Zurück zur Geschichte: Heute Nachmittag sollte Angela – so heißt sie übrigens – ein erstes Gespräch mit einer ziemlich berühmten Bloggerin haben, und ich sollte dabei sein. Bis dahin saß ich offiziell arbeitend, inoffiziell wartend an meinem Schreibtisch und skizzierte einen wunderschönen Entwurf für ein Candle-Light-Dinner zwischen Cinderella und Prinz Charming, wobei Prinz Charming eine verblüffende Ähnlichkeit mit Flynn Rider aufweist. Ja, ein ganz komischer Zufall, aber es ist so hübsch geworden, dass ich Luna ein Bild davon schicke. Drei Tage später spricht Tobias mich an und erzählt, Luna habe ihm das Bild geschickt. Dann schaut er mich ganz nebenbei von der Seite an: „Der Prinz Charming sieht übrigens Flynn ziemlich ähnlich." Und so mutig wie ich bin, mache ich mein überlegendes Gesicht, nur um dann zu sagen: „Jetzt, wo du es sagst, stimmt, was für ein Zufall." Dann drehe ich mich um und gehe weg. Awkward!
Na jedenfalls, nach dem Mittagessen, bei dem ich neben dem nun offiziell anerkannten Paar sitzen durfte, das erstaunlicherweise die ganze Zeit diskutierte, nur mit Unterbrechungen für kurze Küsse, sitze ich jetzt neben Angela in ihrem Mercedes. Jess, ich beruhige mich selbst: Alle Menschen sind nett, alle Menschen verdienen eine Chance.„Und, wie lange bist du schon für Stylive tätig?"Sie scheint sich zu freuen, dass ich versuche, ins Gespräch zu kommen. „Seit 4 Jahren, also ich war bei ihnen seit meinem letzten Ausbildungsjahr."„Und gefällt dir die Arbeit?"Ich haue jetzt einfach mein Standardrepertoire an Fragen raus, nicht weil es mich nicht interessiert, aber es ist das Annäherndste, was ich an Social Skills einbringen kann. Es funktioniert, und als wir nach einer halben Stunde ankommen, war es eine bedeutend angenehmere Fahrt, als ich dachte.Wir fahren mit dem Aufzug in die oberste Etage, und ich bezweifle kurzzeitig meine Berufswahl, als uns die Tür geöffnet wird. Schuldbewusst stelle ich fest, dass ich keine Ahnung habe, wer sie ist. Sie hat lange geflochtene Zöpfe bis zu ihrer Taille und einen perfekten Schokoladenteint.„Hey, kommt rein. Ich bin übrigens Hope."Ziemlich schnell, nachdem wir uns vorgestellt haben, weiß ich auch schon, warum sie so berühmt geworden ist. Sie hat eine faszinierende Ausstrahlung, und man hat gar nicht die Option, sie nicht zu mögen. Während sie uns durch den Gang führt, schiebt sie die ganze Zeit irgendwelche Sachen, die am Boden liegen, zur Seite. In der riesigen Wohnküche sind die Wände mit bunten Gemälden behangen. Vor dem großen, warmbraunen Sofa mit der bunten Patchworkdecke steht ein alter Sessel, der so groß ist, dass man am liebsten darin wohnen würde. Sie bietet uns etwas zu trinken an, und dann fängt Angela an, ihr die Grundlagen des Projekts zu erklären.„Das klingt super, vor allem meine Follower werden es lieben."Sie spricht von ihren Followern, als wären sie ihre Familie.„Aber bevor ich mich jetzt komplett dafür entscheide, würde ich doch gerne noch ein bisschen von der neuen Kollektion sehen."Angela holt einen großen schwarzen Ordner und zeigt ihr die Winterkollektion, für die unsere Kampagne gemacht wird. Ich kenne sie mittlerweile in- und auswendig. Es ist eine Mischung aus dem ursprünglich urbanen Style mit teilweise mehr oder weniger auffälligen Details. Manches ist nicht wirklich außergewöhnlicher als vorher, aber einige Teile sind wirklich unglaublich. Mein persönlicher Favorit ist aus der Cupcake Collection – ja, die gibt es wirklich – und besteht aus einem hellrosanen Wollkleid, das eher A-förmig geschnitten ist und etwas über die Mitte des Oberschenkels geht. Die Ärmel und der Kragen sind groß und fluffig. Dazu trägt das Modell auf dem Foto schwarze Thermostrumpfhosen und schwarze Boots.Hope konzentriert sich gerade mehr auf die Pastelltöne, aber es scheint ihr wirklich gut zu gefallen. „Okay, also ich denke, ich bin dabei. Ich werde in meinen nächsten Videos schon ein paar kleine Bemerkungen in Richtung eines neuen, großen Projekts fallen lassen."„Und", Angela fällt ihr ins Wort, „vertraglich sind Sie verpflichtet, bei einem Werbespot mitzumachen und 3 Videos im Sinne unserer Kampagne zu machen. Für die Details ist hier Jess dabei."„Ja, das geht klar. Ich hätte dafür auch schon ein paar Ideen."Sie geht kurz, um die Papiere zu holen. „Okay, ich werde die Verträge vorbereiten", sagt Angela, während sie durch ihre Mappe blättert. „Und du besprichst mit ihr die verschiedenen Details, über die ihr Künstler so sprecht."Kurz darauf kommt Hope mit zwei zerknitterten Zetteln zurück.„Also, ich dachte an ein Video, in dem ich einfach ein oder zwei neue Teile vorstelle, die mich begeistern. Ein Video werde ich nutzen, um über Individualität ganz direkt zu sprechen und warum Mode dabei ein wichtiger Faktor ist. Für das dritte Video habe ich noch keine Idee."Ich überlege kurz.„Was hältst du von einem Vlog über den Tag, an dem du mit uns für den Werbespot zusammenarbeitest? Das kann super spannend sein, und letztendlich steht ja die Message der Firma auch im Vordergrund."Sie nickt zustimmend. „Das hört sich gut an, ja, die Idee gefällt mir."Wir besprechen noch ein paar weitere Details, und dann ist Angela fertig mit den Verträgen, die Hope nach erstaunlich ungründlichem Lesen unterschreibt. Aber ich sehe darin kein Problem. Einer der Aspekte unserer Firma, auf die wir am stolzesten sind, ist die Transparenz. Als wir im Auto sitzen, werfe ich einen Blick auf mein Handy. Eine neue Nachricht von Tobias – es ist unglaublich, wie ein kleiner blauer Punkt so eine Vorfreude auslösen kann.„Ich freue mich schon total auf das Konzert."„Ich freue mich schon total auf dich."Natürlich nicht. Es ist schon fast zu einem Standard geworden, dass ich immer eine Sache denke und dann etwas anderes schreibe. In diesem Fall heißt das, ich antworte: „Yaaaay, ich mich auch."Nur ist es leider doppelt so schwer, so zu antworten, weil ein zweiter Gedanke nie so leicht wie ein erster ist. Ich muss ja versuchen, vor Witz und Charme nur so zu sprühen – eigentlich sollte ich es nicht versuchen, aber ich komme leider nicht umhin.Am Samstag gehen wir auf ein Jazzfestival, bei dem wir noch Hannah und Jamie sowie Penny und Mark inkludieren. Ich weiß zwar nicht mehr genau, warum sie mitkommen, vor allem weil Penny Jazz hasst, aber es wird bestimmt trotzdem toll. Angela weckt mich aus meinen Gedanken: Es ist schon fünf, und in der Firma läuft bestimmt nichts mehr groß. „Soll ich dich irgendwo rauslassen?"Ich überlege kurz, aber ich war die letzten Tage so oft länger mit der Weiterentwicklung des Projekts beschäftigt, dass ich das verdiene.Als ich die Wohnungstür aufschließe, rieche ich allen Ernstes Pizza. Mmmh, meine Lieblingsschwester kocht. Ich habe doch schon mal erwähnt, dass sie meine Lieblingsschwester ist. Sie sieht mich kommen und ist etwas erstaunt.„Du bist auch mal wieder zuhause? Gerade an dem Tag, an dem ich koche, wenn das kein Zufall ist."Ich lasse meine Tasche trotz ihres kritischen Blicks fallen und setze mich auf den kleinen Hocker in der Küche.„Du weißt doch, wie es ist, wenn ein Projekt am Start ist. Mein Eigenleben ist nicht mehr existent."„Aber du arbeitest doch nicht an den Wochenenden?"„Ja, aber wir machen einfach gerade so viele tolle Sachen."Sie schüttelt verständnislos den Kopf. Seit mittlerweile vier Jahren arbeitet sie in einer Comicbuchhandlung und ist unglaublich glücklich damit – von der Buchhandlung auf ihre Couch und zweimal die Woche ins Fitnessstudio. Aber das kann ich überhaupt nicht. Wenn ich länger als eine Stunde nichts zu tun habe, wobei Pinterest und YouTube aber als etwas tun gelten, werde ich nervös.Nachdem ich bis zur fertigen Pizza noch etwas Zeit habe, beschließe ich, den riesigen Wäschehaufen auf meinem Stuhl zu beseitigen, was ich bis zur Hälfte schaffe, um dann auf meinem Bett liegen zu bleiben und Hopes YouTube-Kanal zu stalken. Die Videos sind super und vor allem wirken sie ehrlich, und das finde ich toll.Der Abend verläuft wie ein perfekter Schwesternabend: selbstgemachte Pizza und ein Spider-Man-Marathon. Mit dem kleinen Unterschied, dass ich mein Handy nicht aus der Hand lege, um ja nicht zu spät zu antworten, wenn Tobias schreibt. Wir haben gerade eine intensive Diskussion über die Berechtigung von Happy Ends. Wie kann man nur so stur sein! Obwohl ich ja voll darauf stehe. Aber trotzdem sehe ich es nicht ein. Was kann es Schöneres geben als ein „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute"?„Aber das heißt, dass sie trotzdem eines Tages sterben werden, und deswegen sind Happy Ends ein Trugschluss. Denn während zwar nicht immer alles im Leben schlecht endet, erinnern uns traurige Enden daran, wie vergänglich alles ist."Ich starre eine Weile auf die Nachricht und bin leicht verzweifelt. Bis zu einem gewissen Grad hört es sich logisch an, aber andererseits ist es doch eine Einstellungssache. Ich versuche, meine Gedanken zu formulieren.„Aber 1. brauchen wir doch die Happy Ends, um ein Ideal zu haben, an das wir glauben können, und 2. solange nichts Schlimmes passiert, können wir noch Hoffnung haben, und Hoffnung ist das Allerbeste."Ich hoffe, er versteht, was ich meine. Genau in diesem Moment sehe ich auf dem Bildschirm, wie Gwen Stacy in Zeitlupe fällt, die reine Panik in ihren Augen (sorry für den Spoiler). Als der Film mit seinem mehr oder weniger traurigen Ende vorbei ist, gehe ich äußerst schlecht gelaunt ins Bett.
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Ein Buch mit Happy End
General FictionJess's Leben läuft perfekt. Gerade eben erst ist sie zum junior Art Director ihrer Firma befördert worden, ihre Arbeitskolleginnen sind ihre besten Freundinnen und sie wohnt in einer wunderschönen Stadt. Aber damit die Geschichte interessant wird m...