Kapitel 3

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Tami POV

Ich habe nicht bemerkt wie der Schatten die Welten gewechselt hat. Nun fliegen wir über die Welt, die sich einst mein Zuhause nannte.
Das Dorf, in dem ich aufwuchs, war klein und ländlich. Die Höfe standen weit auseinander, sodass man nicht allzu viel Kontakt zu seinen Nachbarn hatte. Die anderen Kinder traf ich meist bei Ausflügen zum Markt. Wirklich bekannt kommt mir hier nichts vor. Vielleicht, weil ich den Ort schon mit 12 Jahren verlassen musste.

Wie bei allen verlorenen Kindern hatte auch meine Kindheit eine tragische Wendung: Meine Mutter verließ uns und der Mann, der damals als mein Vater fungierte, da der Autor schließlich seine Aufgabe erfüllen musste, wurde immer verbitterter. War er zuvor wie mein echter Vater gewesen, wurde er nun kaltherzig mir gegenüber und verkaufte mich letztendlich an einen Mann, dessen Sohn ich als Erwachsene heiraten würde.
Doch dieser Teil meines Lebens, der mich zu einem verlorenen Mädchen machte und glücklicherweise zu Peter Pan führte, liegt nun hinter mir.

Der Schatten und ich befinden uns nun vor dem Haus. Beziehungsweise war es mal ein Haus, ein sehr schönes eigentlich. Jetzt sieht es nur noch einsturzgefährdet und verwildert aus. Da hier Sommer ist, wuchern auch entsprechend viele Pflanzen. Hier war bestimmt schon lange niemand mehr.
Um uns herum stehen einige hohe Bäume, die uns unentdeckt bleiben lassen.

„Ich muss auf dich Acht geben", sagt der Schatten, während ich entschlossen auf das Gebäude zu gehe.
„Ich weiß", antworte ich und verdrehe die Augen. Was soll mir hier schon passieren? „Wärst du denn, rein körperlich gesehen, in der Lage einen, sagen wir mal, herabstürzenden Balken aufzufangen?", erkundige ich mich, dieses Mal mit ehrlichem Interesse.
Der Schatten schaut mich nur ausdruckslos an. Fast bin ich mir sicher, dass nun er die Augen verdrehen würde, wenn er könnte.
„Das nehme ich mal als 'Ja'", beschließe ich und öffne die Tür, die prompt mit einem lauten Krachen aus den Angeln und gegen die Wand fällt.
Auch gut.
Ich zucke mit den Schultern und will eintreten, als der Schatten mich packt und ein paar Meter vom Eingang weg, zurück auf die Wiese, trägt.

„He", protestiere ich empört, wehre mich aber nicht. Gegen dieses übermächtige Wesen hätte ich sowieso keine Chance.
„Du wartest hier", ordnet die dunkle Gestalt an und fliegt alleine in das Gebäude hinein. Wenige Sekunden später schwebt der Schatten tatsächlich mit meinem Buch in den Händen wieder vor mir.
Woher er jetzt wusste, welches der Zimmer meines war und dass das Buch unter der Bodendiele am hinteren rechten Bettpfosten lag, hinterfrage ich einfach mal nicht weiter. Stattdessen sage ich einfach nur höflich „Danke" und begebe mich zu einem Baum, der auf dem Grundstück steht. Es handelt sich um eine Trauerweide und ihre Zweige reichen bis auf den Boden, sodass sie wie ein Vorhang wirken.

„Wolltest du nicht eigentlich sofort zurück?", fragt der Schatten, während er hinter mir her schwebt.
„Ja", bestätige ich, „Aber jetzt sind wir ja sogar noch schneller als geplant. Da haben wir doch sicher noch ein paar Minuten übrig."
Aus Höflichkeit halte ich die Zweige beiseite, damit der Schatten durch die Lücke fliegen kann und setze mich dann selbst an den Baumstamm.
„Hier saß ich schon als Kind immer", erkläre ich und schlage das Buch auf. Meine Mutter hat es mir einst geschenkt und mir liegt der Verdacht nahe, dass sie es wiederum von meinem leiblichen Vater, dem Autor, bekommen hat. Vielleicht hat er all diese Geschichten geschrieben?

„Das Buch erzählt die weniger bekannten Märchen", erkläre ich und streiche liebevoll über das Inhaltskapitel.
„Zum Beispiel?", der Schatten klingt jetzt ehrlich interessiert und schwebt ruhig vor mir, die glühenden Augen auf mich gerichtet.
In diesem Moment frage ich mich zum ersten Mal wie sehr er und Peter miteinander verwoben sind. Hat der Schatten ähnliche Gefühle für mich wie Peter oder bewegt er sich auf der Ebene eines Freundes, ja fast Bruders, wie Felix? Oder sogar weniger?
Es käme mir aber auch eigenartig vor das mächtige Geschöpf danach zu fragen.

„Zum Beispiel Vom Fischer und seiner Frau, Allerleirauh, Die Sieben Raben oder Die Salzprinzessin", zähle ich auf, „Sterntaler und Die sechs Schwäne sind auch hier drin. Oh, und König Drosselbart und Tischlein deck dich auch!" Ein begeistertes Lächeln huscht über mein Gesicht.
„Worum geht es in Die Sieben Raben?", will der Schatten wissen.

Verwundert, aber auch erfreut erzähle ich ihm von dem Mädchen, dessen Brüder bei ihrer Geburt verflucht und dadurch zu Raben wurden. Um sie wieder zu befreien, musste sie eine Reise antreten und verschiedene Aufgaben bestehen.
„Es ist tatsächlich so ähnlich wie Die sechs Schwäne", schließe ich meine Erzählung, „Nur ist die Person, die die Brüder verflucht, eine andere und auch die Prüfungen gleichen sich nicht."
„Interessant", befindet der Schatten und möchte dann auch den Inhalt der anderen Märchen erfahren. So verbringen wir einige Zeit, bis es schließlich dunkel wird.

„Oh, verdammt", ärgere ich mich, als mir auffällt, dass es schon ziemlich spät sein muss. Immerhin habe ich mich wirklich ziemlich erfolgreich von den Sorgen um Peter abgelenkt. Dafür hat Felix sich wahrscheinlich umso mehr Gedanken gemacht. Er tut mir schon ein bisschen leid.
„Meinst du, Peter ist wieder zurück?", frage ich den Schatten, klemme mir das Buch unter den Arm und stehe auf.
„Finden wir es heraus", meint der Schatten und fliegt mich zurück nach Neverland.

X

Kaum, dass der Schatten mich im Lager abgesetzt hat, fliegt er auch schon ohne ein Wort des Abschieds davon.
Verwundert schaue ich mich um. Das Lager ist wie ausgestorben. Nicht einmal ein Feuer brennt in der Mitte. Die Geräusche des Dschungels sind verstummt. Fast ein wenig gruselig.

„Hallo?", frage ich verunsichert und presse mein Buch an meine Brust. „Wo seid ihr denn alle?"
Eine Gänsehaut überzieht meinen Körper. Wie sehr ich mir gerade wünsche, dass der Schatten bei mir geblieben wäre.

„Tami!"

Erschrocken schreie ich auf, während zwei Arme sich um mich schlingen. Augenblicklich flammt das Feuer wieder auf.
„Hast du mir einen Schrecken eingejagt", fahre ich Peter an, an dessen Brust ich gerade gezogen wurde. Mit noch immer rasendem Herzen schiebe ich ihn ein Stück von mir weg und starre ihm wütend in die grünen Augen. Er starrt mindestens genauso empört zurück.

Ich habe dich erschreckt?!", fragt er ungläubig, „Wo warst du überhaupt?"
„Ich habe nur das hier geholt", sage ich kleinlaut, erinnere mich dann aber wieder daran, dass auch ich eigentlich ziemlich entrüstet bin, „Und ich war auch nicht allein. Der Schatten war die ganze Zeit bei mir und hat aufgepasst. Frag ihn doch, wenn du mir nicht glaubst!"
„Ich glaube dir, Tami", sagt Peter, jetzt wieder mit ruhigerer Stimme, „Ich hatte einfach nur Angst um dich. Du weißt, dass ich einige Feinde habe."
„Ja", sage ich, aber entschuldige mich nicht, „Schön, dass du wieder da bist."

Ich lege meine Hand in seinen Nacken und ziehe seinen Kopf ein Stück zu mir hinunter, damit wir uns küssen können. Er legt seine Arme um meinen unteren Rücken und so genießen wir einfach eine Weile die Nähe des anderen.
„Lass uns hoch gehen", murmelt Peter irgendwann in meine Halsbeuge und ich folge ihm nur zu gern in unseren Blätter-Kokon.

Peter Pan believes in meWo Geschichten leben. Entdecke jetzt