Kapitel 7

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"Ich?", stieß ich mühevoll hervor. Die Trauer in ihren Augen ließ mein Herz schwer werden und ich musste schlucken. "Wer?" Sie senkte den Blick. "Sie sagte ihr Name ist ... Lydia"

Ich fühlte mich, als würde meine Welt zusammen brechen. Als stürze ein Wasserfall mit aller Macht auf mich herab. Und das tosende Wasser brachte alle Bilder zurück. Ihr Blick als sie starb, ihr Mörder, ich, die nichts getan hatte, die zugelassen hatte, dass sie starb. Das Gefühl der völligen Leere. Die gleiche Leere, die ich gefühlt hatte als mein Vater starb. Nichts und doch zu viel, viel zu viel. Und die Fluten drückten mich in die Tiefe.

"Lydia", flüsterte ich heiser. Tränen rannen mir aus den Augenwinkeln. "Was ist passiert? Hast du sie gesehen? Wie ist das möglich?" In meinem plötzlichen Anflug von Panik und hysterischer Trauer sprang ich auf und meine Stimme wurde hoch und schrill. Ich konnte kaum atmen. Lucy legte mir beruhigend eine Hand auf die Schulter. Die selbe Geste, wie bei Linneya vor wenigen Augenblicken. Freundlich, vertraut und sanft. Ich schloss die Augen und versuchte mich zu sammeln. Langsam ließ ich die Luft aus meinen Lungen weichen und setzte mich wieder. Mit einem mitfühlenden Lächeln legte Linneya ihre Hand auf meine und nickte Lucy zu, woraufhin sie ein paar Schritte zurück ging und Allyson dabei mit sich zog, um uns ungestört reden zu lassen. "Es wird dich vielleicht etwas erschrecken", warnte die Schwarzhaarige mich. Ich sah in ihre violetten Augen und versuchte ihr stumm mitzuteilen dass sie fortfahren sollte. "Ich kann mit Geistern reden." Ich sog scharf die Luft ein, blieb ansonsten jedoch ruhig. Ich glaubte ihr. "Sie kommen zu mir, damit ich ihnen helfe Frieden zu finden. Weist du, manche Menschen haben eine Aufgabe. Auch Lydia hatte eine. Und diese Aufgabe warst du." Verwirrt runzelte ich die Stirn. "Wie meinst du das?" Sie seufzte. "Das kann sie dir am besten selbst erklären. Hier" Sie zog eine silberne Kette aus einer versteckten Tasche in ihrem Gewandt und reichte sie mir. Daran hing ein großer runder Stein. Er sah ein bisschen aus, als wäre er aus Glas, doch da war etwas in ihm. Ein schwaches Schimmern. Wie das Glühen eines fast erloschenen Feuers. Ich drehte den Stein vorsichtig zwischen den Fingern. "Der ist wunderschön, aber ... was genau ist das?" "Das ist ein Seelenstein", erklärte sie. Ich legte den Kopf schief und musterte den Kristall interessiert. "Ein was?" "Ein Seelenstein!" Sie lachte als ich sie verwirrt anschaute. Noch nie hatte ich von so etwas gehört. "Jeder hat einen Seelenstein. Du kannst ihn jemandem anvertrauen, wenn .. du stirbst. Dann kann derjenige mit dir sprechen, bis die Energie des Steins aufgebraucht ist. Starke Menschen, haben auch meist stärkere Seelensteine, als andere. Ihre Energie reicht dann für einen längeren Zeitraum. Doch wenn sie einmal verloschen ist, kann niemand sie je wieder zurück holen. Lydia wollte, dass du ihren bekommst." Erneut füllten sich meine Augen mit Tränen. Ich hatte sie noch nicht verloren! Ich konnte mit ihr reden, sie alles Fragen was ich wollte. Ich war nicht länger allein. "Wie funktioniert es?", fragte ich Linneya. Diese streckte die Hand aus. Wiederwillig gab ich ihr die Kette zurück. Vorsichtig schloss sie die weißen Hände darum und schloss die Augen. "All deine Gedanken müssen auf sie fixiert sein. Denke an alles was dich mit Lydia verbindet. Dann ruf sie! Sie wird kommen. Vorausgesetzt sie möchte das." Als sie die Augen wieder öffnete lag ein freundliches Glänzen in ihnen. "Sie will mit dir reden!" Überrascht sprang ich auf. Freudige Erwartung durchflutete mich. Aber auch Angst und Unsicherheit. Ich hatte sie sterben lassen. Das konnte sie mir nicht verzeihen. Oder? Linneya reichte mir den Seelenstein und ich hängte ihn mir um den Hals. "Danke. Für alles!" Sie lächelte. Vom anderen Ende des Raumes kam Lucy gespannt auf mich zu. "Alles in Ordnung? Was ist das?" Sie deutete auf den Stein, knapp unter meinem Schlüsselbein. "Lydias Seelenstein", erklärte ich mit einem kurzen Blick zurück zu Linneya. Lucys Freudenschrei ließ mich jedoch sofort wieder herumfahren. "Wow, wie toll, zeig mal!" Ohne meine Antwort abzuwarten, nahm sie die Kugel vorsichtig zwischen zwei Finger und betrachtete sie. "Kein normaler Mensch hat so einen Seelenstein!", stellte Allyson kühl fest, die plötzlich neben uns stand. "Linneya, was ist das? Du kannst mir nicht erklären dass ....." "Sie war auch kein einfacher Mensch!", unterbrach Linneya sie. "Ach" Allyson hob die Augenbrauen. "Und was war sie dann?" Gerade wollte ich klarmachen, dass Lydia meine Zofe gewesen war, und sie mir wie fast kein anderer am Herzen gelegen hatte, als Linneyas Antwort mich erstarren ließ. "Auch sie war eine Begabte!"

