Kapitel 10

21 0 0
                                    

"Lucy!" Allysons Schrei ließ mich endgültig aus meiner Trance erwachen und ich fiel neben den beiden Frauen auf die Knie. Auf Linneyas Gesicht hinterließen Tränen schimmernde Spuren und auch ich merkte, wie meine Augen anfingen zu brennen. Doch ich hatte keine Tränen mehr übrig. Zu viel war heute geschehen. Schmerzvoll pochte mein Herz gegen meine Rippen und ich fühlte mich, als würde ich vor Trauer und Schmerz zerspringen. "Lucy verdammt, komm schon!"; schrie Allyson weiter und schlug ihrer Freundin heftig ins Gesicht. Neben mir zuckte Linneya kurz zusammen und packte dann leicht aber bestimmt Allysons Handgelenk, als diese erneut zum Schlag ausholte. "Lass es gut sein Allyson.", sagte sie leise und ließ ihre Hand sinken. "Es ist zu spät." Keuchend schlang die Rothaarige die Arme um den Bauch und krümmte sich zusammen. Den Blick starr auf Lucy gerichtet hob ich die Hand und berührte den weißen Arm der Toten. Eine kleine Bewegung zuckte am Rande meines Blickfeldes vorbei. Ihr kleiner Finger. Hatte er sich gerade wirklich bewegt? Nein. Unmöglich! Lucy war tot. Und wieder hatte ich jemanden verloren, der mir am Herzen lag.

Lange saßen wir so da. Bewegungslos und still. Die Sonne verschwand schon wieder hinter den Bäumen als Linneya sich regte. "Wir sollten sie rein bringen", schlug sie vor. Ich nickte stumm und erhob mich. Allyson tat es mir gleich. "Komm", sagte ich sanft und streckte der immer noch am Boden kauernden Linneya eine Hand entgegen. Dankbar nahm sie sie an und ich zog sie hoch. Schwer lehnte sie an meiner Schulter. Sie schien alle Kraft verloren zu haben. Allyson streckte die Arme über Lucy aus und murmelte leise einige Worte. Ich verstand nicht was sie sagte, doch sofort bewegte sich der Waldboden und schien zu zerfließen. In wellenförmigen Bewegungen tat er sich auf und dicke Wurzeln schlängelten um die Tote herum. Sie schoben sich vorsichtig unter ihren Körper und verschlangen sich dort zu einer Art Trage. Fasziniert sah ich zu, wie Lucy in die Luft gehoben wurde und auf den immer weiter wachsenden Wurzeln zum Haus zu schweben schien. Wir standen stumm da und sahen zu, wie sie im Haus verschwand. Kurz darauf zogen sich die Wurzeln wieder zurück und verschwanden in der Erde. Nur die Kampfspuren blieben.

