Kapitel 1 | Elle
Kleine Dinge können eine große Wirkung haben. Das hat Vater mir einmal gesagt, als ein Vogel mit verletztem Flügel vor unserem Haus am Boden lag. Ich dachte, ich täte das Richtige, als ich ihn aufnahm und den Bruch mit einer leichten Berührung seiner Schwingen heilte. Er wäre schließlich daran gestorben. Dass Vater mich danach wütend auf den Dachboden sperrte, habe ich nicht vorhergesehen. Zeige niemandem, was du tun kannst. Sonst werden sie dich uns wegnehmen.
Seit ich klein bin, weiß ich, dass ich anders bin als die Kinder im Dorf. Ich bin nie krank gewesen, habe mir noch nie einen Knochen gebrochen. Und mein Haar ist so hell, dass man an Sonnentagen glaubt, es glüht.
Ich blicke auf in den blauen Himmel, streiche mir das Haar über die Schulter. Ein heißes Prickeln zieht durch meine Fingerspitzen, sendet mir ein Leuchten direkt in die Hände. Wieso darf ich ihnen nicht helfen? Ich denke dabei an den alten Hendrik, dessen Gicht jeden Tag schlimmer wird und dem ich die Schmerzwellen so gerne nehmen möchte. Da gibt es noch den Jungen der Müllerfamilie. Er brach sich vorgestern das Bein, schreit die Nächte vor Qualen, dass das gesamte Dorf es hören kann. Und immer nur sieht Vater mich an und schüttelt mit dem Kopf. Ich verstehe es nicht.
Ein blauer Schmetterling setzt sich auf den Saum meines Kleides, bewegt seidig die schimmernden Flügel. Ich bemerke, dass die Schuppen verletzt scheinen, als sei er mit etwas in Berührung gekommen, dass Schmetterlingsstaub verloren ging. Ein Gefühl sagt mir, dass er bald nicht mehr fliegen kann, sollte er noch mehr von seinem Staub verlieren.
»Ich werde dir helfen«, flüstere ich, strecke dem Schmetterling die Hand entgegen. Er hüpft erst auf meinen Zeigefinger, danach in die Handfläche. Vorsichtig schließe ich die andere darüber und spüre bereits, wie das aufgeregte Flattern mit dem Licht harmoniert. Ein Sog erfasst die Fingerspitzen, während das Leuchten durch meine Finger fließt, als habe es sich mit dem Blut darin verbunden. Eine wohlige Wärme erfüllt mich. Sobald ich meine Gabe anwende, fühle ich mich frei und glücklich. Und ich bin mir sicher, dass der Falter es in diesem Moment genauso empfindet wie ich.
Plötzlich höre ich einen verängstigten Laut. Ein Wimmern. Als ich den Kopf hebe und gleichzeitig die Hände öffne, um den Schmetterling in die Freiheit zu entlassen, erkenne ich eine Frau, die nicht zur Dorfgemeinschaft gehört. Das Prickeln verrät mir, ohne dass ich hinsehen muss, dass meine Finger immer noch glühen, und sie das Licht sieht. Zeige niemandem, was du tun kannst. Sonst werden sie dich uns wegnehmen.
»Du bist ... oh nein ... Sie werden mich ... oh nein.« Panik tritt in ihre dunklen Augen, als ich aufstehe und vorsichtig auf sie zugehen will. »Bleib, wo du bist, Hexenbiest!«, schreit die Reisende, rafft den Rock und flüchtet.
Was geschieht hier? Meine Beine laufen von ganz alleine, verfolgen die kreischende Dame, die hilfesuchend die Arme in die Höhe reißt.
»Ma'am, so wartet doch! Ich bin nicht ...«
Doch ehe ich reagieren kann, bricht der weiche Boden des Ackers weg und sie stürzt in die angrenzende Schlucht, die das Dorf von dem schwarzen Wald trennt, den ich nie betreten darf. Ich beeile mich, zu ihr zu kommen, doch der weite Rock behindert mich beim Rennen. Vater erlaubt keine Hosen mehr. Sie seien zu männlich, zeigen meine Hüften zu verführerisch. Er hat Angst, jemand könne mich mit einem Freudenmädchen verwechseln, die in den Städten in Korsett und Strümpfen fremde Männer beglücken.
»Ma'am!«, rufe ich und beuge mich vorsichtig im Sitzen vor, um in die Schlucht zu schauen. Sie liegt auf einem Felsvorsprung, nicht weit entfernt. Ich kann Blut an ihrem Kopf erkennen, aber von hier oben werde ich ihr nicht helfen können.
Es bleibt keine Zeit, Hilfe zu holen. Ich sehe mich um, entdecke einen alten Brückenpfeiler, der aus kräftigem Holz in den Boden geschlagen ist. Ohne lange nachzudenken löse ich einen Gürtel von meiner Taille, den ich mit zwei Knoten an dem Holzpfeiler festbinde. Mit einem Blick versichere ich mich, dass mich keiner beobachtet. Ich ziehe mir das Kleid über den Kopf und stehe im Unterkleid da. Seitlich binde ich es auf Hüfthöhe fest, und prüfe noch einmal den Ledergürtel, ehe ich die Schlucht einen Meter hinunterklettere. Als der Gürtel endet, kann ich den Boden immer noch nicht berühren, vertraue meinem Instinkt und lasse los.
Ich lande neben der Reisenden, die ich retten möchte. Mit den Händen begutachte ich die Kopfverletzung, das gerinnende Blut. Bitte, flehe ich das Licht an, hilf ihr.
Das Leuchten erfasst das Blut in meinen Adern, macht es erst warm, dann heiß. Mit glühenden Fingerspitzen streiche ich über die Wunde, ohne sie tatsächlich zu berühren, kreisenden Bewegungen vor meinem inneren Auge folgend. Es ist, als male ich die Verletzung zu, webe eine neue Hautschicht darüber, die den Schädelknochen heilen lässt.
»Ma'am«, flüstere ich erleichtert, als sie die Lider aufschlägt und sich aufrichtet. Ihr Gesichtsausdruck ist wunderlich und ich versuche, es zu erklären, ohne das Licht zu erwähnen, verstecke die Hände hinter meinem Rücken. »Ihr seid gestürzt. Könnt Ihr Euch erinnern?«
»Nein«, murmelt sie, blickt sich um und wankt.
»Nicht hinuntersehen«, rate ich ihr. Ich setze mich neben sie und warte, bis sie wieder Herr ihrer Sinne ist. Die Verletzung wog schwer und hat mir mehr Energie entzogen, als ich vermutet habe. Ich spüre ein unnachgiebiges Pochen an den Schläfen, das von diesem starken Kräftezehren zeugt. Eine Pause ist auch für meine Kraftreserven gut. »Wir müssen dort hinauf«, erkläre ich nach einer Weile. »Ich werde Euch hinaufhelfen und Ihr müsst mich danach raufziehen, einverstanden?«
Sie blickt mich mit gerunzelter Stirn an, als ich mich bücke und ihr die ineinander verhakten Hände anbiete. »Bitte?«
»Setzt Euren Fuß auf meine Hand. Ich werde Euch hochdrücken.«
»Bitte?« Zögerlich tut sie, wie von ihr verlangt, und stellt den Fuß in meine Hand.
»Drückt Euch nun hoch. Ich werde Euch halten.«
Ohne Vorwarnung steigt sie mit vollem Gewicht in meine Hände und reißt die Arme hoch, um sich an der Kante festzukrallen. Ich keuche, schiebe sie mit aller Kraft hinauf. Und es gelingt uns tatsächlich!
Die Müdigkeit erfasst meine Glieder und ich blicke erwartungsvoll nach oben, gleich eine Hand, ein Seil oder sogar den Gürtel zu fassen zu bekommen. Aber auch nach einer Minute geschieht nichts.
»Ma'am? Geht es Euch gut?« Was ist, wenn sie das Bewusstsein verloren hat und nun da oben liegt? Erschrocken von diesem Gedanken schaue ich mir die Schluchtwand an und entdecke eine herausragende Wurzel. Falls sie meinen Gürtel nicht mit ihrem Körper an eine andere Stelle befördert hat, muss er genau dort sein, sage ich mir und angle nach der Baumwurzel. Ich greife ins Nichts, suche verzweifelt nach Halt und finde schließlich das Gürtelende.
Ächzend ziehe ich mich hoch und lande im Gras. Ich keuche, blicke mich um. Aber von der Reisenden fehlt jede Spur. Zeige niemandem, was du tun kannst. Sonst werden sie dich uns wegnehmen. Ich beiße mir auf die Unterlippe. Oh nein. Was habe ich nur getan?
DU LIEST GERADE
Lichtschatten - Die letzte Solea
FantasyDas Land Wyonell versinkt im Schatten des grausamen Königs Balan. Er beraubte die Zirkel ihrer Magie, tötete jene, die mit der Prophezeiung um seinen Sturz verbunden schienen. Schließlich setzt er seinen Sohn Greyson darauf an, das letzte Kind des L...