Kapitel 16 | Greyson

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Kapitel 16 | Greyson

Dieser Kuss berührt etwas in mir, von dem ich nicht mal gewusst habe, dass es seit Mutters Tod noch lebt und zu derartigen Gefühlen fähig ist - mein Herz. Zaghaft öffnet sie die Lippen, dass ich gar nicht anders kann, als mit der Zunge ihre zu necken. Elle stöhnt sanft, lässt meine Begierde ins Unermessliche steigen. Je länger ich sie küsse, desto mehr scheine ich mit ihr zu verschmelzen, eins zu werden. Überwältigt von diesem berauschenden Kuss, drücke ich sie fest an mich, will mehr und sie nie wieder gehen lassen. »Elle«, hauche ich ihren Namen und hoffe, sie spürt, wie wichtig sie mir geworden ist. Doch kaum habe ich den Gedanken beendet, macht sich plötzlich nur noch ein einziges Gefühl in mir breit: Schmerz.
Elle versteift sich. Es ist zu viel, sie fühlt ihn ebenso. Ihre Lippe platzt auf und rotes Blut rinnt aus ihrer Nase, während sich das blanke Entsetzten in ihren grünen Augen widerspiegelt. Was passiert hier? Ich wollte sie doch niemals verletzen ... und jetzt durch einen Kuss? Ich ... Aus Schuldgefühlen, sie durch meine Leichtsinnigkeit leiden zu sehen, drücke ich Elle abermals an mich und versuche sie, zu beruhigen. Es tut mir so leid. Ihr kleiner Körper sinkt mir klamm in die Arme. Angst um sie schnürt mir die Kehle zu, als ich plötzlich die Schatten höre.
Ein dunkelblonder Mann, von schlanker Statur und einer Narbe über dem rechten Auge, trittmit einem schelmischen Grinsen im Gesicht direkt vor uns aus der Finsternis, gefolgt von zwei Scratchern. Es ist Crane, mein Bruder, der mich tot sehen will! Sofort ziehe ich Elle hinter mich, doch sie scheint zu schwach, schafft es nicht, auf die Beine zu kommen, und fällt ächzend auf den Boden.
»Du sollst sie nicht lieben, Bruder, sondern ausliefern! Oder war diese Aufgabe zu schwer für dein weiches Herz?«, wispert er in höflichem Ton, doch der Schein trügt. Das weiß ich nun, habe ich doch den Traum der Bestie gesehen, die er auf uns gehetzt hat.
»Was willst du hier, Crane? Ich habe die Solea gefunden, wie du siehst. Wir sind schon auf den Weg zum Palast«, erkläre ich, in der Hoffnung, dass er Elle und mich vielleicht doch ziehen lässt.
»Du weißt doch ganz genau, Greyson, was ich will. Die Solea und dich endlich von der Bildfläche verschwinden sehen.« Seine Worte treffen mich hart, der Kloß im Hals wird dicker, schnürt mir die Luft zu. Es ist etwas anderes, das aus dem Mund des eigenen Bruders zu hören.
Mein entsetztes Gesicht scheint ihn zu amüsieren, denn er verzieht es zu einem breiten Grinsen, das vor Hohn und Bosheit nur so strotzt. »Tu nicht so überrascht. Du hast sicher längst mitbekommen, dass ich deine Präsenz nicht ertragen kann.«
Mein Herz verkrampft sich, als ich an unsere Kindheit und Jugend zurückdenke. Crane war immer schon der Zweitbeste in allen Dingen. Ich war größer und habe auch die mächtigere Gabe geerbt. Sein Gesicht ist schmal, die Augen zu groß geraten und sein Kinn gleicht einer Pfeilspitze. Die Damenwelt hat mich ihm stets vorgezogen, was er natürlich nicht ertragen hat. Ich habe es lediglich als brüderliche Eifersucht unter Platzhirschen abgetan, konnte ich doch nicht ahnen, dass er von Anfang an nur Hass für mich übrig hatte.
»Du hast das geplant, oder? Den Überfall auf Elles Dorf.«
Sein Gesicht strahlt nur so vor Stolz und schürt die Wut, die sich unter meiner Haut ausbreitet und kocht, wie Lava in einem Vulkan. »Natürlich. Immerhin musste ich sicher sein, dass Heath und du dabei umkommen. Die Bande hatte den Auftrag, mir die Hexe zu bringen und euch zu erledigen. Doch diese dummen Bauern können offenbar nur Unruhe stiften und nicht den leichtesten Befehl ausführen«, knurrt Crane und streicht mit den Fingern einen der Dämonen an seiner Seite. »Wenn man will, dass etwas erledigt wird, muss man es eben selbst machen.«
»Du verfluchter Bastard!«, brülle ich und muss mich beherrschen, um mich nicht sofort auf ihn zu stürzen. Ich kann Elle unmöglich ungeschützt am Boden liegen lassen und mit ihm kämpfen. Es sind zu viele für mich allein.
