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Über die Arbeit vergeht die Woche wie im Flug. Als wir am Samstag endlich das Gelände betreten, auf dem das Jazz-Festival stattfinden soll, spüre ich die Aufregung in mir aufsteigen. So viele Menschen, die alle dasselbe wie ich lieben. Hannah und Jamie kommen hinter mir, und obwohl es vollkommen unwahrscheinlich ist, ihn zu sehen, suchen meine Augen automatisch nach Tobias. Eigentlich suchen sie immer automatisch nach ihm, egal wo ich bin, und selbst wenn ich in einem anderen Land wäre, ist es immer so eine irrationale Hoffnung, ihn irgendwo zu sehen.

Aber zurück in die Realität: Wir haben zum Glück einen Treffpunkt ausgemacht, und langsam schlängeln wir uns durch die Menschenmenge, während ich versuche, meine beiden Begleiter für mein neuerworbenes Jazzwissen zu begeistern. Was mir momentan hier am besten gefällt, ist, wie die Leute angezogen sind. Die meisten wären perfekt für unsere Kampagne geeignet. Es gibt alles von sehr elegant über Businesslook bis hin zu Kleidern und Hipstern, und schon allein von der Optik weiß man, wer welche Jazzrichtung mag. Es scheint einer der letzten warmen Tage zu sein, und ich habe mich für ein gelbes Kleid mit kurzen Ärmeln und flatterigem Rock entschieden. Ich glaube, der Tag wird einfach nur perfekt.Da hinten bei den Toiletten sehe ich schon Penny und Mark, ein super romantischer Treffpunkt. „Hey!" Ich winke ihnen zu und sehe zu meiner Erleichterung Tobias auf die Gruppe zukommen. Ich sollte wirklich anfangen, etwas weniger zu übertreiben.Nachdem wir uns alle begrüßt haben, hake ich mich bei Penny ein und ziehe dann gleich wieder meinen Arm weg. „Oh Gott, es tut mir leid." Sie hasst es, und ich vergesse es einfach immer wieder. „Freust du dich schon?" Ich bin vor lauter Aufregung mittlerweile ganz fipselig. Wobei das, wie ihr euch denken könnt, wahrscheinlich nicht nur am Konzert liegt.Als ich heute Morgen aufgestanden bin, musste ich ewig überlegen, für welchen Look ich mich entscheide. Es muss schließlich supertoll aussehen und dabei doch ganz natürlich wirken. Letztendlich habe ich es bei Wimperntusche und ein bisschen Concealer belassen, weil ich ohne YouTube-Anleitung sowieso nichts anderes kann. Ob es supertoll aussieht, weiß ich nicht, aber auf jeden Fall natürlich und nicht zu vergessen: dezent ungekämmtes Haar.Penny scheint nicht so begeistert zu sein. „Ich glaube, meine Couch vermisst mich, sie ist sehr sensibel." Wenigstens Hannah scheint meine Vorfreude zu teilen. Das ist übrigens auch noch eine ihrer tollen Eigenschaften: Sie ist immer offen, etwas Neues auszuprobieren und allem eine Chance zu geben. Und natürlich Tobias. Ich denke, er freut sich mindestens so sehr wie ich, obwohl er etwas mehr Zurückhaltung übt.Eine der Vorbands hat angefangen zu spielen – leichte rhythmische Musik. Unsere Laune kann nur noch besser werden. Wir machen uns langsam auf den Weg, um gute Plätze zu finden. Tobias und ich gehen ein paar Schritte hinter Penny und Mark. Wenigstens bei ihm darf ich mich einhängen. Er erklärt mir gerade die historische Verbindung von Jazz und Rassentrennung. Wenn ich ihm zuhöre, ist das immer so eine Mischung aus Genuss und Nervosität, weil es mich wirklich interessiert und ich mehr davon erfahren möchte, aber ich auch weiß, dass es ein bisschen später schon wieder vorbei ist und es so viel gibt, worüber man sprechen kann, aber so wenig Zeit.Innerer Seufzer. Das war's wohl mit weniger dramatisch sein. Ich versuche, mich wieder auf meine Aufgabe zu konzentrieren: die Gruppe zusammenhalten. Seitdem ich klein war, war ich immer die Person, die versucht, alle in der Gruppe miteinander zu verbinden und dafür zu sorgen, dass alle ihren Spaß haben.Tobias scheint darauf keinen großen Wert zu legen. Wir haben uns eindeutig in drei Gruppen unterteilt, und ich hinterfrage gerade mein Konzept von „alle zusammen". Vielleicht sollte ich es einfach so lassen, wie es ist. Wir bleiben irgendwann stehen, und ich bin auf nichts anderes mehr konzentriert als auf das Gespräch, bis die Hauptband die Bühne betritt. Zwischen den verschiedenen Bands haben wir gerade so Zeit, kurz über unsere Eindrücke zu sprechen, und schon kommt die nächste. Die Zeit vergeht wie im Flug.Irgendwann fordert einer der Sänger das Publikum dazu auf, Freiwillige zu entsenden, um das letzte Lied mitzusingen. Bevor ich irgendetwas sagen kann, hat mich Tobias am Arm genommen und mit auf die Bühne gezogen. Ich bin verurteilt. Ich kann nicht singen, und das ist kein Fishing for Compliments. Ihr könntet mich ja nicht mal singen hören, aber NOCH kann ich nicht singen. Zu meiner großen Erleichterung sind die Mikrofone, die man uns gibt, auf äußerst sehr, sehr leise gestellt. Man wollte also kein Risiko eingehen, und es wurde nur zur Show gemacht. Zum Glück, aber die Erfahrung war es allemal wert.Als wir wieder unversehrt an unseren Plätzen stehen, beugt sich Penny zu mir und flüstert mir ins Ohr: „Wie schade, dass ich das nicht aufgenommen habe. Das wäre das perfekte Video für eure Hochzeit." Ich versuche, meinen erstaunten „Ich habe dich nicht verstanden"-Blick zu machen und schaue weg. Meine Lieblingsstrategie, um vor Aussagen oder Fragen zu fliehen, auf die ich keine Antwort weiß. Es ist zwar auf die Gefahr hin, etwas dümmlich zu wirken, aber das Risiko gehe ich ein.Als wir uns mit Hannah und Jamie Richtung Ausgang wenden, merken wir, dass Penny und Mark nicht mehr da sind. Also teilen wir uns auf und fangen an, sie zu suchen. Mit meinem Glück finde ich sie natürlich nach zwei Minuten. Aber entgegen aller unserer Erwartungen (ja, ich weiß, was ihr dachtet) stehen sie neben einer Familie, die sie zu kennen scheinen. Mark hat ein kleines blondes Mädchen im Arm, dessen Blick aufmerksam auf Penny gerichtet ist, während sie ihm etwas zu erzählen scheint. Bevor sie mich sehen können, hole ich mein Handy raus und mache ein Foto. Vielleicht bin ich hoffnungslos romantisch, aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass das eine Prophezeiung ist. Btw., ich sollte gewisse hellseherische Fähigkeiten in Betracht ziehen. Nein, okay... ja, es war ein Spoiler, aber nicht so schlimm, wie ihr denkt. Ihr erfahrt schon auf der nächsten Seite, wie es weitergeht.Unser Jazz-Tag endet jedenfalls so plötzlich, wie er angefangen hat, und am Abend falle ich unglaublich müde, ein bisschen verzweifelt, aber überglücklich in mein Bett. Eine Sache weiß ich jetzt ganz sicher: Es ist schlimmer als ich dachte. Als sie ihre Verlobung bei einer Firmenfeier bekanntgeben, stand ich im Publikum und ließ ihn nicht aus den Augen. Wer bildet er sich nur ein, zu sein? Es wäre auch falsch zu sagen, dass ich traurig bin, denn eine Verlobung ist noch gar nichts. Ich bin kampfbereit.Als sich die Gruppe langsam auflöst, gehe ich auf die beiden zu. Sie strahlt wie ein Honigkuchenpferd, und ein kleiner Anflug von Mitleid überkommt mich. Aber ich tröste mich mit dem Gedanken, dass ich sie ja letztendlich auch aus einem ungleichen Gespann rette. Wie kommt sie auch nur annähernd auf die Idee, dass sie die Richtige sein kann? Sie sieht aber neben mir, ohne allzu eingebildet klingen zu wollen, auch etwas fad aus. In meinen hautengen Highwaisted-Hosen und dem blau-weiß gestreiften ebenso engen Jersey – was soll ich weiter dazu sagen? Sie hatte keine Chance.„Also, das kam ja wirklich überraschend." Ich hebe mein Glas. „Aber herzlichen Glückwunsch, ihr seid ein ganz nettes Paar." Sie errötet freudig, und in seinen Augen sehe ich die Wut aufblitzen. Ich weiß, wie sehr er das Wort „nett" hasst. „Wirklich ganz nett." Ohne ein weiteres Wort verlasse ich die beiden und gehe zu einem der Stehtische, um mir ein weiteres Glas Sekt zu gönnen. Keine Minute später steht er neben mir. „Was sollte das gerade?" Ich schaue ihn mit großen unschuldigen Augen an. „Was meinst du? Ich habe euch doch nur gratuliert. Sie ist ein ganz liebes Mädchen, und ihr werdet bestimmt ein wunderbares, ganz, ganz friedliches Leben miteinander führen." Ich kann es mir nicht verkneifen, bei „friedliches" eine Augenbraue hochzuziehen. Unsere Blicke suchen beide sie und finden sie glücklich lächelnd in einer Gruppe Gratulierender – die strahlende Unschuld. Er schaut mich von der Seite an. „Du weißt, dass du auch oft so aussiehst!" „Ja, AUSSEHEN." Ich betone das Wort „Aussehen". „Mein Lieber, du weißt, dass das nicht dasselbe ist. Dazwischen liegt ein gewaltiger Unterschied."Immer wieder an meinem Glas nippend, lehne ich mich an den Stehtisch. „Eine Zigarette wäre jetzt toll!" Er schaut mich an und weiß sofort, was ich meine. Nichts würde jetzt noch besser zu meiner Rolle passen. Aber er wird sofort wieder ernsthaft. „Was willst du?" Ich lege meine Hand auf seinen Unterarm und nähere mich seinem Ohr. „Nur, was mir gehört." Ich stelle mein Glas ab und nehme wieder meine Clutch, nur um ganz nebenbei zu erwähnen:„Du weißt, dass du es spätestens nach einem Jahr bereuen würdest, sie geheiratet zu haben."
