Chaossteigerung (17)

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Stephans Sicht

Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass wir Spätnachmittag haben und ich eigentlich schon längst bei Tom sein wollte. Dadurch, dass mein Wecker heute nicht geklingelt hat, oder ich ihn im Schlaf versehentlich ausgeschaltet habe, bin ich viel zu spät aufgestanden und hinke meinem Zeitplan um Stunden hinterher. Wie ich gesehen habe, hat Josi vor ein paar Minuten Besuch bekommen und ist daher etwas abgelenkt, denn ich habe schon mit einem Anruf, der ordentlich Gemecker beinhaltet, gerechnet. Wenn das Glück auf meiner Seite steht, dann bleibt der Besuch so lange, bis ich in Erfahrung bringen konnte, wie es Tom geht.

Die Straßen sind heute glücklicherweise nicht so stark überfüllt und ich komme recht zügig an der KaS an. Allzu viel Zeit bleibt mir jedoch nicht für den Besuch, da ich heute noch Dienst habe, aber ich hoffe darauf, dass Tom soweit fit und einigermaßen gut gelaunt ist.

An meinem Zielort angekommen, kämpfe ich mich zum Empfang durch, da ich die Zimmernummer meines Kumpels erfragen muss. Als mir die junge Dame eröffnet, dass Tom auf der Intensivstation liegt, schrumpft meine Hoffnung, dass es Tom gut geht, immens zusammen. Mit einem aufkommenden schlechten Gefühl begebe ich mich zu den Aufzügen und lasse mich zu der entsprechenden Etage chauffieren. Erst beim Verlassen des elektronischen Beförderungsmittel fällt mir auf, dass ich gar keine Zimmernummer gesagt bekommen habe und werde daher wohl oder übel an der Schwesterkanzel einbremsen müssen, damit ich nicht jedes Zimmer kontrollieren muss.

Als ich am ersten Zimmer vorbei gelaufen bin, öffnet sich diese Türe und ein Arzt mittleren Alters, steuert direkt auf mich zu: "Hallo. Kann ich Ihnen behilflich sein?"
"Hallo. Ja, ich suche Tom Mayer. Können Sie mir sagen, in welchem Zimmer ich ihn finde?"
"Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?", will er wissen und mustert mich von oben bis unten. Ich weiß, dass willkürliche Besuche auf der Intensiv überhaupt nicht gerne gesehen werden, aber ich hoffe, dass der Weißkittel ein Auge zudrückt und mich nicht gleich wieder der Station verweist. "Stephan Sindera. Freund und Kollege. Außerdem muss ich seiner Schwester Bericht erstatten, wie es ihm geht, da sie sich große Sorgen macht."
Der Arzt scheint von meinen Besuchsabsichten überhaupt nicht begeistert zu sein, doch er ringt sich dazu durch, mir Auskünfte zu geben: "Ich lasse sie nur unter der Bedingung zu Herrn Mayer, dass sie nichts über seine Schwester erwähnen. Wir hatten heute Nacht schon Besuch von einem Sanitäter, der ein paar unschöne Nachrichten preisgegeben hat. Herr Mayer wollte sich dann auf den Weg zu ihr machen und hat sich dermaßen in Rage gebracht, dass ich ihm ein Beruhigungsmittel verabreichen musste." "Bitte was?", frage ich überrascht und weiß nicht, was mich mehr aus der Fassung bringt: Dass Tom derart abdreht und man ihn deswegen ausknocken muss oder das der Besucher so unsensibel war und ihm die ganzen Tatsachen einfach so vor die Füße geworfen hat. "Ja, leider. Daher bitte ich Sie eindringlich, keine schlechten Nachrichten zu überbringen. Die Symptome der Knochenmarksentzündung fordern heute alles von ihm. Er ist sehr geschwächt, hat starke Schmerzen und schläft viel." Der Blick des Arztes deutet mir, dass er es wirklich ernst meint und bei einem Verstoß gegen diese Auflage keine Scheu zeigen wird, mich hochkant rauszuwerfen. "Eine Knochenmarkentzündung?", frage ich leicht geschockt, denn bisher bin ich ja nur von dem eh schon gebrochenen Bein und einer kleinen Kratzwunde durch die Stricknadeln ausgegangen. "Herr Mayer kann von Glück reden, dass er diesen Sturz hatte und deswegen in die Klinik gebracht wurde. Mit einer Knochenmarkentzündung ist nicht zu spaßen. Wir werden alles in unserer Macht stehende unternehmen, damit der Knochen erhalten werden kann und die Entzündung rasch abklingt." Der ernste Gesichtsausdruck verdeutlicht mir zusätzlich den Ernst der Lage.

Knochenmarkentzündung? Knochen erhalten?

Mein Kopf kann gar nicht richtig realisieren, dass es sich hier um eine Hiobsbotschaft der Extraklasse handelt, denn der hat immer noch den kleinen Kratzer abgespeichert. "Wie lange dauert es denn, bis man weiß, ob der Knochen zu retten ist oder nicht?"
"Im Laufe des Tages müssten die Ergebnisse der Knochengewebsprobe eintreffen, damit wir wissen, mit welchem Erreger wir es zu tun haben und eine gezielte Antibiotikatherapie starten können. Danach können wir nur abwarten und hoffen, dass die Medikamente schnell greifen", erklärt der Arzt und legt einen mitfühlenden Gesichtsausdruck auf.
Ich merke selbst, dass mir gerade die Farbe aus meinem Gesicht entweicht. Nicht nur, dass ich Josi erzählen muss, dass es dem großen Jungen doch schlechter geht als angenommen, drängen sich auch noch die Worte "erhalten werden können" in den Vordergrund. Ich will mir gar nicht ausmalen, was passiert, wenn die Antibiotika nicht greifen. "Möchten Sie sich einen Moment lang hinsetzen?", will der Weißkittel wissen und stellt sich dicht neben mich, so als wenn er Angst hätte, dass ich jeden Moment zusammen klappe. "Nein. Alles gut. Wo liegt er denn?"
"Ich zeige es ihnen. Folgen Sie mir!" Mein Begleitschutz legt mir seine Hand auf den Rücken und schiebt mich mit sanften Druck auf eines der unzähligen Zimmer zu.

Einzelkämpfer Teil 3Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt