IX

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Als Oliver am nächsten Morgen aufwachte, hatte das Gewitter schon längst aufgehört. Stattdessen schien die Sonne kräftig durch sein Fenster und machte es unmöglich für ihn, weiter zu schlafen. Warum hatte er auch vergessen die Rollläden zu schließen? Schläfrig drehte er sich um, damit er der Sonne nicht mehr mit dem Gesicht zugewandt war, doch anstatt seiner weichen Matratze spürte er für einen kurzen Moment nichts, bis er mit einem dumpfen Knall auf dem Boden aufkam. Vor Schmerz aufstöhnend blieb er einen Moment in dieser Position liegen, bis er sich verwirrt aufsetzte. Er fuhr sich durch seine wild abstehenden Haare und rieb sich über die Augen, um wacher zu werden, wobei der stechende Schmerz seiner Verletzung half. War er auf der Couch eingeschlafen?
Ein leises, beinahe nicht hörbares Lachen ließ ihn umherfahren und alle Erinnerungen zurückkommen. Auf seinem Bett saß Tony, der genau so müde aussah wie Oliver sich fühlte. Nur im Gegensatz zu ihm schien er Spaß an der Situation zu finden. Aus großen blauen Augen blickte er Oliver an, die Hand über dem Mund, um sein Lächeln zu stoppen. Oli schaute ihn halbherzig wütend an, ehe er sich zurück auf den Boden sinken ließ. Es war zu früh, um tatsächlich sauer auf jemanden zu sein. Oliver wusste, dass er kein wirklicher Morgenmensch war. Zumindest kein freundlicher, weswegen er lieber komplett den Mund hielt. Tony dagegen schien morgens deutlich schneller wach zu werden. „O-okay?", fragte er, noch immer mit klarer Belustigung in der Stimme. Oliver grummelte nur etwas unverständliches, setzte sich dann jedoch wieder aufrecht hin. Er sollte wenigstens versuchen, ein guter Gastgeber zu sein. Er stand vom Boden auf und versuchte vergeblich, seine Haare mit seinen Händen zu richten. Nach wenigen Sekunden gab er auf und widmete sich stattdessen Tony zu. „Frühstück?"
Dieser stand ebenfalls von dem Bett auf, schüttelte aber leicht seinen Kopf. „Nein, danke. I-Ich bin nicht hungrig."
„Sicher?", fragte Oliver nach. „Ich bin am Verhungern", fügte er grinsend hinzu. Vielleicht dachte Tony einfach nur, er würde Oliver eine zu große Last sein und wollte deswegen kein Frühstück. Der Jüngere blieb jedoch bei seiner Meinung, mit einem kleinen Lächeln schüttelte er erneut seinen Kopf. Oliver ging davon aus, dass er einer der Menschen war, die morgens nie etwas aßen und ließ das Thema in Ruhe. Stattdessen zählte er ihm auf, was er zu trinken haben könnte. Während Tonys Aufmerksamkeit der neuen Umgebung und schließlich der Küche galt, schwieg er. Erst nach wenigen Sekunden merkte er, dass er Oliver noch eine Antwort schuldig war. „W-Wasser, bitte." Oliver nickte und bedeutete ihm, sich an den Tisch zu setzen, während er sich selbst einen Kaffee und ein Brot machte. Als er alles auf dem Tisch platziert hatte, nahm auch er sich einen Stuhl gegenüber von Tony. Bevor er jedoch irgendetwas sagen konnte, ertönte eine weibliche Stimme. „Oliver?", fragte seine Mutter noch wenige Schritte von der Küche entfernt. „Warum bist du denn schon so früh w-" Sie hielt inne, als sie den fremden Jungen am Küchentisch sitzen sah. Er sah deutlich jünger aus als ihr Sohn und sie konnte sich nicht daran erinnern, ihn jemals gesehen zu haben. Allerdings kannte sie keinen von Olivers Freunden, er hatte noch nie vorher jemanden in dieses Haus gebracht. Der unsichere Blick des Jungen ließ sie ihre Verwirrung vergessen und stattdessen lächelte sie ihn freundlich an. „Du musst ein Freund von meinem Sohn sein, nehme ich an?"
Anstatt ihr zu antworten, blickte er zu Oliver. Dieser schluckte schnell den Bissen Brot herunter und beeilte sich, einen zustimmenden Laut von sich zu geben. Er vermutete, Tony hatte einen dieser Momente, in denen seine Stimmbänder nachgaben. „Mum, das ist Tony. Er geht auf meine Schule."
Verwirrt darüber, warum er nicht selbst geantwortet hatte, nickte Carol. Ihr Lächeln verschwand nicht für den Bruchteil einer Sekunde, als sie sich selbst vorstellte. Als ihr Blick auf den gedeckten Tisch vor ihr fiel, setzte sie erneut zu einer Frage an. „Willst du denn gar nichts frühstücken?"
Tony schaute erschrocken auf, als er merkte, dass die Frage an ihn gerichtet war. Er wusste, wie unhöflich er erscheinen musste und wollte auf keinen Fall einen schlechten Eindruck machen, doch er kannte die Frau vor ihm nicht und er fühlte sich nicht wohl darin, als Fremder in ihrem Haus zu sein. Verzweifelt öffnete er seinen Mund, doch kein Ton kam heraus, weswegen er seinen Kopf schüttelte und sich an einem Lächeln versuchte. Er konnte die Verwirrung klar im Blick von Olivers Mutter sehen, doch sie schaute ihn nach wie vor freundlich an. Tony begann sich zu wundern ob so ein Verhalten mit Fremden in der Familie lag. In den nächsten Minuten jedoch sollte er merken, dass zumindest Oliver nur zu Fremden freundlich zu sein schien.
Der Braunhaarige gab sein bestes, seine Mutter zu ignorieren. Außer dem Vorstellen von Tony hatte er bis jetzt noch kein Wort mit ihr gesprochen, ihr nicht einmal einen guten Morgen gewünscht oder gefragt, ob sie gut geschlafen hatte. Er starrte lediglich auf sein Frühstück. Als seine Mutter leise das Wort ergriff, schaute er widerwillig hoch. Sie hatte noch nicht einmal etwas gesagt, als Tony schon sehen konnte, wie Oliver seine Augen verdrehte. Er war sich sicher, dass auch Carol es gesehen haben musste, doch sie ging nicht weiter darauf ein. „Ich habe dir doch gesagt, dass Mitch auf der Durchreise zu seinen Eltern eine Nacht hier schlafen wird, nicht?"
Oliver gab nur ein Grummeln von sich, sein Gesichtsausdruck wurde noch finsterer, woraus Tony schloss, dass er diesen Mitch nicht mochte. „Könntest du vor dem Mittagessen noch einkaufen gehen? Ich wollte sein Lieblingsgericht -"
Lauter als nötig stellte Oliver seine Tasse wieder auf dem Tisch ab und unterbrach seine Mutter schnippisch: „Ist er mein Lover oder deiner?"
Überrascht zog Tony leicht eine Augenbraue in die Höhe, wandte sich aber schnell ab, da er nicht neugierig wirken wollte. Es ging ihn immerhin nichts an. Doch es war schwer, bei Olivers lauter Stimme nicht hinzuhören.
Seine Mutter schüttelte ihren Kopf. Sie sah aus, als hätten sie dieses Gespräch schon zu oft geführt und sie wäre es überdrüssig. „Er ist nicht -", setzte sie an, aber erneut ließ Oliver nicht aussprechen. Tony wollte sich gar nicht vorstellen, was passieren würde, wenn er so mit seinem Onkel umgehen würde. Alleine der Gedanke ließ ihn schaudern. Der Stuhl kratzte laut über den Boden, als der braunhaarige Junge ihm gegenüber schnell aufstand. „Spar es dir", spuckte er und wandte sich dann zu Tony um. „Ich fahr dich nach Hause, okay?"
In den letzten Minuten war ihm die ganze Situation noch unangenehmer geworden, weswegen er nicht einmal Oliver gegenüber einen Ton heraus bekam. Er nickte schnell, ehe er ebenfalls aufstand. Während der Ältere bereits aus der Küche stürmte, nahm er selbst sich die Zeit, sich noch einmal zu Carol umzudrehen. Sie hatte ihren Kopf in ihrer Hand abgestützt und schaute ihrem Sohn traurig hinterher, blickte aber zu Tony als sie bemerkte, dass er noch nicht gegangen war. Dieser schenkte ihr ein schüchternes Lächeln und winkte einmal kurz unbeholfen, ehe er Oliver hinterher eilte. Er vermutete, dass dieser in seinem Zimmer war und dort fand er ihn auch, mit seinen Kleidern vom Vortag in der Hand. „Ich habe mir gedacht, die möchtest du wieder haben."
Tony nickte dankbar und ging abermals in das kleine Badezimmer, um sich umzuziehen. Da er sowieso keine Zahnbürste oder ähnliches dabei hatte und Oliver nicht noch mehr auf die Nerven gehen wollte, beschloss er, die fünf Minuten zu warten, bis er daheim war, und sich dort fertig zu machen. Als er wieder in Olivers Zimmer trat, war dieser ebenfalls bereits angezogen und wartete mit Autoschlüsseln in seiner Hand. „Denke nicht, dass ich dich loswerden will, ja? Nur Mitch" - er sprach den Namen mit so viel Verachtung aus, dass Tony das Bedürfnis hatte, zurück zu weichen - „Kommt bald und glaube mir, den willst du nicht kennen lernen." Tony mochte diesen Oliver vor ihm nicht, so kalt und voller negativer Gefühle. Es war eine völlig andere Seite an ihm, die ihn unwohl fühlen ließ. Er hatte Mitleid mit dem Älteren, wollte nicht, dass er sich so schlecht fühlte. Doch er selbst konnte nichts machen, es war Oliver alleine, der für diese Gedanken verantwortlich war. Also nickte Tony einfach nur und folgte ihm ins Auto. Die Fahrt verlief völlig still, Oli schien noch immer vor Wut zu brodeln, während Tony sich nicht traute, etwas zu sagen. Erst als sie in seine Auffahrt fuhren und ihm klar wurde, dass er nun zurück zu seinem Onkel musste, öffnete er seinen Mund, um etwas Zeit zu schinden. „Warum bist du so?", platzte er heraus. „Z-Zu deiner Mutter. Sie sch-scheint eine nette Frau z-zu sein", fügte er Kleinlaut hinzu, als er Olivers verwirrten Gesichtsausdruck sah. Dieser lachte humorlos auf, ehe er den Kopf schüttelte. „Ja, sicher", murmelt er heiser. „Hör zu, sie scheint ja nett zu sein aber sie wird mich umbringen, wenn ich nicht bald mit ihren blöden Einkäufen zurück komme." Oliver fühlte sich schlecht dabei, den schwarzhaarigen Jungen förmlich aus dem Auto zu schmeißen, doch das war ein Thema, worüber er auf keinem Fall reden wollte. Als er jedoch den verletzten Blick von Tony sah, seufzte er. Der Jüngere hatte ihm gestern Abend so viel anvertraut und dennoch saß er selbst hier und weigerte sich, dieses kleine bisschen Information preiszugeben. Er wusste, dass eine Freundschaft voller Geheimnisse nicht funktionieren konnte, weswegen er widerwillig nach gab. „Wir reden am Montag, einverstanden?"
Tony, der noch immer Angst hatte, etwas falsches zu machen und die Chance auf eine Freundschaft zu zerstören, nickte nur. Er beeilte sich, den Gurt zu lösen und aus dem Auto zu steigen. Ehe die Tür hinter ihm zufiel, lehnte er sich noch einmal ins Auto. „Danke", sagte er kleinlaut. Nach einem leisem Räuspern, fuhr er etwas lauter fort. „Für gestern." Mit diesen Worten drehte er sich ohne auf eine Antwort zu warten um und ging mit schnellen Schritten zu seiner Haustür. Oliver schüttelte grinsend über den schüchternen Jungen seinen Kopf, ehe er mehr zu sich „immer wieder gerne" murmelte. Jetzt konnte er nur noch hoffen, dass das bevorstehende Wochenende mit Mitch nicht völlig aus dem Ruder lief. Er nahm sich vor, die meiste Zeit bei Chris zu verbringen und seine Sorgen dort zu vergessen.
Und vielleicht würde Tony ja auch vergessen, worüber sie am Montag hatten reden wollen.

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