Kapitel 9

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Kurz darauf verschwamm das Bild vor meinen Augen und ich war zurück in Lucys Zimmer. Eine Weile spürte ich noch den Wind und roch den salzigen Geruch des Meeres, hörte die kreischenden Möwen. Dann war alles still. Der Stein in meiner Hand leuchtete schwach. Eine einzelne Träne lief mir über die Wange. Was war meine Gabe? Ich holte tief Luft und hängte mir die Kette wieder um den Hals. Der leichte Druck unter meinem Schlüsselbein beruhigte mich und mein Herz fand seinen gewohnten Rhythmus wieder. Zwei leuchtende Punkte an der Wand erweckten meine Aufmerksamkeit. Goldene Punkte, dort wo Lucy Teile ihrer Visionen festhielt. Als ich näher trat, erkannte ich, dass es Augen waren. Meine Augen! "Lucy!", rief ich. Etwas in mir krampfte sich zusammen. Ich bekam keine Antwort. "Lucy?" Nichts. Plötzlich fuhr ein brennender Schmerz meinen Arm hinauf und schnürte mir die Luft ab. Ich hatte das schon einmal gespürt. Die Erinnerung daran verstärkte den Schmerz noch und ich sank keuchend zu Boden. Presste meine Stirn an das kühle Holz und verharrte so, bis der Schmerz langsam abebbte und schließlich nur ein dumpfes Pochen übrig blieb. Schwer atmend rappelte ich mich auf und suchte Halt an einer Säule, die mitten im Raum stand und die Decke stützte. Kraftlos lehnte ich mich dagegen, bis meine Atmung sich wieder beruhigt hatte und mein Kopf wieder klar wurde. Dann lief ich mit großen Schritten zur Tür, stieß sie auf und betrat den Flur. Alles war still. "Lucy?" flüsterte ich. "Linneya? Allyson?" Der Boden quietschte, woraufhin ich stehen blieb und angespannt lauschte. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Ein Schrei. Lang und gequält. Aus ihm sprach der selbe Schmerz, den ich kurz zuvor gespürt hatte. Und da wusste ich es. Sie waren da. Während der Schrei mir noch immer in den Ohren klang, erinnerte ich mich schemenhaft, wie Lucy gesagt hatte, dass meine Waffen auch hier irgendwo waren. Ziellos lief ich in den Raum zu meiner rechten und stand in einem weiteren Zimmer. Bücher stapelten sich bis an die Decke, nur an einer Wand stand ein Bett, gegenüber einige Sessel, ähnlich wie in Lucys Zimmer. Ich kehrte den Büchern den Rücken und sah im Raum gegenüber nach. Die Tür klemmte und ich musste mich mit aller Kraft dagegen lehnen, bis sie schließlich knarrend nachgab. Vor mir lag eine kleine Waffenkammer. Nach einem kurzen Moment der Verwunderung entdeckte ich meine Taschen, die Messer und meinen Dolch neben einer Sammlung Schwerter, drei Paar Pfeil und Bogen, sowie aller Art Dolche und Wurfnadeln. An einer Wand stand ein Regal, gefüllt mit Tränken und Tinkturen. Schnell lief ich zu meinen Waffen und legte mir den Gürtel mit dem Dolch um. Wahllos nahm ich ein Schwert von der Wand und befestigte es neben der kleinen, gewellten Klinge. Dann nahm ich meine Messer und verließ eilig den Raum. Draußen hörte man jetzt Schwerer klirren. Ich beschleunigte meine Schritte, sodass ich fast rannte und lief den Kampfgeräuschen entgegen. Schließlich stand ich wieder vor der Tür zum Hauptraum, in dem ich in dieser Nacht Lydias Seelenstein erhalten hatte. Nun war es Mittag. Durch die Fenster, die sich gut fünf Meter in der Höhe befanden drang helles Licht herein. Eine weitere große Tür, die ich vorher nicht bemerkt hatte stand nun offen und gab den Blick auf ein Stück Wald frei. Das Klirren der Schwerter hielt an und ich steuerte geradewegs darauf zu. Als ich nach draußen trat bot sich mir ein zugleich tödliches, aber auch erstaunliches Schauspiel. Drei der ehemals zehn dunklen Gestalten umrundeten Linneya und Allyson. Die leuchtenden Klingen drohend auf sie gerichtet. Die beiden Frauen standen schützend vor einer am Boden kauernden Person mit wuscheligen, blonden Locken. Lucy! Mit einem wütenden Schrei stürzte ich mich auf die Kapuzengestalten und zog einer das Messer über den Rücken. Mit einem hohen Kreischen, das keinesfalls menschlich war, schoss die Gestalt herum und holte mit dem Schwert aus. Geschickt sprang ich zur Seite und umrundete dabei meinen Gegner. Jetzt stand ich neben Allyson und Linneya, die damit beschäftigt waren die beiden anderen Gestalten abzuwehren und Lucy zu schützen. Diese schien kurz vor einer Ohnmacht zu stehen und nahm das, was um sie herum passierte vermutlich gar nicht mehr wahr. Linneya warf mir einen kurzen, dankbaren Blick zu und schwang dann ihr Schwert elegant über den Kopf, wobei sie fast einen er Angreifer enthauptet hätte. Fast. Allyson spannte ihren Bogen und schoss einen Pfeil nach dem anderen. Diese flogen jedoch entweder an den Gestalten vorbei oder schienen sie überhaupt nicht zu stören, selbst wenn sie ihr Herz hätten durchbohren müssen. Derweil konzentrierte ich mich wieder auf den dritten Gegner. Er hielt Abstand, zumindest soweit, dass ich ihn nicht erreichen konnte, wenn ich mich nicht aus der Formation löste. Also packte ich meine Messer fester, holte aus und warf. Beide trafen ihr Ziel. Das eine ins Herz, das andere unter die Kapuze, dort wo bei jedem normalen Menschen das Gesicht sein sollte. Scharf zog ich die Luft ein, als der Schwarze das Schwert fallen ließ, nach unten blickte, den Griff des einen Messers mit beiden behandschuhten Händen packte, es aus seinem Körper zog und verächtlich fort warf. Das andere Messer ließ er wo es war und auch wenn ich im Schatten der über seinem Gesicht lag nichts erkennen konnte, schien er mich hämisch anzugrinsen. Das waren keine Menschen, schoss es mir durch den Kopf. Das waren Dämonen! Gerade hob mein Gegenüber sein Schwert wieder auf, als mir auffiel, dass er dabei den linken Arm etwas schonte. Es fiel fast nicht auf, doch nun wusste ich, wen ich vor mir hatte. Denn genau diese Gestalt hatte ich verwundet und ihr verdankte ich auch den immer wiederkehrenden Schmerz in meinem rechten Arm, der zum Glück im Kampf verschwunden war. Herausfordernd grinste ich zurück. Ich hatte dieses Monster schon einmal getroffen. Nun würde ich es töten. Langsam zog ich mein Schwert. Die anderen blendete ich aus. Meine ganze Konzentration richtete sich auf meinen Gegner. Dieser ließ auch nicht lange auf sich warten und sprang auf mich zu. Nach einem kurzen, aber heftigen Schlagabtausch zogen sich beide Seiten kurz wieder zurück. Ich war so ruhig, wie ich es nur im Kampf war. Ich fühlte nichts. Spürte nur bewusst jedes meiner Körperteile und wusste instinktiv was ich tun musste. Doch mein Herz schien als wäre es aus Eis. Eingefroren für den Moment. Ein letztes Mal noch hob mein Gegner das Schwert, ließ einen wütenden Schlag von oben auf mein Gesicht hinabsausen. Ich blockte das Schwert ab und lenkte es zur Seite. Mit einem Knurren wirbelte die Gestalt herum und verschwand im Wald. Die anderen beiden folgten kurz darauf. Ein wenig enttäuscht, dass wir keine getötet hatten ließ ich das Schwert sinken. Linneya und Allyson knieten neben der wimmernden Lucy. Ihr Atem ging flach. Schmerzhaft wurde mir bewusst, dass ich sie ganz vergessen hatte und während mein Herz wieder auftaute fiel ihr Kopf zur Seite und sie bewegte sich nicht mehr.

Die Suchenden   ~Daughter of Death~Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt