XIII

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Sobald er die Tür vor Oliver geschlossen hatte, lehnte Tony sich mit dem Rücken dagegen. Erschöpft atmete er aus und schloss für einen Moment seine Augen. Doch als er bemerkte, wie ruhig es war, öffnete er sie wieder. Sein Onkel schien nicht zuhause zu sein. Darauf bedacht, möglichst wenig Lärm zu machen, ging er vorsichtig in die Küche. Er achtete nicht mehr darauf, seinen Fuß nicht zu belasten. Und er war unglaublich froh darüber, keine Schmerzen mehr vorspielen zu müssen. Sein schlechtes Gewissen Oliver gegenüber schluckte er herunter. Er hatte keine andere Wahl gehabt, irgendetwas hatte er Oli sagen müssen. Es war ihm noch immer ein Rätsel, warum so jemand wie er sich mit jemanden wie ihm selbst abgeben sollte. Aber Oliver schien ihn wirklich zu mögen und eine Freundschaft zu ihm aufbauen zu wollen, was den unsicheren Jungen nur noch mehr verwirrte. Es lag nicht daran, dass er nicht mit Oli befreundet sein wollte. Im Gegenteil, er hasste es alleine zu sein und hatte noch nie so viel Spaß gehabt wie mit ihm. Doch Oliver hatte immer so unnahbar geschienen. Seit er auf die selbe Schule ging, hatte er sich mit niemanden abgegeben. Er war von Anfang an aufgefallen. In dem konservativen Stadtteil war kaum jemand wie er zu sehen. Die ganzen Tattoos, obwohl er noch keine 18 war, stießen den Meisten, vor allem aber den älteren Menschen, auf. Auch seine Art sich zu kleiden, völlig schwarz, die Hosen eng und meist zerrissen, wurde nicht gern gesehen. Aber vor allem seine Haltung ließ ihn auffallen. Er ging immer gerade, schaute jedem mit diesem bestimmten Blick an, der aussagte, er würde jeden fertig machen, der auch nur in seine Nähe käme. Durch die Distanz zu jedem sowie die völlige Gleichgültigkeit hatte er schnell seinen Ruf weg. Und obwohl die meisten – ob sie es zugaben oder nicht – Respekt vor ihm hatten, wenn nicht sogar eine gewisse Furcht, schwang immer etwas Bewunderung mit. Vor allem bei den Mädchen, da er unbestreitbar attraktiv war und seine in sich gekehrte Art jede Menge Platz für Gerüchte ließ.  Und Tony konnte sich nur immer wieder fragen: Warum ich? Er war alles außer beliebt auf der Schule und zudem war er auch noch über ein Jahr jünger als Oli. Es war schon beinahe ein Wunder, dass er überhaupt aufmerksam auf ihn geworden ist. Als er sich jedoch daran erinnerte, warum das so gewesen ist, lief es ihm kalt den Rücken herunter. Der einzige Grund, warum Oliver ihn bemerkte, war, weil er mal wieder Zeuge davon werden durfte, wie sehr die anderen Schüler ihn hassten. Aber wie könnte man es ihnen auch verübeln? Er war und blieb ein Freak, dachte Tony sich bitter, ehe er sich ein Glas nahm und es mit Wasser füllte. Sein Blick blieb am Kühlschrank hängen und geekelt wandte er seinen Blick ab. Das am Spielplatz hatte ihm wieder einmal gezeigt, dass er das Richtige tat. Er schämte sich so sehr dafür, dass unter ihm die Leiter zerbrochen war. Doch er wunderte sich keineswegs darüber, die ganze Zeit war ihm klar gewesen, dass das passieren musste. Sein Gesicht spiegelte sich in dem dunklen Glas der Herdplatte wider. „Sieh dich doch mal an", flüsterte die Stimme in seinem Kopf, triefend vor Abschaum. „Ein Wunder, dass die Schaukel nicht auch zerbrochen ist." Kurzerhand ergriff er das frisch gefüllte Glas und schüttete den Inhalt die Spüle herunter, ohne einen Schluck daraus genommen zu haben. Aus Angst vor seinem Onkel nahm er ein Geschirrtuch, um das Glas abzutrocknen, ehe er es in den Schrank zurück stellte. Er wusste, dass er in diesem Haus so wenig Spuren wie möglich hinterlassen sollte. Sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen, als er am Kühlschrank vorbei aus der Küche heraus trat. Mit verschränkten Armen und gesenktem Kopf ging er langsam die Treppe nach oben. Leise klopfte er an der Schlafzimmertür an, doch erwartete keine Antwort. Mit leisem Knarren öffnete er die Holztür und blickte in das dunkle Zimmer. Die Rollläden waren wie so oft herunter gelassen, die Luft stickig. Doch seine Mutter war wach, vage erkannte er ihre Lippen, die sich zu einem schwachen Lächeln öffneten. Bevor er zu ihr ans Bett trat, zog er den Rollladen nach oben und öffnete das Fenster. Noch war es hell draußen und er wollte, dass seine Mutter wenigstens ein paar Sonnenstrahlen abbekam.
Wie immer lag die Frau auf dem Rücken, ihr Kopf war leicht nach rechts abgerutscht, doch ihr fehlte die Kraft, um sich aufzurichten. Leise zog Tony einen Stuhl an ihr Bett, ehe er sich setzte und ihre schlaffe Hand in seine nahm. Sie war kühl wie immer, doch man spürte ihren Pulsschlag und die Finger, die sich ganz sanft, kaum merklich, um seine schlossen. „Hallo, Mama", flüsterte er. Vor der Schule hatte er keine Zeit gehabt, zu ihr zu gehen, aber sie hatte sowieso noch geschlafen. Sie konnte nicht viel anderes machen, ohne Hilfe konnte sie sich nicht einmal aufsetzen.
Er liebte es, Zeit mit ihr zu verbringen und saß manchmal sogar stundenlang bei ihr, obwohl sie schlief. Aber trotzdem fiel es ihm schwer, sie so zu sehen. Immer wieder war es, als würde er den Unfall erneut erleben. Die schrecklichen Minuten, die so endlos erschienen, während er auf Hilfe wartete und zusehen musste, wie sein Vater aufhörte, sich zu bewegen. Seit diesem Tag war seine Mutter gelähmt. Doch das Schlimmste war die Kopfverletzung, die zu spät erkannt wurde. Sie konnte kaum mehr sprechen, man wusste nicht, wie viel ihrer Umgebung sie überhaupt gezielt wahrnahm. Doch Tony war sich sicher, sie wusste wer er war. Sie lächelte, sobald er den Raum betrat und versuchte immer wieder, ihre Finger um die seinen zu schließen, obgleich es ihr nie gelang. Ihre Verletzungen waren der Grund, warum ihr Bruder zu ihnen gezogen war. Sie konnte weder für sich noch für Tony sorgen. Das war der einzige Weg gewesen, wie sie hatten zusammen bleiben können. Anfangs war er dem ihm so fremden Mann unendlich dankbar gewesen, dass er ihm davor bewahrt hatte, auch noch von seiner Mutter getrennt zu werden. Doch nach und nach wurde ihm bewusst, warum er diesen Mann nicht vorher kennen gelernt hatte.
„Wie geht es dir?" Er wusste, dass sie nicht antworten würde. Doch er wollte, dass sie wusste, dass er sich um sie sorgte. Liebevoll strich er mit dem Daumen über ihre Hand, ehe er sich erhob, um ihren Kopf wieder bequemer auf das Kissen zu legen.
„Ich werde langsam wieder b-besser in Mathe", berichtete er mit leichtem Stolz in der Stimme. Er wusste nicht, woran es lag. Doch bei seiner Mutter fiel es ihm leichter zu reden. Er stotterte kaum und hatte nie das Gefühl, seine Stimmbänder würden sich verknoten. Vielleicht weil er sich der unendlichen Liebe seiner Mutter bewusst war, vielleicht weil er sich vor keiner negativen Reaktion zu fürchten hatte. „Oliver hilft mir. I-Ich habe dir von ihm erzählt, erinnerst du dich?"
Die Zeit verging, und auch hier schwieg Tony die meiste Zeit. Er hatte nicht viel zu erzählen und genoss die Ruhe, die ihn bei seiner Mutter umgab. Ihre Nähe tat ihm unglaublich gut und er hätte nichts lieber getan, als sich zu ihr ins Bett zu legen, um wieder einmal wenigstens etwas ähnliches wie eine Umarmung von ihr zu bekommen. Aber in dem Bett war nicht genug Platz und er hatte Angst, ihr weh zu tun. Doch er vermisste sie schrecklich. Er brauchte seine Mutter und es fühlte sich an, als wäre sie ihm genommen worden, obwohl sie doch direkt vor ihm lag. Es tat weh, sie so zu sehen. Völlig hilflos und auf andere angewiesen. Dennoch war er unendlich dankbar, dass Gott ihm wenigstens seine Mutter gelassen hatte, nachdem er ihm schon seinen Vater genommen hatte.
Erst als die Haustüre laut zugeschlagen wurde, bemerkte Tony, wie spät es geworden ist. Die Sonne war bereits untergegangen und der Raum begann, langsam auszukühlen. Sofort richtete er die Decke seiner Mutter, bevor er ans Fenster trat und dieses schloss. Mit einem Kuss auf die Stirn verabschiedete er sich von der mittlerweile eingeschlafenen Frau und öffnete leise die Schlafzimmertür. Ehe diese ganz geschlossen war, erfüllte schon die wütende Stimme seines Onkels das Haus. Innerlich fluchend zog er die Tür ganz zu und hoffte, seine Mutter war nicht wach geworden. Doch all die bösen Gedanken wurden durch Nervosität und Angst ersetzt, als er in der Küche ankam. Sein Onkel stand breit vor ihm, verachtend blickte er auf die schmale Gestalt vor sich, ehe er ihn anfuhr, was er sich eigentlich dachte. „Ich habe alles aufgegeben, um hier her zu ziehen. Um für deine Mutter und dich Nichtsnutz zu sorgen. Und du hast nichts als Undankbarkeit für mich übrig. Ich werde dir noch beibringen, was Respekt bedeutet." Bedrohlich ging er einige Schritte auf Tony zu, welcher sofort zurück wich. „Wie oft muss ich dir das eigentlich noch sagen? Was hast du zu tun, bevor ich heim komme?" Während seine Stimme immer lauter wurde, konnte Tony förmlich spüren, wie seine immer leiser wurde. Er öffnete seinen Mund, doch nichts kam heraus. Sein Herz schlug hart in seiner Brust, er versuchte den Kloß in seinem Hals herunter zu schlucken doch es war, als würde dieser beim Versuch nur noch größer werden.
„Ich rede mit dir", fuhr sein Onkel ihn an. „Also antworte gefälligst!"
Erneut konzentrierte sich Tony darauf, ein und aus zu atmen, aus Angst, er würde einfach damit aufhören. Auch wenn es ihm im Moment nicht einmal wie die schlechteste Alternative vorkam. „K-Ko-Kochen." Kaum hörbar verließ das Wort seinen Mund und obwohl sein Onkel gehört hatte, was er wollte, war er noch lange nicht fertig.
„Kannst du Weichei nicht ein einziges Mal vernünftig reden? So soll dich einer ernst nehmen?" Er kam immer näher, bis nur noch wenige Zentimeter die beiden Männer trennten. „Ich frage dich noch einmal, und ich will eine richtige Antwort. Was hast du zu tun?"
„K-Kochen." Bevor er das Wort fertig gesprochen hatte, flog sein Kopf zur Seite. Seine linke Wange begann höllisch zu brennen, doch er wagte es nicht, sich wieder zu dem Mann vor ihm zu drehen. „Du bist eine Schande", spuckte dieser. „Aber vielleicht ist es besser so. Du hast sowieso schon genug gegessen."
Mit einem letzten abwertenden Blick drehte er sich auf den Fersen um und marschierte aus der Küche heraus. Kurze Zeit später hörte man erneut die Haustür zuknallen.
Noch immer stand Tony wie angewurzelt vor der Küchenwand. Keinen Zentimeter hatte er sich bewegt. Erst jetzt, als sein Onkel verschwunden war, hob er langsam seine Hand an und legte sie auf seine pochende Wange. Es dauerte kurz, bis er sich soweit gefasst hatte, dass er aus der Küche gehen konnte. Doch zuvor machte er am Kühlschrank Halt. Minutenlang stand er davor, ehe er ihn öffnete und wahllos herein griff. Tränen versperrten seine Sicht, doch er wehrte sich erfolgreich dagegen, dass diese seine Augen verließen. Jeder Schluck brannte in seiner Kehle, sein Magen schien zu rebellieren. Doch das Pochen seiner Wange lenkte ihn ab. Ruhig räumte er den Tisch ab und ließ den Mülleimer gedämpft zufallen. Langsam ging er die Treppe nach oben. Schande. Möglichst leise setzte er einen Fuß vor den anderen, bis er oben angekommen war. Weichei. Der Weg zum Badezimmer schien endlos lange. Ihm wurde ganz schwindelig, bis er seine Hand endlich um das kalte Metall der Klinke schloss. Nichtsnutz. Er ließ sich auf den Fliesen nieder, die Arme um seine angewinkelten Beine geschlossen. Undankbar. Es war, als brannte sein Handy in seiner Hosentasche. Er wollte danach greifen, Olis Nummer wählen. Am besten die Zeit zurück drehen zu diesem Nachmittag, als sie so sorglos gelacht hatten. Doch er tat es nicht. Er wusste, er würde kein Wort heraus bekommen. Doch Oli würde trotzdem wissen, dass er es war. Er würde vermutlich sofort herkommen und ihn wieder mit zu sich nehmen. Und er würde Fragen stellen. Fragen, die Tony nicht bereit war zu beantworten. Vielleicht auch gar nicht beantworten konnte. Und lauter Umstände würde er machen. Er wollte keine Last sein, wollte den einzigen Freund, den er hatte, nicht vergraulen. Oli würde bestimmt bald von alleine merken, wie schrecklich er war, also wollte er wenigstens die letzte verbliebene Zeit nutzen und sie nicht noch verkürzen.
Vielleicht hatte sein Onkel ja auch recht. Keiner nahm ihn ernst, warum sollte Oliver es dann tun? Ganz sicher hatte er recht. Mit allem. Das hatte er doch immer. Du hast sowieso schon genug gegessen. Immer wieder kreisten diese Worte in seinem Kopf herum. Und bevor er diesen gedanklich überhaupt zustimmen konnte, stürzte er schon nach vorne und beugte sich mit dem Kopf über die Toilettenschüssel.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Mar 24, 2020 ⏰

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