Mit einmal Mal tauchen mehr und mehr Schattenwesen neben mir auf. Sie besitzen die unterschiedlichsten Gestalten, einige von ihnen haben ich noch nie zu Gesicht bekommen. Manche sind klein wie Rotfüchse, zeigen drohend die scharfen Reißzähne und ihre Augen leuchten in einem gespenstischen Rot. Andere sind großgewachsen, tragen ein pechschwarzes Fell, als gleichen sie einem riesigen Bären. Doch ich kann in ihren schattenhaften Gesichtern keine Augen ausmachen, dafür zwei Riechorgane. Über meinem Kopf fliegen einige Dämonen, die Greifvögeln ähnlich sehen, und scheinen auf etwas zu warten.
Irritiert blicke ich ein Wesen nach dem anderen an. Sie senken demütig das Haupt. Gebieter. Für Euch in die Schlacht. Shadow ... Mein Blut gerät in Wallungen und ich glaube, Macht durch die Adern fließen zu spüren.
»Was!?«, schreit Crane wie von Sinnen und lässt seine gleichgültige Fassade fallen. Er wirkt augenblicklich wie dieser hagere, schleimige Knilch von früher, der immer schon die Nummer Zwei war. »Ihr Dämonen der Hölle habt mir zu gehorchen! Eurem zukünftigen Meister!«
Lautes Knurren erfüllt die Dunkelheit, dass die Luft um uns herum spannungsgeladen knistert. Die Schatten graben ihre Krallen tief in die Erde, scheinen jeden Moment anzugreifen, doch sie warten. Sie stehen mir loyal zur Seite; etwas, was ich nie für möglich gehalten habe.
»Gib auf, Crane! Du hast verloren!«
Mit zittriger Hand legt mein verräterischer Bruder Daumen und Zeigefinger auf den Nasenrücken und atmet tief durch. Als sich unsere Blicke erneut treffen, scheint er die Fassung wiedererlangt zu haben und gar nicht erst an eine Kapitulation zu denken. Er strahlt eine dunkle Präsenz aus, die ihn vollkommen einhüllt und überaus gefährlich wirken lasst. Das habe ich noch nie bei ihm bemerkt. »Gib mir die Solea«, verlangt er mit leiser, jedoch äußerst bedrohlicher Stimme.
»Wage es nicht, sie auch nur anzurühren. Du bekommst sie nicht!«, zische ich und greife nach dem Dolch. Ich wünschte, ich hätte eine andere Waffe, um mich zu verteidigen.
Er lacht bitter auf. »Ich hatte gehofft, dass du das sagst, Bruder. So sei es denn. Dein Leben für die Soleahure!«
Die Dämonen an meiner Seite stimmen mit einem ohrenbetäubenden Heulen ein und stürzen sich mit mir auf meinen Bruder und seine Höllenhunde. Crane denkt jedoch trotz unserer zahlenmäßigen Überlegenheit gar nicht daran, die Flucht zu ergreifen, sondern schließt seelenruhig die Augen, murmelt etwas und faltet dabei die Hände ineinander.
Kurz bevor ich die Möglichkeit habe, ihm den Dolch in sein kaltes Herz zu rammen, werde ich von einem kräftigen Windstoß erfasst und von ihm weggerissen. Ich schlage mit dem Rücken hart gegen einen Baum, zeige mich nur einen Moment benommen und bin schnell wieder auf den Beinen. Ich muss den brennenden Schmerz ignorieren, der von mir Besitz ergreift - für Elle.
Unerbittlich bekämpfen die Schatten einander, zeigen keine Angst oder Scheu, kämpfen hart um Leben und Tod. Einen Scratcher konnten sie bereits vernichtet, der andere wird gerade eingekreist.
»Komm, Bruder! Bringen wir es zu Ende!«, ruft Crane und winkt mich hochmütig lachend zu sich.
