Kapitel 10 | Greyson

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Kapitel 10 | Greyson

Die Worte der Solea ignorierend, hechte ich mit der Klinge in der Hand ins Gebüsch. Meine Sinne sind geschärft, als ich das Kaninchen entdecke, dessen scharrende Geräusche ich habe aufschnappen können, als ich die Hütte verließ. Ich nutze meine Überlegenheit und ergreife es, bevor es überhaupt bemerkt, dass ich es beobachte, und flüchten kann. Kaum berühre ich sein weiches, braunes Fell, schicke ich das Tier in die Traumwelt, die ich mit Magie beherrsche. Eine Wärme erfüllt mich, durchdringt jede Faser meines Körpers und gibt mir die Kontrolle über mein Opfer. Die Macht strömt in Form von schwarzen Flocken aus, die nur ich sehen kann, umfängt den Leib des Kaninchens, sodass ich volle Kontrolle über ihn habe.
Vor meinem inneren Auge sehe ich den Traum des Tieres, während ich aus dem Dickicht komme und den Hasen streichle. Ich schenke ihm diese kostbaren, letzten Minuten, lasse es noch einen wunderschönen Augenblick erleben. Eine Bewegung direkt vor mir schwächt meine Konzentration für kurze Zeit. Ich hebe den Blick, sehe die Hexe vor mir. Sie trägt noch immer etwas, was einmal wie ein Kleid ausgesehen hat, doch jetzt eher an dreckige, blutbespritzte Lumpen erinnert. Die Welt verschwimmt zu sanften Farben um das Grün ihrer Augen, elfenbeinfarbene Haut, das süße Rosarot eines Mundes und verfilzte Blond ihres Haares.
Die Wirkung, die sie auf mich hat, trifft mich völlig unvermittelt. Ich spüre das übermächtige Verlangen, sie zu berühren und über ihre zart geröteten Wangen zu streichen, obwohl ich weiß, dass es nur Schmerzen verursacht. Etwas in mir verzehrt sich nach dieser süßen Qual, nur um bei ihr zu sein. Ihr kleiner Körper wirkt so verletzlich und unschuldig, dass ich für kurze Zeit vergesse, dass ich ein Prinz bin, der sie in den sicheren Tod führt, und wünsche mir, sie würde nur für eine Nacht ganz allein mir gehören.
Als das Kaninchen kaum merklich mit der Pfote zuckt, holt es mich aus meiner Trance. Ich muss mich immer wieder erinnern, dass sie zu diesen mordenden Solea-Hexen gehört, obwohl sie nicht danach aussieht, und schneide dem Tier sogleich die Kehle durch. Er war nicht ausgewachsen, würde aber für ein Abendmahl reichen. Das Blut rinnt mir die Finger hinab und ich frage mich, wie viele Leben diese Solea schon genommen hat.
Während ich wieder auf die Jagdhütte zusteuere, löchert mich die Hexe mit verschiedensten Namensideen. Einer schlimmer als der andere. Egal wie oft ich die Stimme erhebe, sie lässt nicht locker. Still bewundere ich ihre Hartnäckigkeit, denn für eine Todgeweihte legt sie eine Verbissenheit an den Tag, die ich von Frauen so nicht kenne. Als mir der Schädel schließlich zu platzen droht, seufze ich laut auf und verrate ihr meinen Namen.
»Greyson?«, haucht sie überrascht und das lässt mich stutzig werden. Diese liebevolle Art, wie sie meinen Namen ausspricht, sendet mir einen prickelnden Schauer über den Rücken. Ich bin ihr Feind, der sie zu dem Mann bringt, der ihr Leben nehmen wird, und sie begegnet mir von Anfang an mit Respekt und Würde. Laut Vater sind Solea-Hexen gerissen, blutrünstig und eiskalt. Doch diese junge Frau ist das genaue Gegenteil. Sind die Informationen von unserem König falsch? Schließlich ist es sehr lange her, dass er einer Solea gegenüberstand.
»Ein schöner Name. Was ist deine Aufgabe im Königreich, wenn du nicht gerade für deinen König Gefangene aufspürst?«, holt mich die junge Frau aus meinen Grübeleien. Niemals würde ich ihr meine Identität verraten, dass sie dieses Wissen vielleicht ausnutzen und mich Banditen oder Rebellen ausliefern könnte. Ohne auf ihre Frage einzugehen, betrete ich erneut die kleine Jagdhütte. Das Gebäude ist an einigen Stellen eingefallen, das Holz morsch und ein bestialischer Gestank dringt in meine Nase. Als ich weiter in das Innere vordringe, sehe ich in der Ecke wieder auf den Leib, oder was davon übrig ist. Die Schatten haben keine Gnade gezeigt und ihr Opfer vor Angst in den Tod getrieben. Der Verwesung zu Urteil muss der Körper schon eine Woche hier liegen.
Angewidert wende ich mich ab, finde auf dem Stroh, das auf dem Boden verteilt ist, eine Decke, die noch nicht von Ratten angenagt wurde.
Als ich mit dem toten Kaninchen in der Hand an die frische Luft gehe, bemerke ich die Solea, die mir den Rücken zugewandt einige Schritte von der Hütte entfernt da steht und in die Finsternis blickt. Ihr langes, blondes Haar ist an den Spitzen mit Blut getränkt, ob von meinem Übergriff oder den Banditen weiß ich nicht. Da ihr Oberteil schulterfrei ist, habe ich gute Sicht auf ihre Verletzungen. Jedoch sehen die Schürfwunden nicht gut aus. Wenn sie sich keine Infektion einhandeln will, muss sie die Wunde reinigen.
»Solea!«, rufe ich nach ihr. Sie dreht sich abrupt um, sieht mir mit vernichtendem Blick in die Augen. Was zum Teufel ist denn jetzt?
»Ich habe einen Namen!«, zischt sie.
»Das ist der Name deines Zirkels, somit auch deiner«, stelle ich kühl fest.
»Nein!« Ich hebe die Brauen. Wird sie etwa trotzig? Schon wieder? »Solea ist das, was die Menschen in mir sehen, wenn sie mein Licht bemerken. Elle ist, wer ich aber tatsächlich bin.«
Ich schnaube lachend. »Gibt es denn da einen Unterschied?«
»Sehr wohl!« Sie nickt. »Die Solea mögen mächtige Hexen gewesen sein, doch ich beherrsche solche Magie nicht. Ich habe nur mein Licht.«
»Du hast also noch nie deine Magie eingesetzt, um zu töten?«
Sie sieht mich erschrocken an. »Ich jemanden töten? Das könnte ich nicht. Niemals.«
Will sie mich zum Narren halten? »Dein Zirkel war soweit ich weiß blutrünstig, löschte viele Leben aus und hat nur Unheil über das Land gebracht. Der König wird mit deinem Tod Wyonell endlich den Frieden zurückgeben.«
»Ich ... kenne den Zirkel nicht, habe nie dort gelebt und weiß auch nicht, was sie getan haben. Wieso macht ihr mich dafür verantwortlich?«
Warum wir ...? Der Gedanke an meine Mutter, die durch die Hand einer Solea-Hexe ihr Leben verlor, lässt die Wut in mir aufsteigen. »Ich weiß, dass Solea böse sind, somit auch du! Vielleicht schlummert die Dunkelheit auch in dir. Ihr Frauen habt doch alle etwas zu verbergen.«
Sie verschränkt die Arme vor der Brust. »Du glaubst, in mir schlummert die Dunkelheit? Und das, obwohl die schwarzen Flocken in deinen Haaren tanzen?«
Erstaunt hebe ich die Brauen. Sie kann es sehen? Wie das? Bis jetzt konnte keiner die Male meiner Magie erkennen. »Nun, wir werden ja sehen, ob in dir ein Wolf steckt, der bereit ist, zu reißen.«
»Wenn du mich nur kennen würdest, wüsstest du es besser.« Ihre Stimme wirkt mit einem Mal nicht mehr trotzig, sondern traurig, ehe sie mir den Rücken zudreht und sich auf einen abgefallenen Baumstamm neben die Hütte setzt. Aber ein schlechtes Gewissen lasse ich mir nicht machen. Sie wagt es, mir die Stirn zu bieten? Mir? Dem künftigen König Wyonells? Diese Frau bringt mich noch um den Verstand. Na warte, ich werde schon herausfinden, was es mit dir unscheinbarem Ding auf sich hat. Ich habe da so meine Tricks auf Lager.
