Kapitel 8

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Tami POV

Entschlossen schiebe ich das Buch in die Umhängetasche zurück und stecke mein Messer, das auf dem Boden lag, in den Gürtel an meiner Jeans.
„Wenn das jetzt gut geht, sehen wir uns bald wieder", flüstere ich und küsse den Ring an meinem Finger. Das einzige von Peter, das mir gerade noch bleibt.

Schritt für Schritt durchquere ich die Höhle, schreite unter dem seltsamen Mond entlang. Immer den neu entstandenen Ausgang im Blick. Enttäuschenderweise führt er nicht nach draußen, sondern nur in einen weiteren dunkeln Gang. Dieser wiederum macht ein paar Biegungen, geht mal bergauf, mal bergab, bis er mich schließlich in die nächste Höhle führt.
Dieses Mal halte ich nicht vorher an, sondern gehe unbeeindruckt hinein. Was soll schon schlimmer sein als die Aufgabe gerade eben? Und laut dem Märchen sollen die Sterne ja auch freundlich sein.

Wieder ist die Höhle kreisrund und das Licht ist kühl. Doch dieses Mal löst es keine Angst in mir aus, sondern wirkt eher beruhigend. Es ist nicht hart und grell, eher weich und sanft.

Ich bleibe stehen und lasse die Atmosphäre auf mich wirken. Nach der vorigen Aufgabe ist das hier wirklich eine Wohltat. Wie erwartet kommt das Licht von den Sternen, die sich anstelle eines Mondes an der Höhlendecke tummeln. Unmöglich zu sagen wie viele es sind.

„Hallo?",sage ich, auf einmal doch etwas eingeschüchtert.
Weder Peters, noch mein Schatten ist hier, um mich mit der Aufgabe zu konfrontieren. Also muss ich anscheinend wirklich mit den Sternen selbst sprechen.

Erwartungsvoll schaue ich zum Firmament hoch. Es scheint, als würden die Sterne lebendiger funkeln als zuvor. Ich sehe das als Einladung an, weiter zu sprechen: „Ich bin auf der Suche nach sechs verlorenen Jungen. Sie wurden verflucht und ich möchte sie davon erlösen."

Wieder warte ich ab, bis mir auffällt, dass ich vergessen habe, die Sterne um Hilfe zu bitten. Durch das Lesen des Märchens ist der Ablauf so selbstverständlich für mich, dass ich den wichtigen Teil fast übersprungen hätte.
„Ich weiß aber nicht, wo ich sie finden kann. Wärt ihr so nett und würdet mir helfen?"

Nun müsste mein Teil doch erfüllt sein, oder? Und tatsächlich schwebt eine der leuchtenden Kugeln zu mir herab. Sie ist nur wenig größer als meine geballte Faust.
„Danke", sage ich ehrfürchtig und strecke bittend eine Hand in Richtung des Sterns aus. Sogleich erscheint darin ein Schlüssel, gefertigt aus Knochen. Ein gutes Omen ist das jetzt nicht gerade, oder?
Mir gegenüber schält sich ein Tor aus der steinernen Wand, während der Stern zurück zu den übrigen Gestirnen gleitet. Eilig gehe ich auf das Tor zu, den Schlüssel fest umklammert.

Das Tor ist doppelflügelig und mindestens doppelt so groß wie ich. Aufgeregt, so kurz vor dem Ende meines Abenteuers, stecke ich den Schlüssel in das Schloss und will ihn herumdrehen. Dies ist allerdings nicht möglich, denn just in dem Moment, in dem der Schlüssel vollständig im Schloss steckt, löst er sich einfach auf und rieselt als Staub zu Boden.

„Soll das ein schlechter Scherz sein?!", rufe ich aus, doch von den Sternen kommt keine Reaktion.
„Ich schneide mir keinen Finger ab", spreche ich meine Gedanken laut aus und setze mich stattdessen auf den Boden. Wieder hole ich das Märchenbuch hervor und studiere die Geschichte eingehend.
Warum musste das Mädchen sich einen Finger abschneiden?
Steckt ein tieferer Sinn dahinter?

Ich lese das Märchen wieder und wieder. Von vorne nach hinten und wieder zurück.
Habe ich etwas übersehen?
Gibt es vielleicht eine andere Möglichkeit?
Das einzige, was mir in den Sinn kommt, ist, dass das Mädchen letztendlich eigentlich mehr gegeben hat, als sie anzubieten hatte. Sie hat verdammt nochmal ein Körperteil geopfert!

Und da fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Auch ich habe das getan. Naja, zumindest so in der Art. Weil ich die Prüfung unter dem Mond erst falsch verstanden hatte, trennte ich mich unter Schmerzen von meinem Schatten. Ist das nicht so ähnlich wie ein Körperteil zu opfern? Immerhin stirbt man ja sogar, wenn einem der Schatten durch Fremdeinwirkung vom Leib gerissen wird. Also müsste mein Opfer doch definitiv ausreichen, oder?

Eilig packe ich das Buch wieder ein und springe auf.
„Schatten, komm her!", rufe ich aus und einen Augenblick später erscheint tatsächlich mein Schatten.
Meiner, nicht Peters.
Irgendwie ist es ein gutes Gefühl, dass ein solches Wesen wirklich zu mir gehört und nicht nur eine Art Leihgabe ist. Auch wenn mein Schatten mit Sicherheit nicht so mächtig ist wie Peters. Immerhin war der schon vor Peter Pans Ankunft hier existent.

„Ich habe eine wichtige Aufgabe für dich", sage ich, „Öffne mir diese Tür."

Ohne Umschweife gleitet der Schatten in das Schlüsselloch und das Tor schwingt mit einem Knarzen auf. Etwas fassungslos bleibe ich noch einen Augenblick länger als nötig stehen. Das war ja jetzt doch leichter als gedacht.

Selbstbewusst betrete ich die nächste Höhle. Sie wird von echtem Tageslicht durchflutet, da sie statt einer Höhlendecke aus Gestein eine aus Glas besitzt. Auch der Boden besteht nicht länger aus Fels, sondern aus fester Erde. Die Höhle ist bis auf einen Baum leer. Riesig und kahl steht er in der Mitte und reckt seine nackten Zweige wie dürre Finger in Richtung der gläsernen Kuppel. In seiner Krone sitzen sechs Raben.

„Ich habe es geschafft", flüstere ich überwältigt, nur, um im nächsten Moment euphorisch nach den verlorenen Jungen zu rufen. Sogleich kommen sie unter aufgeregtem Gekrächze zu mir herunter geflogen, umkreisen mich und setzen sich dann auf die niedrigeren Äste des Baumes. Aus einem Gefühl heraus kann ich sofort zuordnen welcher Junge sich hinter welchem Raben verbirgt.

„Ich habe euch gefunden", sage ich zufrieden zu den Jungs und auch sie scheinen erleichtert zu sein. Der Rabe, der Felix ist, schaut mich mit schief gelegtem Kopf an und stößt dann ein kehliges Krächzen aus.
„Ja, ich hatte auch keine leichte Zeit", stimme ich ihm zu, denn aus irgendeinem Grund habe ich den Kommentar zu meiner äußerlichen Veränderung verstanden.

Noch immer kann ich den Gedanken, was passiert, wenn ich nicht wieder jung werden kann, nicht zulassen. Ansonsten würde ich vom Schmerz übermannt werden. Stattdessen sammele ich mich innerlich und erinnere mich an das Märchen zurück. Dort verwandelten sich die Brüder, nachdem sie den Ring der Eltern gefunden und ihre Schwester erblickt hatten. Warum tut sich hier jetzt nichts?

Einem Impuls folgend hebe ich die Hand mit dem Ring von Peter so hoch, dass alle Raben ihn problemlos erblicken können. Doch auch das ändert die Situation nicht. Ratlos blicke ich den Felix-Raben an. Er stößt ein Krächzen aus.
„Ja, das sollte eigentlich funktionieren", sage ich, während ich fieberhaft überlege, was ich tun muss.

„Vielleicht liegt es an der Gesamtsituation", spreche ich meine Gedanken laut aus, auch wenn ich mir wünsche, dass ich mich irre, „In dem Märchen waren alle tatsächlich blutsverwandt. Das ist eine mächtige Magie, die man nicht unterschätzen darf. Ihr mögt zwar wie Brüder für mich sein, aber letztendlich sind wir nur ein zufälliger Haufen Menschen, die ein ähnliches Schicksal teilen. Es gibt keine Möglichkeit das zu ändern. Wenn diese Idee stimmt, waren alle Opfer umsonst."

Empört krächzt der Felix-Rabe und wieder weiß ich genau, was er sagen will: „Pan ist die einzige Familie, die wir brauchen."
„Du hast recht", stimme ich ihm zu, „Nur bringt uns das gerade leider wenig."

Peter Pan believes in meWo Geschichten leben. Entdecke jetzt