XII

56 14 9
                                    


Ja, es ist tatsächlich ein neues Kapitel! Ich würde mich freuen, wenn ihr die Anmerkung am Ende liest!

Tony schaute ihn lange Zeit schweigend an. Er wusste nicht, was er erwidern sollte. Er konnte sich nur schwer vorstellen, wie schlimm es für Oliver gewesen sein musste, als seine Familie zerbrach. Er hatte leicht heraus hören können, wie sehr er seinen Bruder liebte. Es gab keine Worte, die diesen Riss in seinem Herzen hätten füllen können und das war Tony bewusst. Also beschloss er, auch keine Worte zu benutzen. Stattdessen stand er auf und zog auch den Älteren auf seine Beine, ehe er diesen in eine Umarmung zog. Etwas überrascht dauerte es ein wenig, bis Oliver die Umarmung erwiderte, doch als er es tat, spürte er, wie wenigstens ein bisschen Ballast von seinen Schultern fiel. Und vielleicht hatte er in Tony ja einen zweiten Bruder gefunden, der Tommy zwar nicht ersetzten konnte und sicher auch nicht wollte, aber dennoch den Schmerz zumindest ein kleines bisschen erträglicher machte.

Nachdem die zwei Jungs sich wieder gelöst hatten, dauerte es etwas, bis Oliver sich wieder fasste. Obwohl er sich vor Tony keineswegs schämte, weder wegen seiner Familiengeschichte noch dafür, dass es ihn so belastete, wusste er dennoch nicht genau, wie er mit der Situation umgehen sollte. Noch nie hatte er mit jemanden darüber geredet. Nie hatte er das Gefühl gehabt, es würde jemanden genug interessieren, um zuzuhören. Wirklich zuzuhören. Doch Tony tat genau das. Er ließ Oliver ausreden, ohne ihn nur einmal zu unterbrechen. Nicht, dass er dem Jüngeren wirklich eine Chance gelassen hatte. Es bedeutete ihm aber trotzdem viel. Und anstatt mit abgedroschenen Sätzen zu reagieren, von denen jeder wusste, dass sie es weder besser machten noch stimmten, hatte er einfach nichts gesagt. Vielleicht stimmte das alte Sprichwort ja und Taten zählten wirklich mehr als Worte.
Auch Tony schien etwas überfordert mit der Situation, war aber sichtlich bemüht darum, es einfacher für Oli zu machen. „U-Und was jetzt?", fragte er deswegen mit einem nervösen Lächeln. Es kam ihm so vor, als hätte Oliver sein Pensum erfüllt und er wollte nicht länger über dieses Thema reden. Und Tony wollte das auf jeden Fall akzeptieren. Weil er aber dennoch wusste, jetzt sogar noch mehr als davor, wie sehr es den Älteren beschäftigte, wollte er ihn zumindest ablenken.
Oliver hatte sich inzwischen wieder auf die Schaukel gesetzt und begann, sich lustlos vom Boden abzustoßen. Ein Grinsen huschte über Tonys Lippen, als ihm eine Idee kam.
Obwohl sein Kopf förmlich schrie, sich nicht wieder auf die knarzende, alte Schaukel zu setzen, hörte er nicht darauf. „Wetten", sagte er stattdessen, „ich k-komme höher?" Begleitet von dem Quietschen der alten Metallhalterungen der Schaukel ließ er sich auf das Holzbrett fallen und stieß sich mit Schwung vom Boden ab. Oliver beobachtete ihn eine Weile grinsend, dankbar dass er die Begegnung mit Chris vergessen hatte. Doch sein Kampfgeist gewann irgendwann und er wollte nicht auf sich sitzen lassen, von einem Jüngeren geschlagen zu werden. Auch wenn es nur so etwas Banales wie Schaukeln war, es ging ums Prinzip. Also lief er mit der Schaukel unter sich so weit nach Hinten, wie die Seile es zuließen und stieß sich ebenfalls ab.
Eine Weile ging es so weiter, lachend versuchten sie den jeweils anderen immer wieder zu überzeugen, dass sie selbst viel höher waren. Doch spätestens als sie im gleichen Takt schwangen, mussten sie einsehen, dass dieser Wettkampf endlos war. Der Kies, der den Boden direkt unter der Schaukel bedeckte, wurde umhergewirbelt, als beide Jungs ihre Füße hinein stemmten, um anzuhalten. „So", begann Oliver. „Ich denke, das war eindeutig."
Tony nickte bestimmt und wie aus einem Mund ertönte von beiden ein überzeugtes: „Gewonnen."
Schnaubend schüttelte Oliver den Kopf, ehe er sich erhob. „Vergiss es. So hoch wie ich kannst du gar nicht kommen."
Verwirrt runzelte Tony die Stirn und wartete auf eine weitere Erklärung, seinerseits zu außer Atem um zu antworten. „Ich wiege mehr", fuhr Oliver fort. „Größere Masse und so etwas. Das ist reine Physik." Bekräftigend nickte er und verschwieg, dass er in Physik durchfiel.
Der Jüngere sprang von der Schaukel runter und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Dass sie wenige Sekunden später genau so lagen wie davor, schien ihn nicht zu stören. „Stimmt n-nicht."
„Und wie. Ich bin älter, ich weiß das."
Mit dem Blick auf seine nun staubigen Schuhe gewandt, biss sich Tony auf die Lippe, um nicht weiter zu reden. Er hatte nicht an Olivers physikalischen Fähigkeiten gezweifelt, doch er vermied es lieber über sein Gewicht zu reden. Das würde vielleicht noch dazu führen, dass Oliver Fragen stellte, und das wollte Tony auf keinen Fall. Er mochte es nicht, wenn jemand darauf zu sprechen kam. Nicht ohne Grund trug er gerne weite Pullover oder Jacken.
Oliver tat sein Schweigen als Normalität ab. Er war es mittlerweile gewohnt, dass Tony nicht viel auf einmal sprach. Doch er musste noch lernen zu unterscheiden, wann er dies akzeptieren und wann er nachhaken sollte. Für den Moment jedoch wollten beide Jungs einfach die Zeit genießen und vergessen, was ihnen im Kopf herum schwirrte.
Tony schaute sich in seiner Umgebung etwas um, sein Blick glitt den großmaschigen Zaun entlang, über die Schaukel und das Karussell bis hin zur Rutsche. Alles war alt, das Holz modrig, das Metall verrostet. Um das Karussell lagen sogar Glasscherben, das Etikett der Whiskyflasche nur noch vage erkennbar. Kein Wunder, dachte er sich, dass der Spielplatz abgesperrt war. Ob jedoch ein Ersatz gebaut werden oder ob ein weiterer Ort für Kinder einfach verschwinden würde, wusste er nicht. Bevor er jedoch weiter darüber nachdenken oder Oli fragen konnte, riss dieser ihn aus seinen Gedanken. „Komm! Wer zuerst an der Rutsche ist, hat gewonnen!" Ohne Tony überhaupt den Hauch einer Chance zu geben, rannte er los und blieb wenige Zentimeter vor der Leiter stehen. Mit ausgestrecktem Arm schaute er auffordernd zu dem Jungen einige Meter entfernt, der sich kein Stück bewegt hatte. „Noch hast du eine Chance. Vielleicht gewinnst du ja wenigstens jetzt."
Kopfschüttelnd, aber mit einem Lächeln, weigerte sich Tony auf den Älteren zuzugehen. Beide wussten genau, dass er nicht vorhatte, ihn gewinnen zu lassen. Stur blickten sie sich an, keiner bereit zuerst aufzugeben. Die Sekunden verstrichen und nach knappen zwei Minuten seufzte Tony laut auf. Er beschloss, Oli seinen Spaß haben zu lassen und machte einen Schritt nach vorne. In Sekundenschnelle schoss Olivers Hand zu der Leiter der Rutsche, nur um danach ein pathetisches „Gewonnen!" hervorzustoßen.
Während das alte Holz gefährlich laut knarrte, als er hinauf kletterte, überbrückte Tony die letzten Schritte zur Rutsche und stellte sich daneben.
Der einsame Spielplatz wurde erfüllt von dem Knarzen des Holzes, dem Quietschen des Metalls und dem lauten Lachen von zumindest einem der beiden Jungs. Keiner der beiden verschwendete mehr einen Gedanken an Chris oder an Olivers Mutter, auch die Schwere, die Tony in sich zu tragen und die so oft auf seine Stimmbänder zu drücken schien, hob sich ein wenig. Er sprach nach wie vor bei weitem nicht so viel wie seine Mitschüler, seine Haltung war immer noch geduckt und seine Bewegungen darauf bedacht, so wenig Geräusche wie möglich zu machen. Doch sein Augen strahlten heller und sein Grinsen wurde breiter, manchmal sogar zu einem leisen Kichern. Auch Oliver war schon lange nicht mehr so entspannt gewesen. Er war auf keinen Fall ein leiser oder schüchterner Junge, sein Auftreten zeugte immer von Selbstbewusstsein und seine Tattoos strahlten eine gewisse Härte aus. Doch sein offenes Lachen, das seit Jahren das erste Mal wieder erklang, schien den ganzen Tag zu erhellen. Seine Müdigkeit war wie verflogen und auch von dem Groll gegenüber seiner Mutter war nichts mehr zu spüren. Sie waren beide glücklich, auch wenn es nur für den Moment war.
Doch Momente vergingen oftmals schneller, als man es sich wünscht.
Als Tony ein weiteres Mal auf die für beide viel zu kleine Rutsche wollte, passierte das, wovor er sich den ganzen Tag gefürchtet hatte. Mit einem lauten Knacksen zerbrach die unterste Stufe, als er gerade sein Gewicht darauf verlagerte. Er konnte sich, bevor er das Gleichgewicht verlor, am Geländer festhalten und kam nur etwas unsanft mit seinem Fuß wieder auf dem Boden auf. Geschockt blickte er auf das zersplitterte Holz vor ihm, wie erstarrt verfestigte sich sein Griff um die Metallgitter. In seinem Kopf wirbelten die Worte nur so umher. Das Lachen seiner Mitschüler, wenn er sich in der Umkleidekabine vor dem Sportunterricht umzog. Die spöttischen Bemerkungen, wenn er im Unterricht aufgerufen wurde und nichts sagte. Die verletzenden Worte seines Onkels, die jetzt, mehr denn je, wahr erschienen. Und es geschah das, was immer passierte, wenn sein Kopf voller Worte war. Sein Mund blieb verschlossen, seine Lippen versiegelt.
„Tony?", hörte er entfernt Olivers Stimme durch die Geräusche hindurch zu ihm dringen. „Tony, hey! Dir ist doch nichts passiert, oder?" Er stand schon eine ganze Weile neben ihm, versuchte seine Aufmerksamkeit zu erlangen, doch es dauerte mehrere Sekunden, bis dieser endlich wieder aufschaute. Sein Blick allerdings war seltsam leer und distanziert. Nichts zeugte mehr von dem Strahlen seiner Augen, das vor wenigen Minuten noch vorzufinden war.
„Was ist denn los?" Verwirrt legte Oliver eine Hand auf Tonys Schulter. „Hast du Angst, dass du Probleme mit der Stadt bekommst? Hast du dich mal umgeschaut? Der Spielplatz ist komplett verrottet, alles hier hat seine Macken. Da stört eine zerbrochene Stufe auch nicht mehr. Vor allem weil eh alles abgerissen wird." Ohne Punkt und Komma redete er auf den Jungen vor ihm ein. Es machte ihn nervös, dass er nicht reagierte. Er war sein Schweigen gewohnt, doch das hier schien anders. Ernster. Obwohl er nicht verstand, wieso.
Tony nickte nur, obgleich er nicht hörte, was Oli sagte. Alles, woran er gerade dachte, war die Bewegung seines Kopfes und sein schwerfälliges Atmen. Auf, ab. Ein, aus. Immer wieder, nichts anderes. Er hatte Angst, dass er, wenn er aufhörte es sich im Kopf vorzusagen, eines von beiden vergessen würde. Erst als sich zwei Hände fest um seine Schultern schlossen, schaute er erneut auf. Gezielt blickten Olivers Augen in seine, Verständnislosigkeit spiegelte sich in ihnen wider. Und Tony wusste, er musste eine Erklärung abliefern. Also atmete er einmal tief und zittrig ein, um sich zu beruhigen und Zeit zu schinden. „M-Mein Fuß. Ich b-bin falsch - i-ich glaube, ich -", er räusperte sich kaum hörbar. „Umgeknickt."

Sofort schwang die anfängliche Verständnislosigkeit in Besorgnis um. „Als du auf dem Boden aufgekommen bist?", fragte Oliver hastig, ließ Tony jedoch nicht mal die Zeit zum antworten. Sein stummes Nicken sah er nicht, da er sich schon vor ihn gekniet hatte, um seinen Knöchel anzuschauen. Kurz bevor er Tonys Hose jedoch zum Hochkrempeln berühren konnte, zuckte dieser zurück. Obgleich er dessen plötzliche Distanz nicht verstand, wollte er ihn zu nichts drängen und stand wieder auf. Nachdem er den Dreck, der auf seinen schwarzen Hosen kaum sichtbar gewesen war, weg geklopft hatte, schaute er wieder auf. „Wir sollten gehen." Unsicher legte er einen Arm um die Hüfte des schmalen Jungen, um ihn zu stützen. „Du solltest etwas zum Kühlen drauf tun und ihn am besten hochlegen."
Ohne auf eine Antwort zu warten, begann er langsam zu laufen. Oliver hatte bereits die Hoffnung aufgegeben, dass Tony auf dem Heimweg viel mit ihm reden würde. Er wusste bereits, dass er in Situationen, die er so nicht erwartet hatte, unsicher wurde und wieder schwieg. Also klammerte er sich an dem Gedanken fest, Tony wäre wegen des Schocks und den Schmerzen so still, und konzentrierte sich einzig darauf, ihn sicher nach Hause zu bringen.
Tony hingegen musste all seine Aufmerksamkeit darauf richten, zu humpeln und seinen Fuß nicht zu belasten. Er stützte sich so gut es ging an Oliver ab und versuchte, nicht zu stürzen. Doch es fiel ihm schwer sich zu konzentrieren, während sein Kopf sich anfühlte, als würde er sich drehen. Die Erinnerung an das gehässige Lachen seiner Mitschüler wurde immer lauter, es fühlte sich an als schrie die Stimme in seinem Kopf ihn förmlich an. Doch es war schon lange nicht mehr nur eine Stimme. Es hörte sich wie die ganze Schule an. Ihm wurde ganz schwindelig von seinen eigenen Gedanken und er wusste nicht, wie lange er sich auf nichts anderes konzentriert hatte, bis Oliver plötzlich anhielt. Sie standen vor der kleinen Stufe vor seiner Eingangstüre, unsicher blickte der ältere Junge auf Tony herab. „Soll ich klingeln oder...?"
Sofort schüttelte der Gefragte den Kopf. Wenn nur seine Mutter da wäre, würde sowieso niemand aufmachen. Und wenn sein Onkel an die Tür käme und sähe, dass er die Frechheit besaß zu klingeln obwohl er einen Schlüssel hatte, würde es nicht schön enden. Er ließ seinen Schulrucksack von der einen Schulter gleiten, damit er ihn nach vorne ziehen konnte. Kurz kramte er in einem Seitenfach, ehe er den Haustürschlüssel heraus zog. Als die Tür geöffnet war, hielt Oli ihn zurück. „Schaffst du den Rest oder soll ich noch mit rein kommen?"
Tony wusste, dass sein Onkel keine Besucher wollte und schon zehnmal nicht, wenn diese Freunde von ihm waren. Aber noch wichtiger war, dass er das alles nicht mehr aufrecht erhalten konnte oder wollte. Also schüttelte er erneut seinen Kopf, aber zwang sich dieses Mal etwas zu sagen. Er hatte ein so schlechtes Gewissen gegenüber Oli, der ja nur sein bestes wollte. Also schaute er ihm möglichst standhaft in die Augen und erwiderte: „Alles g-gut. Sehen uns in der Sch-Schule." Etwas zögerlich ließ Oliver ihn schließlich los und wartete, bis Tony ins Haus gehumpelt war und die Tür mit einem kleinen Winken vor ihm ins Schloss fallen ließ.

___

Hallo meine Lieben!
Wahrscheinlich hat keiner es mehr erwartet, dass ich hier jemals weiterschreibe aber das hier war tatsächlich ein neues Kapitel. Das ist die erste gute Nachricht. Die zweite ist, dass ich das Nächste schon begonnen habe.
Aber es gibt auch schlechte Neuigkeiten. Und zwar schreibe ich nächsten Monat Abi. Und abgesehen davon, dass ich deswegen durchdrehen könnte, weiß ich nicht, wie oft ich zum Schreiben komme. Aber etwas Gutes hat auch das. Weil das Abi nämlich so nahe ist, ist es auch bald vorbei und ich hoffe, dass ich, wenn alle Prüfungen und Arbeiten rum sind, wieder mehr schreiben kann. Wenigstens diese Geschichte zu Ende bringen möchte ich auf jeden Fall. Ich weiß zwar nicht, wie lange das dauern wird, aber ich werde es tun.
Danke für eure Geduld! Und ich hoffe, ich habe noch treue Leser.

Aber jetzt wünsche ich euch einen schönen Abend! Und noch einmal ein großes Dankeschön an alle, die diese und meine anderen Geschichten lesen, gelesen haben oder noch lesen werden! Ich liebe euch!

Eure Mrs Sparkle

Outlaws.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt