Cassandra schlief fest. Warm und weich an Fenris gekuschelt schlief es sich wirklich nicht schlecht. Sonst waren ihre Nächte immer von Albträumen gefangen genommen worden, aber in seltenen Nächten wie diesen war es ihr vergönnt auch mal durchzuschlafen. Die ersten Sonnenstrahlen fielen in ihr geschütztes Versteck und weckten Cassandra langsam. Aber überraschender für sie kam nicht der anbrechende Morgen, sondern die feuchte Zunge, die über ihre Wange schleckte.
"Was zum...?", fragte sie als die feuchte Wolfsnase ihr wieder übers Gesicht schnupperte. Fenris hatte das bereits geweckt; er saß bereits aufrecht neben ihr und schaute sich aus großen Augen an.
"Guten Morgen, ihr zwei."
Cassandra streichelte Fenris liebevoll über das weiche Fell. Hjalmar dagegen war immer noch zurückhaltender ihr gegenüber und kam nur langsam näher als Cassandra die Hand nach ihm ausstreckte. Es würde noch eine ganze Weile dauern bis das Tier ihr vertraute. Er ähnelte dadurch seinem Herrn umso mehr. Ihr waren gestern nicht die durchbohrenden Blicke entgangen mit denen Hraerek sie angesehen hatte. Bisher hatte es noch kein Mann geschafft sie so aus dem Konzept zu bringen. Sie würde liegen, wenn sie behauptete, dass ihr seine Berührungen unangenehm waren. Ganz im Gegenteil: Wie seine rauen, warmen Hände über ihren Körper streichelten war mehr als sie selbst aushalten konnte. Allein der Gedanke reichte aus, dass sich ihre Wangen rot färbten und ihr Herz schneller schlug. Verlegen streichelte sich die Locken aus dem Gesicht und fischte in ihrem Rucksack nach einem Haargummi. Ihre Haare würden ihr nur wieder im Weg sein. Cassandra flocht die dicken Strähnen zu einem festen Zopf. Das würde halten!
Ihre Schuhe waren inzwischen trocken und durch die Restwärme des Lagerfeuers schön warm. Sie zog die dicken Wanderschuhe an und griff nach ihrem Parker. Den flauschigen Schal wickelte sie sich zweimal um den Hals, bevor sie ihren Rucksack aufsetzte. Den langen Zopf zog sie unter der Jacke hervor, damit er nicht drückte. Ein letztes Mal schaute sie sich noch um, ob sie auch nichts vergessen hatte. Aber da die Chance sowieso sehr gering war, dass sie diese Höhle nochmal wieder sah, konnte es ihr eigentlich auch egal sein. Es wäre überhaupt das Beste, wenn sie sich sofort auf den Weg nach Hause machte. Die Frage war nur, wo das war?! Wenn sie Hraerek glaubte, dann war dies hier nicht nur eine andere Zeitepoche, sondern auch eine ganz fremde Welt.
Das Wichtigste war es zuerst möglich viel über ihre neue Umgebung zu lernen! Cassandra verstand es gut darin sich neuen Begebenheiten gut anzupassen. Das hatte in den letzten Jahren ihr das Leben deutlich einfacher gemacht. Aber jetzt musste sie erstmals einen Schritt nach vorne machen!
"Guten Morgen", sagte sie zu Hraerek. Er stand bereits Aufbruch bereit am Höhleneingang und wartete auf sie. Er schaute sie nur an, ließ aber seine grauen Augen über ihren Körper gleiten. Cassandra spürte wieder diese Wärme in ihrer Brust und wusste nicht ob es das war oder die morgendliche Kälte, die ihre Wangen wieder rosig färbte.
"Ich hielt es für das Beste, wenn die beiden Euch wecken. Ich wollte nicht riskieren, dass Ihr mir wieder die Nase brecht."
"Ich hab doch gesagt, dass es mir leidtut", antwortete Cassandra verlegen.
Das eben noch grimmige Gesicht wurde weich und kleine Grübchen bildeten sich als er sie anlächelte. Verdammt! Wie konnte sein Lächeln nur so sexy und anziehend sein?
Hraerek reichte ihr die Hand als sie aus der Höhle kletterten. Normalerweise hätte Cassandra dankend abgelehnt, aber sie war noch etwas unsicher auf den Füßen und wollte keinen weiteren Sturz riskieren. Zögernd legte sie ihre Hand in seine Große und war überrascht wie warm sie trotz der kalten Temperaturen war. Seine schwieligen Fingerkuppen strichen sanft über ihren Handrücken. Die vielen kleinen Narben auf seiner Hand zeugten von einem gefährlichen Leben. Er musste viel durchgemacht haben, doch trotzdem gab er ihr nur etwas Halt damit sie den steilen Abhang problemlos hinunter ging. Gleich danach lies er sie wieder los und sofort spürte Cassandra den kalten Wind und die bittere Kälte. Kaum hatte sie sich den Mantel enger um sich gezogen stand schon Fenris neben ihr und schmiegte sich an ihr Bein.
"Er muss Euch wirklich sehr gern haben. Ich habe noch nie gesehen, dass er eine Fremde so schnell ins Herz schließt."
"Dieses hübsche Kerlchen muss man doch auch einfach lieb haben", erwiderte Cassandra. Sie kraulte Fenris ausgiebig unter dem Kinn und hinter den Ohren. Der Wolf genoss sichtlich ihre Streicheleinheiten. Das weiche, graue Fell leuchte silbrig im ersten Morgenlicht.
Die Sonne ging gerade auf und tauchte die Lichtung in ein magisches, winterliches Licht. Die weißen Schneeflocken, die über Nacht gefallen waren, glitzerten wie Diamanten und die Eiszapfen an den dicken Ästen der Bäume brachen das Sonnenlicht, dass viele kleine Regenbögen auf der weißen Schneedecke zu sehen waren. Bisher kannte sie nur das dunkle, warme Innere der Höhle, die ihr in der letzten Nacht Schutz geboten hat, aber diese bezaubernde Landschaft ließ sie die Ängste und Schrecken vergessen.
Cassandra bemerkte nicht dass Hraerek sie genau beobachtete. Er wusste nicht was ihn mehr verzauberte: Ihr gelöstes und entspanntes Gesicht oder das Strahlen in ihren Augen. In der kurzen Zeit seitdem er sie gerettet hatte waren ihm schon so viele Gefühle an ihr aufgefallen: Angst, Freude, Traurigkeit und Begehren. Doch in diesem Moment, wo das Sonnenlicht auf sie schien und ihre feinen Gesichtszüge so unterstrich, war sie für ihn das schönste Geschöpf auf der Welt.
"Also, wohin gehen wir?", fragte Cassandra und holte Hraerek aus seinen Tagträumen heraus. Sie strich sich ein paar einzelne Löckchen aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten. Doch so gerne er das auch für sie machen würde, musste sie sich auf den Weg machen.
"Hier entlang", sagte er nur und Cassandra wunderte sich über sein Verhalten. Eben noch hatte er sie mit so einem Blick angeschaut, den sie nicht deuten konnte; keine Sekunde später war dieses Gesicht wieder einer grimmigen Maske gewichen. Dieser Mann war ihr ein Rätsel. Bisher hatte sie es gut verstanden ihre Gegenüber zu verstehen und einzuschätzen. Aber bei ihm biss sie auf Granit. Er war so widersprüchlich. In der einen Minute war er grimmig, in der anderen lächelte er. Doch wenn sie so weiter über ihn nachdachte, würde sie noch zurück bleiben.
Hraerek hatte bereits ein gutes Stück Vorsprung und Cassandra beeilte sich nicht zurück zu fallen. Fenris und Hjalmar liefen zufrieden neben ihnen her und tollten miteinander herum. Die Schneeflocken wirbelten nur so herum, wo die beiden hindurch jagten. Es machte großen Spaß den beiden zuzusehen. Doch was für die Wölfe wie ein Spaziergang war, wurde für Cassandra immer anstrengender. Sie waren bereits seit Stunden unterwegs und Hraerek legte ein strammes Tempo vor. Sie konnte gut mit ihm Schritt halten, aber die klirrende Kälte forderte ihren Tribut. Cassandra war bis auf die Knochen durchgefroren und trotz ihrer guten Kondition viel es ihr immer schwerer dem anstrengen Marsch zu folgen. Sie biss die Zähne zusammen und versuchte sich nix anmerken zu lassen. Was aber Hraerek nicht entging.
"Könnt Ihr noch etwas?", fragte Hraerek.
"Mach dir keine Gedanken um mich. Ich komme schon nach."
Cassandra glaubte ihn mit dieser Antwort beruhigt zu haben, aber da hatte sie falsch gedacht. Hraerek ging die wenigen Meter die sie trennten zurück und gab ihr den Trinkschlauch.
"Hier, trinkt. Es ist nicht mehr weit."
"Danke"
Der Alkohol tat ihr gut. Sie fühlte bereits wie sich die wohlige Wärme in ihren Knochen ausbreitete. Sie gab ihn Hraerek zurück und ging weiter. Fenris bemerkte ihre Müdigkeit und ging dicht bei ihr durch den tiefen Schnee. Vielleicht als Stütze oder auch nur als moralischer Beistand; egal was es war, Cassandra freute sich über seine Gegenwart. Das Tier war ihr, trotz der kurzen Zeit schon sehr ans Herz gewachsen.
Aber das änderte nichts an ihrer Situation. Wie würde es weiter gehen? Cassandra ging einer unbestimmten Zukunft entgegen, von der sie noch nicht wusste, ob sie sich darauf freuen oder fürchten sollte?
DU LIEST GERADE
Northern Legends
Historical FictionFür Cassandra sollte es eine entspannende Urlaubsreise in die weite, unberührte Wildnis Schottlands sein. Aber durch einen schrecklichen Unfall wird sie in eine weit, entfernte Welt geführt. Von der ungewohnten Umgebung fasziniert, dauert es nicht l...