Stille. Keiner sagte auch nur ein Wort. Dann .... "Was!?" Allyson riss die Augen auf. "Völlig unmöglich!" Es gibt nur noch eine Handvoll von uns! Wie sollte sie das versteckt haben? Wir sind in dieser Welt nicht länger erwünscht!" Ich schüttelte ungläubig den Kopf. "Moment, sie war ... eine Begabte? Aber ..." Linneya nickte und Lucy hüpfte aufgeregt von einem Fuß auf den anderen. "Wie toll", kicherte sie. "Was war ihre Gabe?" Auch Allyson und ich sahen die Geisterseherin erwartungsvoll an. Doch sie schüttelte den Kopf. "Das hat sie nicht gesagt. Sie wollte, dass du es erfährst, aber nicht von mir. Von keinem, außer ihr." Ich nickte. "Danke!" Linneya lächelte schwach. "Rede mit ihr. Sie wartet auf dich." Lucy nahm meine Hand und drückte sie leicht. "Komm." Noch leicht benebelt von den ganzen Neuigkeiten, ließ ich mich von ihr zur Tür bringen, die zurück in den Flur führte. "Ach und Serafina?" Ich drehte mich um. Linneya war aufgestanden und sah uns hinterher. "Sie glaubt an dich!" Ich nickte dankbar. Dann folgte ich Lucy nach draußen.

Als die Tür sich schloss, konnte ich die aufgebrachte Stimme von Allyson hören. Was genau sie sagte, verstand ich jedoch nicht. Es war mir auch egal. Ich würde jetzt mit Lydia reden! Lucy führte mich in ein kleines Schlafgemach. Hier standen ein Bett, ein Schrank, ein kleiner Tisch, mit drei Sesseln und ein weicher Teppich bedeckte den Boden. An der Wand gegenüber des Fensters waren verschlungene Buchstaben in das Holz geschnitzt und neben manchen Sätzen kleine Bilder aufgemalt. "Das ist mein Zimmer", erklärte Lucy. "Entschuldige. Die Sache mit dem Steintisch, meine ich. Allyson war der Meinung wir sollten dich besser dort hinbringen. Und dort konnten wir auch deine Wunde versorgen." Bei diesen Worten fuhr ein eisiger Schmerz durch meinen Arm. Ein schneller Blick sagte mir, dass er verbunden worden war und dem Geruch nach mit Pflanzenölen versorgt worden war. Ein nervöses Lächeln umspielte Lucys Lippen. Es tat ihr wirklich leid, was mit mir passiert war. "Macht nichts. Und danke", sagte ich, mit einem weiteren Blick auf einen Arm. "Aber ... warum war ich gefesselt?" Lucy setzte sich in einen der Sessel und betrachtete mich. "Das war auch Allysons Idee. Linneya und ich waren erst dagegen. Aber dann haben wir doch zugestimmt. Du hast dich im Schlaf hin und her geworfen und wir hatten Angst, dass du dich noch selbst verletzt. Deine Waffen sind übrigens auch hier." Ich nickte. "Was ist das?", fragte ich und deutete Auf die Wand mit den Schriftzeichen. "Ach das" Lucy wirkte verlegen. "Dinge die ich in meinen Visionen sehe. Dinge die mir wichtig erscheinen. Ich habe Angst sie sonst zu vergessen. Das ist schon mal passiert." Traurig wandte sie den Kopf ab. Ich zog es vor nicht weiter nach zu fragen, um sie nicht zu verletzen. "Ich lass dich dann mal allein", meinte Lucy. Schnell ging sie zur Tür, doch ich hatte die Tränen in ihren pinken Augen schon gesehen. "Lucy", hielt ich sie sanft zurück. Sie blieb stehen, drehte sich jedoch nicht um. "Tut mir leid" Sie nickte leicht. "Schon gut" Dann schloss sie die Tür.

Eine Weile saß ich da und betrachtete den Seelenstein. Dann löste ich die Kette von meinem Hals und umschloss den etwa Kirsch-großen Stein mit beiden Händen. Ich dachte daran, wie sie mir jeden Morgen das Frühstück brachte, an unseren gemeinsamen Ausritt und schließlich an ihren Tod. Ich schrie. Schrie ihren Namen. Ich sah ihr Gesicht vor mir. Sie lächelte. Ich stand auf den Klippen, nahe des Schlosses, wo das Meer an den Felsen tobte und schäumend weiße Kronen formte. Die Sonne war am wolkenverhangenen Himmel nur als schwacher Schimmer zu erkennen und über mir zogen kreischend die Möwen ihre Runden. "Serafina" Eine sanfte Stimme wehte zu mir herüber. "Lydia", flüsterte ich und drehte mich um. Die alte Frau stand einige Meter vom Abgrund entfernt und lächelte mich traurig an. "Mein Kind!" Zitternd streckte sie die Hände nach mir aus. Schluchzend lief ich auf sie zu, wollte nach ihren Händen greifen, sie umarmen. Doch alles was ich spürte war Luft. "Lydia", schluchzte ich. Ohne es zu merken, hatte ich angefangen zu weinen. "Wieso?" "Ich bin ein Geist. Du kannst mich zwar sehen und auch hören, aber du kannst mich nicht anfassen." "Warum sind wir hier?" Ich sah mich um. Der Wind pfiff um uns herum und riss an meinem Kleid und meinen Haaren. Lydia schien er jedoch nicht zu erfassen. Nichts an ihr bewegte sich, nicht eine Strähne kräuselte sich. "Ich habe diesen Ort ausgesucht, weil es ihr Lieblingsplatz war, so wie es auch deiner war." "Meine Mutter", flüsterte ich. "Ja" Lydia hob erneut eine Hand, ließ sie jedoch sofort wieder sinken. "Sie war eine gute Frau. Und sie hat dich geliebt!" Ich hob den Kopf. Nun war nicht der Zeitpunkt über meine Mutter zu reden. Das hatte Zeit. Zu viele andere Fragen schwirrten mir durch den Kopf. Und ich brauchte Antworten! Jetzt! "Warum hast du es mir nie erzählt? Dass du eine Begabte bist?" Traurig senkte sie den Kopf. "Ich wollte nicht dass du Angst vor mir hast. Die Geschichten, die dir als Kind erzählt wurden, dass es keine Begabten gibt, dass das alles nur Märchen sind. Ich dachte du würdest mich von dir stoßen. Und das konnte ich auf keinen Fall zulassen!" "Wieso? Was ist deine Gabe?" Lydia schüttelte den Kopf. "Lydia!", sagte ich nun energischer. "Ich weiß du wolltest mir sagen! Jetzt tu das auch!" "Meine Gabe", sie sah mich an, "bist du!"

Die Suchenden   ~Daughter of Death~Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt