Während Olis Augen in den letzten paar Minuten des Unterrichts den Zeiger der Uhr an der vorderen Wand des Klassenzimmers nicht verließen, schenkte auch seine Lehrerin Mrs. Darson ihm immer wieder besorgte Blicke. Sie wusste einfach nicht mehr, was sie tun sollte. Sie war sich sicher, ihre Warnung er möge den Abschluss vielleicht nicht schaffen, war nicht ungehört geblieben, denn die Anzahl seiner wöchentlichen Fehlstunden war stark gesunken. Doch an seinem Verhalten hatte sich nichts geändert. In anderen Fächern war er anscheinend sogar während des Unterrichts eingeschlafen. Sie wusste nicht, woran es lag, dass er immer so übermüdet in die Schule kam und würde zu gerne ein Gespräch mit seinen Eltern führen. Wann immer sie jedoch anrief, bekam sie nur die Computerstimme des Anrufbeantworters zu hören und so langsam begann sie, daran zu zweifeln, ob sie überhaupt die richtige Nummer hatte oder Oliver ihr eine falsche gegeben hatte. Vielleicht sollte sie ihn selbst einmal fragen. Keiner würde besser wissen, was los war, als er selbst. Auch wenn sie sich ziemlich sicher war, dass das Gespräch zu nichts führen würde, ignorierte sie, dass er schon beinahe aus dem Klassenzimmer rannte, und rief ihn zurück. Sie konnte sein genervtes Schnauben von ihrem Platz am Pult aus hören, doch machte sich nichts daraus. Stattdessen lächelte sie ihn freundlich an, um ihm zu zeigen, dass er in keinen Schwierigkeiten war. Zumindest in keinen, für die er zum Nachsitzen kommen müsste. Auch dass ihr Lächeln nicht erwidert wurde, bemerkte aber ignorierte sie.
„Es freut mich, dass du wieder so konsequent am Unterricht teilnimmst. Ich habe gesehen, dass du beinahe keine neuen Fehlstunden mehr aufzuweisen hast."
Da Oliver nicht genau wusste, worauf seine Lehrerin hinaus wollte, tippe er ungeduldig mit der Fußspitze auf den Boden und wartete auf eine Fortsetzung. Denn er war sich sicher, dass ein aber folgen würde. Und er sollte recht behalten.
„Aber mir ist aufgefallen, wie müde du immer bist. Ich habe von einem anderen Lehrer gehört, dass du in seinem Unterricht sogar eingeschlafen bist." Nach Bestätigung suchend, zog Mrs. Darson eine Augenbraue nach oben und musterte ihn fragend. Doch dieses Mal schwieg Oliver, weil er nicht antworten wollte. Sein Privatleben ging seine Lehrerin immerhin nichts an, und sein Nebenjob erst recht nicht.
„Ist bei dir denn alles in Ordnung?", fragte sie mit ihrer typischen Vertrauenslehrerinnen-Stimme. Ihren Kopf hatte sie leicht schief gelegt, ihre Augen schauten offen und aufrichtig in seine. Doch er war nicht wie die anderen und würde ganz sicher nicht darauf hereinfallen und ihr von seinem Leben erzählen. Stattdessen versuchte er es mit einer möglichst plausiblen Ausrede. Er zuckte also mit den Schultern und erwiderte ihren Blick trotzig. „Beschweren Sie sich bei meinen Mitschülern. Die schmeißen die ganzen Partys, nicht ich."
Weil er nicht wollte, dass Tony ungeduldig wurde und ohne ihn ging, stoß er sich von dem Tisch, an dem er sich abgestützt hatte, ab und machte ein paar Schritte nach vorne. „Darf ich jetzt gehen?"
Aber Mrs. Darson dachte nicht daran, ihn so einfach davon kommen zu lassen. „Oliver, dein Schulabschluss hängt am seidenen Faden. Mit reiner Anwesenheit ist nichts getan, vor allem wenn du dann nicht einmal im Unterricht aufpasst. Ich habe dir bei unserer letzten Unterhaltung bereits gesagt, wie ernst die Sache ist. Du musst endlich Verantwortung für dein Leben übernehmen." Sie blickte ihm ernst entgegen, das sanfte Lächeln hatte ihre Lippen längst verlassen. Doch Oliver rollte genervt mit den Augen. Sie erzählte ihm nichts neues, er wusste das alles bereits. Aber so einfach, wie sie sich das vorstellte, war es nicht. Er hatte schon vor so langer Zeit den Anschluss verloren, er konnte nicht einfach einmal das Schulbuch aufschlagen und magischer Weise alles von den letzten Halbjahren können. Und obwohl er es nicht zugeben mochte, frustrierte es ihn. Bevor dieses unangenehme Gefühl des Versagens permanent werden konnte, hatte er gänzlich damit aufgehört es zu versuchen. Die Lehrer sagten immer so leicht, er müsse sich nur anstrengen und nicht so faul sein, doch Hilfe boten sie ihm keine an. Zumindest tat das niemand außer Mrs. Darson, doch um das zu sehen, war Oliver zu stur. Für ihn war sie nur eine weitere Lehrerin, die ihm nichts außer Vorwürfe machte und falsches Interesse vorspielte.
„Ich bin dabei", erwiderte er also nur. Und das war nicht gelogen, er hatte sein Leben in die eigene Hand genommen. Er hatte sich einen Job besorgt, um seinem alten Leben – und seiner Mutter – zu entkommen und neu beginnen zu können. Das war auch eine Art Verantwortung zuübernehmen. Auch wenn es vermutlich nicht das war, was Mrs. Darson vorgeschwebt hatte.
Diese wollte nichts mehr, als dem Jungen vor ihr zu glauben. Anders als die anderen Lehrer hatte sie ihn noch nicht als hoffnungslosen Fall abgestempelt. „Ich weiß, dass das seine Zeit braucht. Keiner erwartet, dass du von heute auf morgen ein Einserschüler wirst." Aufmunternd lächelte sie ihn an, was Oliver als Signal dafür deutete, dass er jetzt gehen könne. Beinahe war er aus der Tür draußen, als er erneut seinen Namen hörte. Er drehte sich also ein weiteres Mal um und wippte ungeduldig auf seinen Fersen.
„Ich habe gesehen, dass du dich mit Tony angefreundet hast." Etwas an Mrs. Darsons Lächeln war anders. Es kam Oliver so vor, als wäre dies ihr echtes, und nicht ihr Lehrer-Lächeln.
Und dieses Mal war er es, der eine Augenbraue nach oben zog. Was ging es sie an, mit wem er sich in seiner Freizeit abgab? Doch außer einem „Das freut mich" bekam er von seiner Lehrerin nicht zu hören. Da er Tony jedoch nicht noch länger warten lassen wollte, gab er sich damit zufrieden und verließ endlich das Klassenzimmer. Schnellen Schrittes ging er durch den Gang bis zum Ausgang der Schule und blickte suchend über den Hof, bis er Tony schließlich am Schultor entdeckte. Er beeilte sich zu ihm zu kommen und entschuldigte sich für seine Verspätung. Ehe Tony fragen konnte, warum er von Mrs. Darson zurückgehalten wurde und er ihm auch noch erklären musste, dass es nicht gerade rosig um seinen Schulabschluss stand, fragte Oliver, ob sie etwas Essen gehen wollten. „Ich kenne eine Pizzeria nur ein paar Blocks weiter und glaube mir, wenn du einmal dort gegessen hast, willst du nie wieder wo anders hin." Mit einem kleinen Lachen wandte er sich ab und wollte schon in Richtung des Restaurants laufen, als Tonys leise Stimme ihn zurückhielt. „Nein, danke." Unbeholfen senkte er seinen Blick einmal mehr auf seine Schuhspitzen. Als er Olivers fragenden Blick bemerkte, fügte er ein kaum hörbares „Keinen Hu-Hunger." hinzu.
Ungläubig musterte Oliver den schmalen Jungen vor ihm und zum ersten Mal fiel ihm auf wie schmal er wirklich war. „Aber du hast schon in der Mittagspause nichts gegessen." Als Tony nur mit einem Schulterzucken erwiderte, hakte Oliver erneut nach. „Sicher, dass du keinen Hunger hast? Ich lade dich auch ein."
Aber auch damit war Tony nicht umzustimmen. Er schüttelte den Kopf und erklärte mit dem Ansatz eines Lächelns, er habe einen kleinen Appetit. Oliver jedoch schien immer noch nicht zufrieden, weswegen er hinzufügte, er frühstücke immer sehr viel. Gezwungenermaßen gab Oliver sich geschlagen. Da er aber an einem ruhigen Ort mit Tony reden wollte, schlug er vor, ein wenig zu laufen. Stumm liefen sie nebeneinander her, Tony seinerseits weil er noch immer verunsichert war, nachdem Oliver ihm gegenüber einen so harschen Ton angeschlagen hatte, und er Angst hatte, er drängte ihn zu sehr mit ihm zu reden. Oli selbst schwieg, weil er zu sehr damit beschäftigt war, darüber nachzudenken, wie er anfangen sollte und was er überhaupt alles erzählen wollte.
Als Oliver den Zaun sah, der um den alten Spielplatz herum befestigt wurde, beschloss er, dass dies ein guter Ort zum Reden wäre. Er zeigte auf eine Stelle, an der der Zaun von Jugendlichen aufgeschnitten worden war, damit man einfacher auf das Grundstück gelangte, und forderte Tony auf, mit ihm mit zu kommen. Oliver ging voran und ließ sich auf einer der zwei Schaukeln nieder. Wie üblich knarrte das alte Gestell laut, weswegen Tony es argwöhnisch betrachtete, als glaubte er wirklich, die Schaukel würde seine schmale Gestalt nicht aushalten, ehe er sich letztendlich doch zaghaft niederließ. Das Knarzen wurde lauter, als Oliver begann, sich leicht mit seinen Füßen abzustoßen und die Schaukel zum Schwingen brachte.
Es dauerte etwas, bis die Stille unterbrochen wurde, doch es war von keinem der beiden Jungs auf der Schaukel. „Na, sieh einer an."
Oliver und Tony drehten sich in Richtung der tiefen Männerstimme, die hinter ihnen erklungen war. Doch während Tony den Mann nur verwirrt ansah, weiteten sich Olivers Augen beim Anblick seines Chefs. Er hatte schon das Gefühl gehabt, dass das hier nicht gut enden würde. Er wollte Tony auf keinen Fall in dieses Geschäft mit rein ziehen, er wollte ja nicht einmal, dass Tony überhaupt etwas über seinen Job erfuhr. Bevor er etwas sagen konnte, fuhr Chris fort: „Oliver, mein Freund. Stör ich dich etwa gerade beim Geschäfte machen?"
Verzweifelt versuchte er seinem Boss klar zu machen, dass er nicht auf dieses Thema zu sprechen kommen sollte und verneinte drängend. An Chris' kleinem Lächeln erkannte er, dass dieser seine bittenden Blicke richtig verstanden hatte, aber Spaß daran fand, ihn ein wenig zu provozieren. „Ach", fragte er deswegen unwissend. „Ist er etwa kein K-"
„Nein", unterbrach Oliver ihn barsch. Er blickte kurz zu Tony, der nun noch verwirrter aussah als zuvor, und betete, er würde nicht zwei und zwei zusammenzählen.
„Tatsächlich?", spielte Chris sein Spielchen weiter. „Na, das können wir aber ändern, denkst du nicht?"
Wut stieg in Oliver auf und er musste seine Fäuste fest um das stechende Metall der Schaukel schließen, um seine Stimme unter Kontrolle halten zu können. „Lass ihn da raus", warnte er seinen Chef und betonte dabei jede Silbe. Er würde nicht zulassen, dass Tony in diese Szene gerät. Es reichte, wenn er sein eigenes Leben und seine Zukunft aufs Spiel setzte, denn er hatte keine Wahl. Aber Tony hatte eine Wahl, er hatte noch die Möglichkeit einen guten Abschluss zu schaffen und einen richtigen, legalen Job zu bekommen. Er war so sauer auf Chris, da er ihm genau ansehen konnte, wie viel Spaß ihm das machte, doch er durfte es sich mit ihm nicht verscherzen. Vor allem nicht, wenn Tony dabei war. Also nahm er sich vor, noch einmal mit ihm zu reden, wenn er eine neue Fuhr Drogen zum Verkaufen abholen ging.
Chris konnte sich ein gehässiges Lächeln nicht verkneifen, als ihm der Beschützerinstinkt von Oliver förmlich entgegen sprang. Er wusste nicht, wer dieser Junge war oder warum er Oli so wichtig zu sein schien, doch er würde ihn sicher nicht vergessen. Es war immer günstig, etwas gegen seine Angestellten in der Hand zu haben, denn dann würden sie es sich zwei Mal überlegen, ob sie wirklich versuchen wollten auszusteigen. Doch für heute wollte er es gut sein lassen. Seine Stimme triefte vor Sarkasmus, als er den beiden Jungs noch einen schönen Tag wünschte und Oliver zuzwinkerte, ehe er den Spielplatz verließ.
Oliver musste sich derweil überlegen, wie er aus dieser Sache nun wieder heraus kommen sollte. Er konnte Tony nichts davon erzählen. Er war sich sicher, dass das das Ende ihrer Freundschaft bedeuten würde. Und die einzige Möglichkeit, Tony von dem gerade Geschehenen abzulenken, war, ihm das zu erzählen, wofür sie eigentlich hier waren.
„Also", begann Oliver deswegen, sobald Chris außer Hörweite war. „Ich wollte mich zuerst noch einmal entschuldigen. Es war wirklich nicht okay, wie ich mich dir gegenüber heute benommen habe. Aber wie gesagt, es fällt mir nicht gerade leicht darüber zu reden."
„Musst nicht-", begann Tony, doch Oli unterbrach ihn.
„Nein, ist schon in Ordnung. Vielleicht hast du ja recht und es hilft mir, mit jemanden darüber zu reden. Na schön, wo soll ich anfangen?" Ein Seufzen kam über seine Lippen, ehe er sich tief Luft holend durch die Haare fuhr. „Wie du vielleicht gemerkt hast, haben meine Mutter und ich keine all zu gute Beziehung zu einander. Aber das war nicht immer so. Jedenfalls nicht, als wir noch mit meinem Vater und meinem kleinen Bruder zusammen gelebt hatten."
Überrascht von der Erwähnung eines kleinen Bruders, zog Tony seine Augenbrauen in die Höhe und schaute Oliver abwartend an. Wo war sein Bruder jetzt und was ist zwischen seinen Eltern vorgefallen? Doch bevor er den Mut fand, diese Fragen zu stellen, fuhr Oliver mit belegter Stimme fort.
„Bis vor etwas mehr als sieben Jahren haben meine Mutter und ich noch mit meinem Vater und meinem Bruder Tom zusammen gelebt. Wir waren unzertrennlich, Tommy und ich. Er war eben mein kleiner Bruder und es war meine Aufgabe, auf ihn aufzupassen. Das stand immer an erster Stelle, genau so, wie mein Vater es wollte. Und mein Vater war ein guter Mann, streng aber er war immer mein Vorbild gewesen. Er war stark, hatte viele Tattoos und eine wunderschöne Frau." Er stoppte kurz, als er bemerkte, wie er über seine Mutter sprach. Schon lange war nichts gutes über sie mehr über seine Lippen gekommen. Aber bis vor sieben Jahren war sie für ihn nicht nur eine tolle Mutter, sondern auch eine vorbildliche Frau gewesen. Er hatte sich immer gewünscht, auch einmal so viel Glück in der Liebe zu haben. Bis er mit ansehen musste, wie sie seinen Vater scheinbar gewissenlos betrogen hatte. Er schluckte seine aufkommende Wut herunter und zwang sich, weiter zu erzählen. „Ich wollte immer so sein wie er, wenn ich erwachsen bin. Er wollte mir von klein auf beibringen, ein echter Mann zu werden. Ich weiß nicht, ob ich ihn dabei enttäuscht habe, zu Tommy jedenfalls war er um einiges sanfter, worüber ich ehrlich gesagt aber immer froh war. Tommy war ja erst sechs. Und ein kleines Sensibelchen." Er lachte traurig, als er sich daran erinnerte, wie oft er seinen kleinen Bruder nach Alpträumen hatte trösten müssen. Es wäre nicht auszudenken gewesen, wenn er selbst nach einem Alptraum zu seinem Vater gegangen wäre. Er war ja schon alt genug, um selbst damit umgehen zu können. Doch für seinen kleinen Bruder hatte er immer offene Arme. Er räusperte sich, um zu verstecken, wie nahe es ihm ging über seinen Bruder zu reden. Und anstatt seine Traurigkeit zu zeigen, tat er das, was er am besten konnte. Er wandelte sie in Wut um. „Bis meine Mutter alles zerstörte. Sie hat in einer Nacht einfach unsere Sachen gepackt und ist mit mir weggefahren. Nur mit mir. Tommy und Dad hat sie zurück gelassen. Ich wusste nicht, warum, bis wir bei Mitch ankamen."
Tony erinnerte sich an den Namen, vor allem, da er erkannte mit welchem Hass Oliver ihn aussprach. Obwohl er nicht wusste, ob dieser Mitch nun wirklich der Freund von Olivers Mutter war oder nicht, war er sich sicher, dass zumindest Oli in keinem guten Verhältnis zu diesem Mann stand. Doch er hielt sich mit seinen Fragen zurück, zumindest bis Oliver mit erzählen fertig sein würde.
„Mir war sofort klar, dass meine Mutter Dad für ihn verlassen hatte. Ich frage mich nur, wie ich nie bemerken konnte, dass zwischen den beiden etwas lief. Aber es erklärte, warum sie in den Monaten davor so viel Zeit mit ihm verbracht hatte. Doch auch bei ihm blieb sie nicht lange. Wenige Tage später sind wir umgezogen. Nicht weit weg von meinem Zuhause, aber zu weit weg für einen Zehnjährigen, um einfach selbst wieder zurück zu finden. Dann sind wir irgendwann nach Sheffield gezogen - über hundert Kilometer weiter nördlich. Wahrscheinlich hatte sie Angst, ich würde ihn irgendwann finden. Nicht, dass ich das nicht versucht hätte. Aber sie sind umgezogen, wahrscheinlich konnten sie sich das Haus alleine nicht leisten, nachdem Mums Einkommen weggefallen ist. Ich habe jahrelang alles versucht, aber ich hatte keinerlei Anhaltspunkte, wo sie sein könnten. Ich habe keine Ahnung, wie es Tommy heute geht oder wo er wohnt. Meine Mutter behauptet, sie wisse auch nicht wohin sie gezogen sind. Aber das glaube ich ihr nicht. Mein Vater hat sie geliebt, ich bin mir sicher er hat versucht sie zurückzugewinnen. Keiner von uns hat je eine Erklärung von ihr bekommen. Es mag ja sein, dass sie meinen Vater nicht mehr geliebt hat, aber wie konnte sie ihren eigenen Sohn zurücklassen? Wie konnte sie mir nicht nur meinen Vater, sondern auch meinen Bruder weg nehmen?" Olivers Stimme überschlug sich beinahe, weswegen er einmal tief Luft holte, ehe er – ohne Tony die Chance zu geben auf seine Fragen zu antworten – weitersprach. „Versteh mich nicht falsch, Tony. Ich weiß, dass man gegenüber seinen Eltern respektvoll und dankbar sein sollte. Aber nur weil sie meine Mutter ist, heißt das nicht, dass man nicht jeglichen Respekt wieder verlieren kann. Sie hat mir so viel genommen, für was soll ich ihr da noch dankbar sein? Ich würde sie nie ohne Grund so behandeln, aber ich habe Gründe. Und jetzt kennst du sie." Er drehte sich wieder nach vorne, blickte starr auf das Karussell, an dem vor nicht all zu langer Zeit seine Whiskyflasche zerschellt war, als er es nicht verkraftet hatte, einen weiteren Geburtstag seines Bruders zu verpassen.
Tony schaute ihn lange Zeit schweigend an. Er wusste nicht, was er erwidern sollte. Er konnte sich nur schwer vorstellen, wie schlimm es für Oliver gewesen sein musste, als seine Familie zerbrach. Er hatte leicht heraus hören können, wie sehr er seinen Bruder liebte. Es gab keine Worte, die diesen Riss in seinem Herzen hätten füllen können und das war Tony bewusst. Also beschloss er, auch keine Worte zu benutzen. Stattdessen stand er auf und zog auch den Älteren auf seine Beine, ehe er diesen in eine Umarmung zog. Etwas überrascht dauerte es ein wenig, bis Oliver die Umarmung erwiderte, doch als er es tat, spürte er, wie wenigstens ein bisschen Ballast von seinen Schultern fiel. Und vielleicht hatte er in Tony ja einen zweiten Bruder gefunden, der Tommy zwar nicht ersetzten konnte und sicher auch nicht wollte, aber dennoch den Schmerz zumindest ein kleines bisschen erträglicher machte.
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Outlaws.
Teen Fiction„Family doesn't end with blood." Seine Familie kann man sich nicht aussuchen. Aber wenn man Glück hat, findet man im Laufe seines Lebens einen Freund, der ein wahrer Bruder ist. Doch Oliver gehörte noch nie zur Gewinnerseite. Und bei dem Versuch, je...