Ich bin schon zwei Schritte von ihm weg, da höre ich ihn fragen: „Und mit dir?" Ich lache und gehe weiter. An der Tür bleibe ich stehen und sehe, dass er mir ein paar Schritte gefolgt ist. „Nach einem Jahr mit mir, da gäbe es ganz andere Sachen, die du bereuen würdest."Mit einem tiefen Seufzer kuschle ich mich noch tiefer in meine Decke. Es gibt doch nichts Besseres, als sich von Zeit zu Zeit auf realistische Szenarien vorzubereiten. Ich muss schon sagen, mit der Wortwahl und dem Auftreten bin ich sehr zufrieden. Er ist zwar nicht annähernd mit irgendjemandem verlobt, aber wie heißt es so schön? Vorsicht ist besser als Nachsicht. Überhaupt, die Szene ist so gut, dass ich basierend darauf ein Buch schreiben sollte.Als ich am Montag in die Arbeit komme, sehr pünktlich und vollkommen tiefenentspannt, habe ich ein Gefühl von allgemeiner Aufregung. Irgendetwas ist los. Ja, natürlich: Wir fangen heute an zu drehen. Für tendenziell minimalistische Spots, bei denen die Nachbearbeitung wichtiger ist, haben wir sogar eigene Räumlichkeiten im Gebäude. Obwohl ich eigentlich nicht zum eigentlichen Filmteam gehöre, gehe ich mal nachschauen. Die ganz offiziellen Dreharbeiten fangen auch erst in einem Monat an, aber der Spot mit Hope wird heute schon gemacht, um einen gewissen Teasereffekt dann auch mit ihrem YouTube-Video zu erzielen. Aber als ich den Raum betrete, herrscht eine ganz schlechte Stimmung. Was ist los?Ich sehe in der Ecke Hannah stehen, mit ihren Augenbrauen zusammengezogen. Sie schiebt immer wieder ihre Brille hoch – das ist kein gutes Zeichen, gar kein gutes Zeichen. „Hey, guten Morgen. Was ist los? Warum siehst du so missmutig aus?" „Es geht gerade alles schief. Hope ist nicht gekommen, und als wir sie angerufen haben, hat sich direkt ihr Anwalt gemeldet, und jetzt herrscht gerade ein riesiges Spektakel." Im Raum um uns herum herrscht eine nervöse Rastlosigkeit. Niemand weiß, was gerade passiert. Die Kameraleute und unsere Make-up-Artistin wissen nicht, wohin mit sich. Mit Hannah am Arm machen wir uns auf den Weg zu unserem Raum, vielleicht weiß jemand aus unserem Team mehr, obwohl Probleme dieser Art überhaupt nicht in unser Metier gehören. Mark sitzt an seinem Schreibtisch, und Penny ist an seinen Stuhl gelehnt. „Wart ihr gerade unten? Wisst ihr irgendetwas Neues?" fragt uns Mark, bevor wir überhaupt bei ihnen sind. „Nope." Ich schüttle den Kopf. „Ich weiß von gar nichts." Auch Hannah macht so eine verzweifelte Miene, dass er sie gar nicht erst fragt. Wir beschließen, an dem weiterzuarbeiten, was wir noch zu tun haben, und eine halbe Stunde später sehen wir das Drehteam durch die Glaswand den Gang entlang rausgehen. „Hey, Tobias hat mir geschrieben." Wir gehen alle zu Mark an den Tisch. Er hat sich gerade mit unserem Anwalt und ihrem Anwalt getroffen, und sie möchte den Vertrag für ungültig erklären lassen. „Aber warum denn?" Mark schaut von seinem Handy auf und schaut mich an.

Ein Buch mit Happy EndWo Geschichten leben. Entdecke jetzt