Ich erwachte am nächsten Morgen bereits bevor die Sonne vollständig aufgegangen war. Wir alle hatten in der letzten Nacht kaum Schlaf gefunden und auch wenn ich immer noch völlig erschöpft war konnte ich nicht liegen bleiben. Die Erinnerung an das fröhliche Mädchen schmerzte. Ihre leuchtenden Augen waren geschlossen. Ihr Gesicht so weiß wie Schnee und ihre Haut kalt. So sah ich sie vor mir. Die Bilder überlagerten alles andere. Jedes Gefühl, jeden Gedanken. Alles was wir taten war, als täten wir es im Traum. Ich lief herum, aß, trank und doch war ich nur ein Schatten meiner selbst. Ein weiterer Teil von mir war gestorben. Erst mein Vater, dann Lydia und jetzt Lucy. Mein Herz schien zu zerfallen und jeder weitere Tod riss noch ein weiteres Stück heraus. Im Laufe des Tages verdunkelte sich der Himmel. Dicke Wolken verdeckten die Sonne und in den Zimmern herrschte fast völlige Dunkelheit. Doch niemand zündete den Kamin an. Nur das schwache Pulsieren des Steines an meiner Brust kündete noch von Leben. "Lucy hat es gewusst!", durchbrach Allysons Stimme die Stille. Ich sah auf. Ihre giftgrünen Augen ruhten mit schwerem Blick auf mir. Die Ausdruckslosigkeit darin wechselte in Trauer und dann in tobenden Zorn. "Sie hat gewusst, dass du kommen würdest. Sie hat gesehen, wie du gegen diese ... diese Monster kämpfst!" In einer Geste hilfloser Wut deutete sie nach draußen. "Es war ihre Idee dich zu retten. Sie sagte du würdest uns alle befreien, uns unser altes Leben wieder geben. Und sie sagte, dass es Opfer geben wird. Nur haben wir nicht gewusst, dass es dabei um sie geht!" Tränen erschienen in ihren Augen. Verärgert wischte sie sie weg. "Das ist alles nur deine Schuld!" Inzwischen war sie aufgesprungen. Ihr ausgestreckter Finger zeigte drohend in meine Richtung. Für einen Moment konnte ich nichts anderes tun, als wie versteinert da zu sitzen und sie anzustarren. Dann erreichten mich ihre Worte und sie brachen wie eine Sturmflut über mich herein. Sie hatte Recht! Ich war an alldem Schuld. Ich war für alles verantwortlich. Wäre ich nicht gewesen, wäre Lucy noch am Leben. Sie hatte ihren eigenen Tod gesehen und hatte mich trotzdem gerettet. Sie hatte es gewusst. Es war wie ein Schlag in die Magengrube. Es presste alle Luft aus mir heraus und ließ mich kraftlos zurück. Allyson deutete mein Schweigen falsch. "Verschwinde!", schrie sie mich an. "Verschwinde, na los!" Mit einem Ruck erhob ich mich aus dem Sessel und floh aus dem Raum. Als die Tür sich hinter mir schloss und ich im dunklen Gang stand überrollte mich die Trauer von neuem. Diesmal jedoch noch stärker als zuvor. Das ist alles nur deine Schuld! Schluchzend brach ich zusammen, doch die Tränen kamen noch immer nicht. Deine Schuld, deine Schuld, deine Schuld! Was war nur mit mir passiert? Ich hatte nie jemandem Leid zugefügt. Außer ein einziges Mal. Ein Unfall! Noch immer wehrte sich alles in mir es als etwas anzunehmen, das ich getan hatte. Nach einer halben Ewigkeit fühlte ich mich völlig ausgelaugt. Das heisere Schluchzen brannte in meiner Kehle und mein ganzer Körper war verkrampft und schmerzte. Haltsuchend streckte ich die Hände in die Dunkelheit. Doch niemand war da. Meine Finger berührten kaltes Holz und ich zog mich mit zitternden Beinen an der Wand empor. Lucy. Ich musste sie sehen! Nur wenige Schritte trennten mich von ihr. Langsam öffnete ich die Tür. Es schien als hätte die Kälte nur darauf gewartet aus ihrem Käfig gelassen zu werden. Nun umhüllte sie mich und drang tief in mein Innerstes. Todeskälte. Angst. Verzweiflung. Lucy lag genauso da wie es mir die Bilder in meinem Kopf zeigten. Die Hoffnung, sie hätte sich vielleicht bewegt, war töricht. Ich starrte sie an, als könnten meine Blicke das Unvorstellbare vollbringen, doch wie zu erwarten war, passierte rein gar nichts. Mit einem Kloß im Hals trat ich zum Bett heran und berührte leicht ihren Arm. Prickelnd wie kleine Eiskristalle zog der Schmerz meinen Arm hinauf. Spitze Nadelstiche unter der Haut. Auch die anderen hatten ihn gespürt. Es war schrecklich jemanden zu verlieren und ihn nicht einmal mehr berühren zu können, ohne selbst körperliche Qualen zu erleiden. Als ich spürte, wie mir nun doch Tränen in die Augen traten, wandte ich mich ab und lief zu der Wand, mit den Bruchstücken aus Lucys Visionen. Wie auch am Tag zuvor zogen die beiden leuchtend goldenen Punkte meinen Blick auf sich. Meine eigenen Augen schienen mich anzustarren, mit einer stummen Botschaft. Doch ich verstand sie nicht. Ich wusste nicht mehr wer ich war. Ob ich überhaupt noch jemand war. Konnte man noch leben, mit einem Loch im Herzen? Einem Loch, das stetig weiter wuchs. Einem Loch für das man selbst verantwortlich war?


Die Suchenden   ~Daughter of Death~Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt