Kapitel 4

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Oh shit, shit, shit. Ich komme definitiv zum ersten Tag zu spät! Man, wieso muss gerade mir immer so etwas passieren? Das kann doch nicht wahr sein! Gestern, nachdem mir Nyra-senpai ihre Teamkameraden vorgestellt hat, sind wir noch die wichtigsten Punkte im Schulgebäude abgeklappert, sprich mein Klassenzimmer, die Bibliothek und das Sekretariat, in dem wir auch gleich meine Schuluniform abholten. Was soll ich sagen... Lila steht mir einfach nicht, aber dadurch, dass nur der Rock und die Krawatte, ja die Krawatte, weil ich überhaupt nicht auf Schleifen stehe, in dieser Farbe sind, ist es eigentlich ganz annehmbar. Eigentlich. Meine Uniform von der Mittelschule war einfach schöner, obwohl sie in einem eher langweiligen grau war.

Jedenfalls sind wir gestern Abend erst sehr spät ins Bett gefallen, da wir uns noch ein bisschen unterhalten haben und danach konnte ich einfach nicht einschlafen. Irgendwie vermisse ich meine Familie jetzt schon. Vor allem Tōru. Viele behaupten, dass er nur der arrogante König, der unantastbar ist. Aber so ist er nur auf dem Spielfeld und wenn er auf seinen Kohai Tobio-chan trifft. Zu mir ist er immer nett und zuvorkommend. Als ich die ersten Nächte nicht in Sendai schlafen konnte, durfte ich immer zu ihm. Es ist einfach schön jemanden zu haben, der immer für einen da ist, dich unterstützt und dich auch als kleine Schwester innerhalb von kürzester Zeit anerkannt hat. Und jetzt habe ich verschlafen, bin mega unmotiviert und viel zu spät dran. Gott sei Dank muss ich nicht auch noch duschen, da ich dies bereits gestern Abend erledigte.

Aber zu meiner Verteidigung: Nyra-senpai hat genauso verschlafen wie ich. Zusammen rennen wir zu dem großen A- bzw. B-Gebäude, da dort unsere Klassenzimmer sind. Zum Glück sind wir gestern noch bis zu meinem Klassenzimmer gegangen, sodass ich es nun relativ leicht finden kann. Leicht genervt drängle ich mich an den anderen Schülern vorbei, die noch munter auf den Fluren quatschen. Bin ich vielleicht doch nicht so spät dran? Egal! Wenn es nach mir geht, bin ich auf jeden Fall zu spät. Ich bin ein absoluter Pünktlichkeitsmensch.

Völlig abgehetzt stehe ich nun endlich vor dem Klassenzimmer. Meine Krawatte ist auch noch ungebunden. Super. Ganz super. Ich hoffe, dass die Mädchen und Jungs in Ordnung sind und nicht ganz so versnobt.

Während ich das Klassenzimmer langsam betrete, binde ich mir schnell die Krawatte ordentlich. Normalerweise würde ich mir einen Platz am Fenster suchen, da mir im Sommer bei geöffnetem Fester ein leichter Wind über das Gesicht streift und im Winter wärmt mich die Heizung. Aber das Fenster ist auch gleichzeitig eine große Versuchung, um sich vom Unterricht ablenken zu lassen.

Ruhig schaue ich mich um. Alle Fensterplätze sind eh schon so gut wie belegt und an der Tür möchte ich mich auch nicht wirklich niederlassen. Am Besten ist also für mich also die Mitte. Da kann ich auch die meisten Verbindungen und Freundschaften zu meinen neuen Klassenkameraden schließen. Einige scheinen sich schon von der Mittelstufe zu kennen, also hab ich es ein bisschen schwieriger.

Inzwischen habe ich mir nun einen Platz in Mitten der Klasse gesucht und es sind immer mehr neue Schüler in den Raum geströmt. Etwas beklommen schaue ich mich um. Die anderen Schüler schwatzen munter miteinander und ich fühle ich etwas fehl am Platz. Gemächlich packe ich trotz fortgeschrittener Zeit mein aktuelles Buch aus. Auf dem Cover kann man einen Urwald erkennen und der Titel verrät auch nicht so viel über den Inhalt. In >Das Leben der Kothoga< geht es um ein indigenes Volk nahe des Amazonasbeckens und über ihre noch mehr oder weniger unbekannte Kultur.

Vor ein paar Jahren gab es einen riesigen Medienrummel über das Buch, als die Autorin Dr. Margo Green es zusammen mit dem Journalisten Bill Smithback veröffentlichte. Man war der Meinung, dass eine fast ausgestorbene indigene Kultur mit ihrer Religion nicht als Unterhaltung dienen sollte, sondern als Kulturgut betrachtet und geschützt werden sollte. Bisher habe ich noch nicht so viel gelesen, aber ich kann jetzt schon sagen, dass es mir richtig gut gefällt; es kommen zwar viele Fachbegriffe vor, aber es ist trotzdem für einen Laie, wie mich, lesbar. Wenn ich einmal anfange ein spannendes Buch zu lesen, vergesse ich die komplette Welt um mich herum und bin meistens nicht ansprechbar. Ich versinke komplett in der Welt, die in Büchern beschrieben wird. Vor allem lese ich im Moment eher wissenschaftlich Bücher und Thriller, die wissenschaftliche Themen behandeln.

"Ist hier neben dir noch frei?"

Verwirrt schaue ich nach oben und erblicke einen Jungen mit Topfschnitt. Meint er etwa mich mit seiner Frage? Unsicher blicke ich mich um, aber keiner scheint sich auf uns zu konzentrieren oder gar zu beachten. Anscheinend war wohl doch ich gemeint. Leicht lächle ich den Jungen an: "Klar ist neben mir noch frei. Du kannst dich sehr gern setzen." Dankend lächelt nun auch er mich an, bevor er sich auf dem Stuhl niederlässt, seine braune Tasche neben den Tisch stellt und sich mir zuwendet. "Übrigens, ich bin Shirabu Kenjirō. Freut mich dich kennenzulernen. Weißt du schon welchem Club du beitreten möchtest? Ich bin hauptsächlich wegen dem Volleyball hierhergekommen. Mein Traum ist es Ushijima-senpai zuzupitschen."

Leicht mustere ich ihn. Er scheint im Moment sehr aufgeregt zu sein. Vielleicht kommt er, genauso wie ich, auch von einer anderen Mittelschule. "Freut mich auch dich kennenzulernen. Bist du nur wegen dem Volleyball auf diese Oberschule gegangen?" Ungläubig schaue ich ihn an. Ist das sein Ernst? Die Shiratorizawa hat so viel mehr zu bieten als nur das Volleyballteam.

Shirabu-san lacht lauthals auf: "Nein, das war nicht der Hauptgrund. Ich überlege später vielleicht Medizin oder etwas dergleichen zu studieren. Außerdem ist es für mich etwas leichter einen Platz an einer renommierten Universität zu bekommen, wenn ich meinen Abschluss hier erhalte." Verstehend nicke ich: "Medizin hört sich aber schwierig an. Ich glaube, dass ich eher im technischen Bereich studieren möchte, aber ich weiß noch nicht was genau. Übrigens, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt; ich bin-"

Weiter komme ich nicht, da es auf einmal ganz leise geworden ist und jeder auf seinem Platz sitzt. Ich habe gar nicht mitbekommen, wie der Lehrer das Klassenzimmer betreten hat. Synchron steht die gesamte Klasse auf, um die Lehrkraft zu begrüßen. Bei der Lehrkraft handelt es sich um eine etwas ältere Frau in der Mitte der Fünfziger mit einem strengen Dutt am unteren Ende des Kopfes. Ihr Haar ist schon von vielen grauen Strähnen durchzogen. Auf den ersten Blick eine sehr strenge Lehrerin, aber die kleinen Lachfältchen um die Augen lassen ihre gesamte Erscheinung freundlicher wirken.

Nachdem sie sich als Matsumato-sensei vorgestellt hat, geht sie die Anwesenheitsliste durch. Jeder musste seinen Namen bestätigen und kurz aufstehen. Durch meinen Nachnamen, der etwas weiter hinten im Alphabet kommt, habe ich etwas Zeit meine Mitschüler zu betrachten. Wir sind eine relativ kleine Klasse mit ca. 20 Personen, davon sind etwas weniger als die Hälfte Mädchen. Aber alle scheinen auf den ersten Blick recht nett zu wirken.

Lächelnd schaue ich nach rechts zu Shirabu-san. Meinen Blick quittiert er mit einem Lächeln. Dies lässt mich auch ganz automatisch lächeln, bis mein Blick wieder zurück zur Tafel schweift. Matsumato-sensei hat ihren Namen darauf geschrieben. Den Kopf stütze ich auf meiner Hand und analysiere ich die Schriftzeichen ihres Namens.

"Und jetzt kommt Kawa Cirella..."

Ich runzle meine Stirn. Meint sie mich? Natürlich muss sie mich meinen. Ich meine der Name Cirella kommt jetzt nicht so häufig in Japan vor. Langsam stehe ich auf und antworte ihr mit: "Hai", bevor ich mich wieder auf meinen Stuhl niederlasse.

Auf einmal vernehme ich eine leise männliche Stimme von rechts: "Freut mich dich kennenzulernen Kawa-san. Wir wurden ja vorher unterbrochen, bevor du mir deinen Namen verraten konntest." Gegen Ende zwinkert er mich zu. Leise muss ich auflachen und schüttle dabei etwas meinen Kopf. Der Typ ist echt unglaublich.

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Kleine Schwestern sind die wahren Herrscher über das SpielfeldWo Geschichten leben. Entdecke jetzt