Ich trete neben sie, deute ihr an, mir zu folgen. Auf dem Weg hierher, den ich mit Heath genommen habe, sah ich einen Bach, der groß genug sein könnte, um sich zu waschen. Der Wald wird immer dichter und finsterer. Moos und Flechten hängen von den Bäumen. Einzelne Lichtstrahlen kämpfen sich mühsam durch die dunklen Baumkronen. Der Boden ist weich und uneben. Ich atme tief ein. Ein Gefühl von Freiheit breitet sich in mir aus.
Der Dunkelwald übte schon früher eine große Anziehungskraft auf mich aus. Ich habe mich gerne vom Unterricht gedrückt, in dem es nur um langweilige Politik oder Bündnisse ging, die so wichtig für Wyonells Zukunft sein sollten, und flüchtete in den Wald. Der Dunkelwald umgibt nicht nur das Schloss, sondern auch das nahe Königreich Wyonells, ehe er wie eine grüne Grenze zu den anliegenden Ländereien untergebener Fürstentümer wuchert. Nachdem aber mein Vater keinen Ungehorsam duldete, leerte meine erste und letzte, schmerzvolle Tracht Prügel, ihn nicht erneut ohne sein Wohlwollen zu betreten.
Wir wandern stumm einen Weg entlang, der von dem flüsternden Bach begleitet wird. Je weiter wir dem Gewässer folgen, desto breiter wird der Bach und zum ersten Mal seit Tagen wärmt ein wenig Sonne mein Gesicht, die sich hart durch die Kronen kämpft und das Wasser erreicht. Rechts und links säumen kleine Tannen einen weiteren Weg. Als wir näher kommen, ist an einigen Stellen das Flusswasser so klar, dass man ein paar Fische mit dunklen Schuppen darin schwimmen sehen kann. Ein Idyll inmitten des Dunkelwaldes, dessen Bewohner ohne einen Funken Gnade morden. Perfekt für die Solea.
»Du wirst hier dein Kleid und dich waschen. Ich säubere derweil das Kaninchen und suche Feuerholz. Wir treffen uns bei der Jagdhütte. Den Rückweg solltest selbst du wiederfinden.« Als die junge Frau für meinen Geschmack etwas zu trotzig nickt und sich entfernen will, packe ich sie abermals am Arm. »Untersteh dich, meine Gutmütigkeit, dich nicht in Ketten zu legen, auszunutzen und fliehen zu wollen. Ich finde ich!«
Das Funkeln ihrer Augen soll mir wohl Angst einflößen, als ich sie loslasse und mich auf den Weg mache. Weiber! Nichts als Ärger mit ihnen.

Es dämmert bereits und die Solea ist noch immer nicht vor der Jagdhütte, wo wir das Nachtlager aufgeschlagen haben, aufgekreuzt. Das Kaninchen ist schon eine Weile gar und wartet nur darauf, verspeist zu werden. Sie wird doch nicht geflohen sein? Gnade ihr Gott!
Wütend stehe ich auf und haste eilig zum Bach. Ich ärgere mich, weil das Abendessen bei meiner Rückkehr sicher kalt oder von einem Tier gestohlen sein wird, als ich durch das Dickicht stoße. Ich mache mich gefasst, die Spurensuche aufzunehmen, da höre ich ein Plätschern und halte augenblicklich ein. Die Solea schwimmt völlig unbekleidet im Bach. Das Haar, ihre Haut, ihr ganzes Wesen scheint wie magisch zu glühen. Ich stehe wie gebannt einfach nur da und sehe sie an, da steigt sie plötzlich aus dem Wasser, ohne mich zu bemerken. Ich sehe auf mädchenhafte Brüste, einen festen Bauch. Mit den Händen wringt die junge Frau das Haar aus, was ihre schlanke Taille wunderschön zur Geltung bringt. Bevor sie auch noch ihr Becken entblößt, drehe ich mich in einem Anflug von Panik um. Was zum Teufel machst du da Greyson?, fragt mich meine innere Stimme. Das sieht dir gar nicht ähnlich. Normalerweise genieße ich die Blöße einer Frau, doch bei der Solea weigert sich etwas in mir, sie ohne ihr Wissen derart zu betrachten. Ich höre, dass sie sich einkleidet, und wundere mich einen Moment, dass ihr Kleid allem Anschein nach schon getrocknet ist. Ein Prickeln erfasst meine Haut. Dem Verlangen nicht nachzugeben und sie doch anzusehen, zerstreut mich regelrecht und ich versuche, mich endlich wieder zu besinnen.
»Greyson?« Ihre Stimme klingt freundlich, dabei habe ich mit einer Trotzreaktion gerechnet, dass ich sie holen komme, schließlich hat sie sich ewig Zeit gelassen. Als ich mich zögernd umdrehe, stockt mir der Atem.
Sie ist wunderschön. Nicht wie ein Sonnenaufgang, eine klangvolle Melodie oder eine Landschaft. Die Solea strahlt trotz der klitschnassen Haare eine Schönheit aus, die ich kaum in Worte fassen kann, und in mir regt sich der unerklärliche Wunsch, sie einfach nur weiter anzuschauen. Als sie mein Starren bemerkt, senkt sie verlegen den Blick und ich fahre mir peinlich berührt durchs Haar. Was zum Henker ist mit mir los?

Nach einem wortlosen, jedoch überaus deftigen Mal legt sich die Hexe neben das knisternde Feuer und scheint mit der Decke aus der Jagdhütte sofort einzuschlafen. Ich vermute, dass sie mir auf diese Weise aus dem Weg gehen will, und mir soll das nur Recht sein, gibt es mir doch Gelegenheit, wieder Herr der Lage zu werden, indem ich ein paar Dinge überdenke. Wer ist diese Frau? Sie kann nicht so sein, wie Vater ihren Zirkel beschreibt. Mein Innerstes sträubt sich, das zu glauben. Aber warum? In jedem von uns schlummert das Böse. Wieso kann ich den Gedanken trotzdem nicht abschütteln, dass sie die Wahrheit spricht und keinen Funken Dunkelheit im Herzen trägt?
Ich erhebe mich und setze mich neben sie. Ihr Atem ist ganz ruhig, die Gesichtszüge weich und unschuldig, wie die eines Kindes. Zum ersten Mal seit ihrer Gefangennahme ziehe ich die Handschuhe aus, zögere einen Moment und berühre daraufhin flüchtig ihre Wange. Magie strömt aus, lässt meine Finger tiefschwarz glühen. Ich schließe die Augen, trete durch dichten Nebel und erkenne klare Bilder. Ein kleines Mädchen mit blondem Haar und grünen Augen und ich weiß sofort, dass es Elle ist. Elle? Wieso denke ich, dass dies der faszinierendste Name ist, den ich je gehört habe? Warum gerade jetzt?


Lichtschatten - Die letzte SoleaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt