"Okay, wer kann mir sagen, in welchem Jahr Marie Antoinette nach Frankreich kam?"
Ich schaute auf die Uhr: 12:47 Uhr. Noch drei Minuten. Ich spielte pausenlos mit meinem Stift und kaute mir ungeduldig auf die Lippen. Herr Spenner lief inzwischen zwischen den einzelnen Tischen umher und schaute in die ratlosen Gesichter. "Layca, weißt du's? Nicht? Okay, hmm wie wäre es mit Vlad? Auch nicht? Ach kommt schon Leute.."
Ich seufzte. Gleich geschafft.
Da lief er auf einmal mit einem riesigen Grinsen auf meinen Tisch zu.
"Aah Nadja!"
"Bitte nicht."
"Oooh doch."
Ich schaute hilflos zur Uhr.
"Und?"
"Ähm. Also..."
In diesem Moment klingelte es. Triumphierend grinste ich meinen Geschichtslehrer an und packte meine Sachen zusammen.
"Hausaufgabe ist Nummer drei auf dem Arbeitsblatt. Ich will 5 Seiten von jedem."
Nach und nach liefen alle redend und kichernd, mit von den Schultern hängenden Schultaschen, nach draußen. Ich war gerade dabei mir meine Mütze während dem Gehen über den Schopf zu ziehen als mich von hinten jemand am Arm griff. "Nadja, ich muss mal kurz mit dir reden."
Ich drehte mich langsam um und sah in die dunklen Augen meines Lehrers.
Ich riss meinen Arm los und stieß ein halbwegs höfliches "Klar." aus.
Er atmete tief durch, lehnte dich gegen den Pult und sah mich mit seinem "ich bin ja so besorgt um meine Schüler"-Blick an.
"Nadja", sagte er mit rauer Stimme, "ich habe große bedenken, was deine Leistungen angeht. Deine Noten werden immer schlechter."
"Mh-hm."
"Kannst du mir sagen woran das liegt?"
Ich zog eine Augenbraue hoch und legte den Kopf schief. Mit gekünstelt bestürzter Stimme antwortete ich:
"Aber Herr Spenner, das geht sie doch nichts an!"
Sein Blick wurde härter.
"Nadja, ich mein's ernst. Wenn das so weiter geht, bleibst du sitzen."
Ich gähnte und zuckte mit den Schultern. Was ging es ihn an, was mit mir passiert? Sein Job ist es Unterricht zu geben und unsere Leistungen zu bewerten. Der Rest kann ihm doch egal sein.
Er seufzte. Dann fuhr er sich durch die Haare. Schließlich sah er mir tief in die Augen und fing an irgendwas über Nachhilfe bei ihm zu Hause zu erzählen. Ich glaubte ich höre nicht recht. Als ob ich zu meinem Lehrer nach Hause gehe.
"Hören Sie mal, Herr Spenner. Ich muss jetzt wirklich nach Hause."
Er hatte mich schon geschlagene 15 Minuten lang vollgelabert und meine Geduld war nun wirklich gänzlich aufgebraucht.
Dann passierte etwas total seltsames. Er stellte sich aufrecht hin und kam ein paar Schritte näher, bis er direkt vor mir stand. Ich konnte seinen Aftershave riechen, sein Atem streifte meine Stirn und seine Schuhspitzen berührten meine schwarzen Stiefel.
Dann wagte er es ernsthaft, ein paar Augenblicke nachdem wir so standen, seine Hand auszustrecken und mir eine Haarsträhne aus den Gesicht zu streichen.
Ich bekam Gänsehaut. Nicht weil er so attraktiv war oder so, nein, ich bekam Gänsehaut, weil es mich anwiderte wie mich dieser 20 Jahre älterer Mann anschaute und berührte. Er legte seine Hand auf meinen Rücken und ließ sie an meinem Körper weiter runter streicheln. Ganz langsam und zärtlich, aber dennoch gewollt und bestimmend.
Ich weiß nicht, wieso ich nicht reagierte. Ich war wie in Trance. Wenn ich mit jemandem Älteren, des Geldes wegen, schlief, war das meine Taktik nicht daran zu denken. Ich ließ mich in Trance fallen, ich stellte alle Emotionen ab und ich tat, was ich tun musste. Ich sagte mir immer: "das passiert nicht wirklich" oder "das bist nicht du, du bist nicht hier" oder "morgen wirst du alles vergessen haben". Aber man kriegt die Gedanken, die Geräusche und die Gefühle eben niemals aus dem Kopf. Und während Herr Spenners andere Hand über meinen Hals streichelte, dachte ich über all dies nach und auch darüber wieso ich mir keinen wirklichen Job suchte oder wieso ich nicht einfach eine richtige Beziehung mit jemandem habe. Warum ich mich nie verliebe. Warum ich nicht zulasse irgendwelche Emotionen zu spüren.
Gestern mit Lolas Bruder ist übrigens auch nichts passiert. Wir tanzten, er fuhr mich heim, im Auto machten wir ein wenig rum und dann ging ich rein. Allein. Ich hatte nicht mal nach seiner Nummer oder seinem Namen gefragt.
Traurig, nicht?
Meine Mutter hatte früher immer gesagt ich solle mich für jemanden aufsparen. Für ihn, den Einen und Einzigen. Ich solle nur einem Mann mein ganzes Ich zeigen und nur einen mann anschauen. Ich solle nicht so werden wie sie es war, sagte sie immer. Sie bereute es sich nicht für meinen Vater aufgespart zu haben. Er hätte es verdient, da er der Einzige sei, den sie je wirklich liebte. Meinen Vater, der melancholische attraktive Junkie, dessen schwarzes Haar immer so aussah als wäre er gerade erst aufgestanden. Mein Vater, der Tage oder manchmal sogar Wochen einfach untertauchen oder verreisen konnte, sodass man vor Sorgen fast nicht mehr atmen konnte, dann endlich zurück kam, einen traurig anlächelte und in den Arm nimmt nur um gleich darauf mit seiner Gitarre unter dem nussbaum im garten zu sirzen und zu singen und zu schreiben. Während meine Mutter ihn ignorierte, weil sie so sauer war, dass er mal wieder ohne ein Wort zu sagen verschwand, lief ich leise zu ihm umd setzte mich neben ihn ins Gras. Er sang auf englisch, was wahrscheinlich seine Muttersprache war und manchmal ließ er mich auch einen Part übernehmen. Wir sangen und tanzten zusammen manchmal sogar bis in die Nacht.
Und irgendwann wenn sich meine Mutter abgeregt hatte, kam sie auch raus und tanzte mit. "Meine wundervollen zwei kleinen Tänzerinnen.", nannte mein Vater uns immer lachend.
Und heute weiß ich nicht einmal mehr wo er begraben wurde.
Obwohl herr Spenner ebenfalls dunkles Haar und dunkle Augen hatte, hatte er keinerlei Ähnlichkeit mit meinem Vater. Er war mysteriös, musikalisch, melancholisch aber dennoch witzig und warm gewesen. Während Herr Spenner unsicher, unscheinbar und uninteressant war. Er war einfach nur lächerlich.
Es reichte. Abrupt löste ich mich aus seinem Griff.
"Sie widern mich an.", sagte ich kühl bevor ich aus dem Zimmer stürmte. Ich rannte zum Bahnhof und kam gerade rechtzeitig an um in meinen Zug einzusteigen. Ich musste noch Jana vom Kindergarten abholen. Ich setzte mich neben eine alte Frau, die gerade einen Klassiker las. Während der ganzen Fahrt sah ich aus dem Fenster. Als ich aussteigen musste vibrierte mein Handy. Training heute erst um 19 Uhr. Na, toll. Wie ich mich schon darauf freute Lola wiederzusehen. Ich spielte mit dem Gedanken nicht hinzugehen und, wie Herr Spenner sagte, mir ernsthaft Gedanken über die Zukunft zu machen. Ich schüttelte den Kopf. Nein, niemals würde ich mit meiner Leidenschaft aufhören, nur weil mich so eine kleine Schlampe reingelegt hat.
Gemütlich lief ich zum Kindergarten. Ich ging rein umd fragte mach Jana, doch die Erzieherin meinte, man hätte sie schon abgeholt. Verwirrt fragte ich sie wer sie abgeholt hatte und sie meinte es wäre ihre Mutter gewesen.
Natha hatte Jana noch nie abgeholt.
Verwirrt lief ich nach hause. Daheim war niemand. Ich suchte in der Küche und im Wohnzimmer nach einer Notiz oder etwas dergleichen. Doch nichts war aufzufinden. Komisch. Ich hoffte nur, dass alles in Ordnung war.
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senseless
RandomIhr denkt bestimmt euer Leben ist scheiße. Jeden Tag den gleichen Ablauf, die Schule geht euch auf die Nerven, eure Eltern gehen euch auf die Nerven und eure Freunde haben nur selten Zeit für euch. Was für n' Horror. Wisst ihr, mein Leben lief ander...