Kapitel 12

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Cassandra war sauer. Sie wartete jetzt schon eine gefühlte halbe Stunde in der Großen Halle von Cielon auf den Jarl. Da sie keine Lust mehr hatte zu stehen, setzte sie sich kurzerhand auf eine der vielen Bänke, die an den Seiten bereit standen. Einer von Hraereks Dienern, er hatte sich ihr als Askel vorgestellt, versicherte ihr, dass der Jarl aufgrund seiner langen Reise noch müde war und erst später aufstehen würde. Da Cassandra nicht ohne ein Gespärch zu Hilda zurückkehren durfte, die ihr geraten hat den Streit mit Hraerek beizulegen, wartete sie dann eben noch.

Die Große Halle, in der sie sich befand war das größte Gebäude in Cielon. Askel erklärte ihr, dass es vor allem als Gerichtssaal genutzt wurde, aber auch wenn ein Fest anstand oder hoher Besuch erwartet wurde, wie es in ein paar Tagen der Fall sein sollte, wenn Jarl Gunnar aus der nächst gelegenen Stadt Wynton eintreffen würde. Die Schildhalle, wie man sie auch nannte, war gefühlt zehnmal so groß wie Hildas kleines Domizil mit vielen Tischen und Bänken, aber auch vielen bunt bemalten Schilden, die an den Wänden befestigt waren. Unter dem Dach aus Strohbündeln waren hölzerne Dachsparren montiert, von denen große Kronleuchter aus verschiedenen Geweihen hingen. Der Boden bestand aus einfachem Lehm, der festgetreten wurde.

Es wirkte alles etwas makaber und unwirklich, aber Cassandra wusste von den alten Geschichtsbüchern, dass das durchaus zu dieser Zeit normal war; oder besser gesagt in dieser Zeit. Sie hatte sich seltsamerweise schnell mit ihrer neuen Umgebung abgefunden, auch wenn ihr ein paar moderne Annehmlichkeiten fehlten. Vor allem eine Toilette! Danach kam die antibakterielle Seife, wenn sie Hilda dabei zuschaute, wie sie ihre Instrumente reinigte oder im schlimmsten Fall es gar nicht tat. Diese Leute hier hatten wohl noch nie etwas von übertragbaren Infektionen gehört, seufzte sie leise.

Die Zeit verging weiter und sie fragte Askel erneut, wie lange es noch dauern würde.

"Es tut mir leid, aber ich weiß nicht wie lange der Jarl noch zu schlafen wünscht. Ich wage auch nicht ihn zu stören."

"Das brauchst du auch nicht, Askel. Ich bin schon wach."

Diese Stimme war unverkennbar und Cassandra erhob sich schnell. Am hintersten Teil der Großen Halle war an der rechten Seite ein breiter Vorhang angebracht, der die Privatgemächer des Jarls von den Öffentlichen abgrenzte. Hraerek zog die beiden Vorhänge auseinander und trat auf die beiden zu. Er wirkte deutlich verkatert und hatte wohl zu viel getrunken. Herrgott, nochmal! Der Kerl stank, als wäre er in ein Schnapsfass gefallen. Cassandra versuchte kaum merklich die Nase zu rümpfen, was ihr aber schwer fiel, als er näher kam.

Wäre da nicht seine stolze Erscheinung und die zurückgezogenen Schultern, erinnerte seine zerlumpte Gestalt eher an einen Banditen. Und die schiefe Nase und das Blut auf dem Gesicht machten es auch nicht gerade ansehnlicher. Das Einzige, was Cassandra deutlich wahrnahm, waren seine stechenden Augen, die sich unverhohlen anstarrten. Sie hatte fast vergessen, was sie in ihr auslösten, diese schönen silbernen Augen, die ihren Zorn so schnell verdampfen ließen, wie ein Wassertropfen auf einem heißen Stein.

"Was kann ich für Euch tun, Cassandra?"

Hraereks Frage holte sie schnell zurück in die Wirklichkeit und sie räusperte sich.

"Ich komme von Hilda. Sie meinte, ich solle Euch etwas wegen der Unterbringung von Besuchern fragen und genauere Informationen einholen. Wisst Ihr etwas davon?"

"Natürlich. Mein guter Freund Jarl Gunnar Jörikson wird in zwei Tagen erwartet, mitsamt seiner Frau und seinem Gefolge. Ein Großteil wird hier untergebracht, während der Rest bei Hilda nächtigen wird. Sie hat ausreichend Betten und, so weit ich weiß keine schwerkranken Patienten. War das alles?"

Seine Frage klang eindeutig genervt, genau wie seine Stimmung, die sofort auf Cassandra überging. Dies hielt sie jedoch nicht davon ab ihre ärztliche Neugier zu zügeln.

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