Kapitel 10

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Erschöpft lasse ich mich auf mein Bett sinken. Ich werde es erst nach dem Essen beziehen, jetzt habe ich dafür keine Lust. Aber ich kann schon die Bettbezüge aus dem Schrank holen. Mit neuem Enthusiasmus stehe ich auf und gehe rüber zu meinem Mit noch immer nassen Haaren trete ich aus dem Badezimmer. Tōru lässt normalerweise seine Zimmertür offen, wenn ich da bin, da wir uns immer über den Flur unterhalten. Durch das nicht brennende Licht und durch die Geräusche, die ich von unten vernehme, schließe ich darauf, dass mein Bruder schon das Essen vorbereitet.



Langsam schlurfe ich in mein Zimmer und begutachte dieses. Alles unverändert. An der Wand steht mein Bett, vor dem Fenster ein Schreibtisch und an der anderen Wand steht mein verspiegelter Kleiderschrank. Im Gegensatz zur Größe des Hauses ist mein Zimmer relativ klein. Als ich hier eingezogen bin, habe ich mir aber genau dieses ausgesucht, da die Fenster Richtung Osten und Süden ausgerichtet sind und die Sonne sehr schön ins Zimmer scheint. Der andere Nebeneffekt ist, dass ich eine normal ordentlich/-unordentliche Person bin und so nicht immer so viel aufräumen muss. Tōru hingegen ist die Sauberkeit schlecht hin. Alles muss an Ort und Stelle sein, ansonsten bekommt er ein kleines Identitätsproblem.
Schrank. Schnell finde ich meine grüne Bettwäsche, dazu hole ich das graue Spannbettlaken heraus und drapiere alles auf dem hinteren Ende es Bettes.



„CIRE, ESSEN IST FERTIG!" Oh mein Bruder ist schon fertig? Das ging schnell „KOMME!" Mom würde durchdrehen. Sie mag es überhaupt nicht, wenn im Haus gebrüllt wird. Um ehrlich zu sein, macht das Dad auch, wenn sie nicht da ist. In halsbrecherischem Tempo eile ich die Treppe herunter. So wie ich Tōru kenne, werden wir nicht am Essenstisch, sondern am Couchtisch vor dem Fernseher essen.



„Du hast ja wirklich an alles gedacht, sogar an die Essstäbchen", verblüfft schaue ich den Braunhaarigen an. Beleidigt plustert er seine Backen auf: „Was denkst du denn? Natürlich denke ich daran." Feixend rücke ich ihm auf die Pelle: „So wie beim letzten Mal?" Der Zweitklässer wirft nur seine Arme in die Luft, was mich zum Lachen bringt. Er vergisst immer die Stäbchen, die Sojasoße, die Sesamkerne oder die Chilipaste. Dann muss er immer aufstehen und das jeweilige Utensil aus der Küche holen. Wenn er sich hingesetzt hat, fällt ihm auf, dass etwas anderes fehlt, deshalb kann es sein, dass er bis zu fünfmal hin- und herläuft. Ich will mich nicht ausnehmen, dass mir sowas nicht auch passieren könnte.



„Was willst du schauen?"



Verblüfft schaue ich ihn an: „Sag mal, bist du krank? Sonst entscheidest du doch immer." Ich bin komplett geschockt. Ist mein Bruder etwa wirklich krank?



Als Reaktion bekomme ich nur ein genervtes Augenverdrehen: „Da ist man einmal nett... Entscheide jetzt du Frosch oder wir schauen das letzte Spiel von deiner Oberschule!" Hey, kein Grund so genervt zu sein Brüderchen... Meine Güte, welche Laus ist ihm vorher beim Essenmachen über die Leber gelaufen? Wäre ich jetzt nicht ich, hätte ich es dabei gelassen, aber da ich nun mal Cirella Oikawa bin, muss ich natürlich nachbohren.



„Was denn los Tōru? Sonst bist du doch nur zu anderen angepisst? Und nenn mich nicht Frosch, sonst nenne ich dich Schlumpf!" Empört unterstreiche ich den letzten Teil des Satzes, indem ich die Arme verschränke. Wie du mir so ich dir. Mein Bruder seufzt nur: „Ich bin es nur nicht gewohnt, dass du dort bei denen in die Oberschule gehst. Bei Ushiwaka. Warum hast du dich nicht für Seijoh entschieden?"



Nachdenklich schaue ich hinunter in meine Ramenschüssel. Das ist eine wahrlich sehr gute Frage. Ich schiebe die Nudeln in meiner Schüssel herum, während die Frage meines Bruders in meinem Kopf nachhallt. Warum habe ich mich wirklich für Shiratorizawa entschieden? Ein Teil von mir wusste, dass diese Frage irgendwann kommen würde, aber jetzt, wo sie ausgesprochen ist, fällt es mir schwer, eine klare Antwort zu formulieren.



"Ich weiß nicht," murmele ich schließlich und schiebe eine kleine Menge Ramen in meinen Mund, mehr, um die unangenehme Stille zu füllen als aus Hunger. "Ich schätze, es hat sich einfach richtig angefühlt."



Tōru mustert mich schweigend, sein Blick durchdringend und doch irgendwie verletzlich. Es ist selten, dass er so ernsthaft ist. Normalerweise überspielt er seine Sorgen mit einem selbstbewussten Lächeln oder einer spöttischen Bemerkung, aber in diesem Moment wirkt er... unsicher. Und das ist für meinen Bruder, den großen Oikawa Tōru, fast unvorstellbar.



"Du bist mir doch nicht böse, oder?" frage ich vorsichtig und lege die Essstäbchen beiseite.



Er zuckt mit den Schultern und starrt in seine eigene Schüssel. "Nein, nicht wirklich. Es ist nur... Ich habe nur erwartet, dass wir unsere Oberschulzeit zusammen verbringen werden, da du vorher in Tokyo an der Mittelschule warst, weißt du. Und jetzt gehst du auf eine Schule, die so... anders ist."



Ich verstehe, was er meint. Shiratorizawa ist in vielerlei Hinsicht das komplette Gegenteil von Seijoh. Die Erwartungen, der Druck, die Konkurrenz – all das hat mich in der ersten Woche geplättet. Klar hatte ich an der Mittelschule auch viel Konkurrenzdruck, aber Oberschule ist nun einmal Oberschule. Aber es gibt auch etwas, das mich dort anzieht, ein Ziel, das ich erreichen will, unabhängig von Tōru.



"Ich wollte einfach mal sehen, ob ich ohne dich klarkomme," gebe ich leise zu. "Du hast mich immer in jede Aktivität mit deinen Freunden eingebunden, aber ich wollte auch unabhängig von deinem Volleyballclub Freunde finden. Außerdem wollte ich nicht jeden Tag deine Fangirls sehen." Das bringt ihn zum Lachen, ein ehrliches, warmes Lachen, das die Anspannung im Raum löst. "Oh, also eine Herausforderung, was? Ich wusste gar nicht, dass du so ehrgeizig bist."



Ich grinse, froh, dass er die Sache nicht allzu schwer nimmt. "Du bist nicht der Einzige in dieser Familie, der etwas beweisen will, Tōru."



Er schnaubt gespielt empört, bevor er mir in die Seite stupst. "Frechheit sowas zu behaupten! Dafür schaue ich jetzt, was ich will." Und so lehnen wir uns beide zurück, während er die Fernbedienung in die Hand nimmt und durch die Kanäle zappt. Der vertraute Klang des Fernsehers und das leise Klappern unserer Essstäbchen begleiten uns, während wir uns in die gewohnt entspannte Routine fallen lassen. Trotz aller Unterschiede und neuen Wege, die wir gehen, weiß ich, dass diese Momente zwischen uns für immer bestehen bleiben.



Während Tōru durch die Kanäle zappt, lasse ich meinen Blick kurz zu ihm gleiten. Es gibt diesen Moment, in dem alles still wird und ich realisiere erneut, wie sehr er mir ans Herz gewachsen ist. Auch wenn wir nicht blutsverwandt sind, fühlt es sich so an, als wären wir es schon immer gewesen.



„Weißt du, Cire," sagt er plötzlich, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen, „auch wenn ich ein bisschen enttäuscht war, dass du nicht nach Seijoh gekommen bist... ich verstehe es. Manchmal muss man seinen eigenen Weg gehen." Seine Worte überraschen mich, und ich spüre, wie sich eine warme Dankbarkeit in mir ausbreitet. „Danke, Tōru. Ich hätte es nicht besser sagen können."



Er grinst, ohne mich anzusehen, und bleibt schließlich bei einem Volleyballspiel hängen, das auf einem der Kanäle läuft. „Aber nur weil du deinen eigenen Weg gehst, heißt das nicht, dass ich dich nicht mehr unterstützen werde. Und wenn es sein muss, werde ich dir auch mal einen Rat geben... wenn du lieb fragst." Ich lache und lehne mich zurück in die Couch, nehme meine Essstäbchen wieder in die Hand. „Das werde ich im Hinterkopf behalten, Schlumpf."



Er lacht leise und wirft mir einen amüsierten Blick zu. Unser Blickkontakt bricht, als das Volleyballspiel im Fernsehen in die entscheidende Phase geht und ich kann spüren, wie Tōrus Interesse erwacht. Er beugt sich nach vorne, seine Augen leuchten vor Aufregung. „Das ist Ushiwaka, sieh mal, wie er den Ball schlägt... unglaublich und gleichzeitig auch unheimlich ekelhaft!"



Ich nicke, beobachte den Bildschirm, während die Spieler sich auf dem Feld bewegen. Tōru ist vollkommen in das Spiel vertieft. „Tōru," beginne ich leise, „ich glaube ich habe mich verliebt."



Rückartig dreht er seinen Kopf zu mir, Ushiwaka im Fernseher war schon lang vergessen. „Was hast du gerade gesagt?"

Kleine Schwestern sind die wahren Herrscher über das SpielfeldWo Geschichten leben. Entdecke jetzt