Meine Kunst

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Wenn ich an Kunst denke, sehe ich Bleistiftzeichnungen vor mir. Detaillierte, realistische Zeichnungen, von mir aus auch mit Buntstiften. Aber sonst sehe ich nichts. Vielleicht ist es etwas einsichtig, wenn ich Collagen, Plastiken und Skulpturen nicht als Kunst definiere. Es ist jedenfalls nicht meine Kunst. Es ist die Kunst anderer. Und das ist das, was ich an dem Fach Kunst in der Schule so falsch finde. Ich finde es schrecklich, Plastiken und Skulpturen anzufertigen, meine Hände sind einfach nicht dafür gemacht. Viel lieber zeichne ich mit einem Bleistift in der Hand, mit dem ich jedes einzelne Detaill aufs Papier bringen kann, und wo ich nicht einmal Farbe brauche, weil Schwarz-Weiß meine Kunst definiert und damit auch gleichzeitig meine Gefühle und Gedanken. Wenn ich sage, dass ich mich für Kunst interessiere, und dass ich beim Zeichnen begabt bin, erwarten alle von mir, dass ich auch basteln und designen kann. Und wenn man es nicht kann, dann interessiert man sich nicht für Kunst.

Was ein Schwachsinn.

Mit schweren Schritten eile ich durch die Pausenhalle in meiner Schule zum Kunstraum, wo wir gleich eine praktische Klausur schreiben werden. Es ist früh am Morgen, ich bin erstaunlicherweise früher in die Schule gekommen als sonst und ich bin kaum aufgeregt. Eine Praktische Klausur ist nichts anderes als ein Produkt, dass man innerhalb von drei Stunden anfertigen muss. Und natürlich kommt ein Thema dran, das ich nicht ausstehen kann.

Jedenfalls - die Halle. Es ist keine Menschenseele auszumachen, meine Schritte hallen durch die ganze Halle und ich befürchte, dass ich hier eine Weile alleine verbringen muss, wenn keiner im Kunstraum sein sollte.

Ein Irrtum, wie sich herausstellt, als ich mich dem Kunstraum nähere. Ich werde langsamer, als ich eine Gestalt wahrnehme, die mir gefährlich bekannt vorkommt. Verdammt. Ich halte an, um nicht auf mich aufmerksam zu machen, richte schnell meine glatten braunen Haare, in dem ich sie mit den Fingern bürste, weil ich im Wind mit dem Motorrad gefahren war. Dann streiche ich meinen Mantel glatt und kratze mein Selbstbewusstsein zusammen, bis ich schließlich weitergehen konnte. Jedes Mal habe ich Bauchschmerzen, wenn ich ihn sehe. Auch jetzt, wo er vor dem Kunstraum steht, mit tanzenden blonden Locken um seine Ohren, den Rücken an die Wand gelehnt und mit seiner geliebten dunkelblauen Jacke, die seine Schultern breiter aussehen lässt, als sie eigentlich sind. Man sagt, die Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Als Kurs sind wir öfter zum Kunstmuseum gegangen, und mehr als die Hälfte der Bilder fand ich absolut hässlich. Mal verstand ich die Aussage des Bildes nicht oder hatte die Vorangehensweise des Künstlers zu kritisieren. Ich mein - Ich verstehe, dass es in Kunst eher darum geht, die Gefühle deutlich zum Ausdruck zu bringen: Man kann Kummer, Wut und Angst in so vielen verschiedenen Weisen veranschaulichen... Aber dann kann doch jeder die Kunst praktizieren, oder? Von mir aus könnte jeder, der Kummer, Wut und Angst empfindet, einen Strich aufs Papier malen und es für 20.000 Euro verkaufen. In welcher Welt soll das fair sein?

Als ich mich ihm nähere, merkt er, dass jemand da ist. Ich kenne ihn inzwischen schon gut genug, um zu sagen, dass er introvertiert ist. Denn sobald ich ankomme, landen seine Hände in den Hosentaschen und er senkt den Blick sofort, um mir nicht in die Augen zu schauen. Ich seufze leise auf. Jahrelang habe ich ihn nicht aus den Augen gelassen, nur damit ich ihn vielleicht einmal damit erwischen kann, dass er zu mir rüber schaut. Denn ja, auch ich bin introvertiert und gucke ungern fremde Menschen an. Er war jedoch ein fremder Mensch, den ich gern anschaue und von dem ich hoffe, dass er mich auch sieht. Schließlich liegt die Schönheit im Auge des Betrachters.

Nun, jetzt waren wir alleine. Alleine in einer gigantischen Schulhalle. Er ist ein Mensch, der mit der Bahn zur Schule fährt und deshalb lieber früher da ist, als zu spät. Und ich bin ein Mensch, die sich nur an wichtigen Tagen die Mühe macht, früher in der Schule anzukommen.

Nur weiß er es nicht. Er weiß nichts über mich, obwohl ich ihn schon teilweise kenne.

Und genau das möchte ich nicht.

"Und? Hast du schon die Analyse für Englisch geschrieben?" Ich setze mein schönstes Lächeln auf und schaue ihn an. Doch er würdigt mich keines Blickes.

"Nein", schnaubt er belustigt. Immer noch kein Blick zu mir.

Mein Herz wird schwer. Wir haben viele gemeinsame Interessen, von Sport bis zur Musik, aber es gibt dennoch so wenig Worte, die wir austauschen können. Ich bin mir sicher, dass wir nur ein Gespräch brauchen würden, damit wir uns kennenlernen. Deshalb gebe ich nicht auf und rede weiter. "Ich auch nicht" Dann schaue ich zum leeren und dunklen Kunstraum. "Ist Frau Kiefer noch nicht da?"

Er schüttelt den Kopf und seine Locken wackeln herum. Manchmal finde ich es nicht schlimm, dass er mich nicht anguckt, weil ich ihn dann so lange anschauen kann wie ich will. Seine wilden Locken und die Grübchen, die auftauchen, wenn er lächelt. Doch ich wünschte, er könnte meine Grübchen auch sehen. "Ihre Tasche liegt aber da", erwidert er und ich bin überrascht, dass es nicht bei dem Kopfschütteln geblieben ist. Immerhin.

Aber das Glückgefühl hält nicht lange, weil ich nicht mehr weiß, worüber wir reden sollen, solange keiner da ist. Und so stehen wir da. Ab und zu gehen Lehrer an uns vorbei, aber keiner davon ist Frau Kiefer, die uns erlösen kann von der unerträglichen Anspannung, die zwischen uns herrscht. Ich kämpfe mit meinem Inneren, nicht loszuheulen. Denn es ist so absurd: Ein hoffnungsloses, junges Mädchen, die die Aufmerksamkeit eines Jungen sucht, der sie nicht einmal für eine Sekunde anschauen kann. Denn wer sonst würde sich für sie interessieren, wenn nicht der, der die meisten Interessen mit ihr teilt? Würde sie jemand eines Tages sehen?

Die Verzweiflung in mir wächst, als ich mich neben ihn an die Wand lehne. Er weiß nicht, was für ein Mädchen neben ihn steht. Er weiß nicht, dass wir eine gute Zukunft zusammen hätten. Er weiß nicht, dass ich diejenige war, die ihn die ganze Stunde angestarrt hat, anstatt dem Unterricht zu folgen.

Und er weiß nicht, dass ich ihn mag.

Obwohl ich ihn kaum kenne.

Obwohl er mich nicht in seine Pläne einbezieht.

Obwohl wir keine Chance zusammen hatten.

Und manchmal, wenn ich ihn anschaue, sowie jetzt, wie er am Handy ist und mir keine Beachtung schenkt, da trifft mich eine Wahrheit besonders ins Herz.

Denn suche ich die Liebe, oder möchte ich nur beweisen, dass ich liebenswert bin?

PS: Alltägliches hat auch eine gewisse Schönheit. 

Reden ist silber, Schreiben ist Gold --- Kurzgeschichten :)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt