andere Mächte, andere Feinde, die Morrigan sich im Laufe der Jahre gemacht hat. Sie war nicht gerade ... freundlich.«
Er drehte sich um, begann, ruhig auf und ab zu gehen.
»Die Zauberer des Äthereums, zum Beispiel«, murmelte er, mehr zu sich selbst als zu irgendjemand anderem. »Sie haben Morrigans Abkehr von ihren Lehren nie verziehen. Oder die Kultisten der Schattenlande, die in ihr eine Bedrohung für ihre dunklen Riten sehen. Ganz zu schweigen von den politischen Ränkespielen am Hofe des Hochkönigs ...«
Er verstummte, verloren in Gedanken. Roran und Thorne tauschten einen Blick, Anspannung und Besorgnis in ihren Mienen. Faelan lehnte an der Wand, die Arme verschränkt und ein spöttisches Lächeln auf den Lippen, als genieße er ein besonders unterhaltsames Schauspiel.
Schließlich hielt Aldric inne, wandte sich abrupt zu Roran um.
»Was auch immer dahintersteckt«, sagte er fest, »wir werden es herausfinden. Aber vorangestellt müssen wir uns um den Hybriden kümmern.«
Seine Augen verengten sich, fixierten Helaena mit einem Blick, der Roran einen Schauer über den Rücken jagte.
»Solange wir nicht wissen, was sie ist und wozu sie fähig ist ... ist sie eine Gefahr. Für uns alle. Darüber hatte ich bereits mit dir gesprochen, Roran. Sie wird nicht aus den Augen gelassen. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
Seine Stimme war sanft, beinahe freundlich, aber die Drohung darunter war unmissverständlich. Roran nickte stumm, unfähig, die plötzliche Enge in seiner Kehle zu überwinden.
»Gut«, sagte Aldric, plötzlich wieder der joviale Großvater. »Dann wäre das geklärt. Ihr könnt gehen. Vorerst.«
Mit einer unwirschen Geste scheuchte er sie hinaus, die Wachen traten zur Seite, um sie durchzulassen. Roran brauchte einen Moment, um sich zu fassen, um seine zitternden Glieder dazu zu bringen, sich zu bewegen. Dann, mit einem letzten, sehnsüchtigen Blick auf Helaena, jene noch immer in Thornes Armen hing, wandte er sich um und verließ das Zimmer, ein Gefühl von Vorahnung und Unheil in seinem Gemüt.
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Das Ätherkind - Asche und Blut
FantasyDas Silber des Dolches glänzt im Kerzenschein, als Roran Sturmtide die Klinge gegen die Brust seiner schlafenden Tochter hebt. Ein Stoß genügt - seine Pflicht wäre erfüllt, der Kodex gewahrt. Doch seine Hand zittert, Schweiß rinnt ihm über die verna...