»Ich werde dir das Lachen schon noch aus dem Gesicht schlagen«, knurre ich und greife an. Diesmal steht mir der Fuchsschatten zur Seite. Crane spricht einen Zauberspruch und lässt heiße Flammen aus den Fingerspitzen erscheinen. Ich ducke mich, krieche flink unter dem Feuerhauch hindurch und ramme ihm den Dolch in die Wade, ehe er den Zauber umlenken kann. Sein Schrei halt durch den Wald, auch sein Höllenhund heult in diesem Moment schmerzverzerrt auf. Jetzt hab ich dich! Ich rolle mich ab und will gerade erneut zuschlagen, da erblicke ich einen von hellen Fackeln begleiteten, feindlichen Trupp Soldaten, der sich in unsere Richtung durch den Wald schlägt.
Es sind zu viele, als dass ich sie alle töten könnte, selbst wenn der Überraschungsmoment, ein paar Schattenwesen und die Unsichtbarkeit der Dunkelheit auf meiner Seite sind. Mein Blick gleitet zu Elle herüber, die sich in Todesangst hinter einem Baum versteckt hält. Sie scheint die Schatten nicht so wahrzunehmen, wie ich es kann. Ich sehe den Schrecken in ihrem Gesicht, wenn einer an ihr vorbeizischt, um sie zu verteidigen, doch sie versteht es nicht.
Ich bemerke, wie das Schattenwesen an meiner Seite mir zunickt, als könnte es meine Gedanken lesen. Flieht, Meister. Sie kommen!
Da Crane sich noch immer am Boden vor Schmerzen windet, sehe ich unsere Chance zur Flucht und renne zu Elle. Sie zittert wie Espenlaub und krallt sich angsterfüllt an die Rinde des Baums. Ich versuche, nach ihrem Arm zu greifen, doch sie schlägt meine Hand weg, als erkenne sie mich nicht, und sieht starr geradeaus zu Crane, der sich nun langsam aufrappelt. Wir können nicht länger warten! Schnell verstaue ich den Dolch, hebe Elle trotz Protest auf die Schulter und renne los.
»Schnappt sie!«, höre ich ihn noch dumpf schreien und beschleunige. Ich laufe, als würde der Leibhaftige nach uns greifen.

»Greyson. Ich habe Angst«, flüstert Elle dicht an meinem Ohr, aber mir fällt nichts ein, was sie ihr nehmen könnte. Erst als ich glaube, unsere Verfolger bis auf Weiteres abgehängt zu haben, bleibe ich nach Luft ringend stehen und setze Elle ab. »Bitte, du musst dich ausruhen oder du wirst noch tot umfallen!«, bettelt sie und ich sehe die Sorge um mich in ihren Augen.
Doch ich denke nicht daran, zu rasten. Ich kenne meinen Bruder. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat, wird er es auch durchziehen - und das bis zum bitteren Ende. »Nein, Elle, wir müssen sofort weiter. Komm!«
Ich will nach ihr greifen, mit ihr fliehen, weit weg, wo weder Crane noch mein Vater sie finden können. Da erfasst ein unglaublich starkes Beben den Boden. Es ist so stockdunkel, dass ich kaum mehr weiß, wo wir hier eigentlich sind, als ich mich umblicke. Plötzlich verliere ich den Halt, die Erde bricht unter meinen Füßen weg und ich begreife, dass wir viel zu nah an die schwarze Schlucht gelangt sein müssen.
»Greyson!«
Mit letzter Kraft kralle ich mich an eine lose Erdwurzel, halte mich daran fest, während ich über der offenen Erde baumle, knapp einen Meter unter Elle. Immer wieder lösen sich Erdbrocken, fallen lautlos in die tiefe Schlucht. Ich folge ihnen mit den Augen, doch alles, was ich ausmachen kann, ist Dunkelheit. Die Erde ist weich und klamm. Lange werde ich mich hier nicht halten können, aber ich traue Elle auch nicht zu, mich hier rauszuziehen. Todesangst überkommt mich.
»Halte durch, bitte«, höre ich Elle wimmern, sehe ihren Kopf über mir. Auch sie scheint Angst zu haben. Dennoch beugt sie sich kopfüber in die Schlucht und reicht mir ihre Hand, die ich sofort ergreife. Der Schmerz unserer Berührung dringt kaum zu mir vor, während sie mit aller Kraft versucht, mich hochziehen. Ihr Körper ist viel zu schwach, mein Gewicht zu halten, das habe ich schon befürchtet.
Auch nach mehreren Versuchen scheitern wir und mir wird schmerzlich bewusst, dass dies hier mein Ende sein wird. Der Schmerz unserer Berührung gepaart mit meiner eigenen Kraftlosigkeit machen mich nunmehr schwach, beinahe sensibel. »Elle. Du musst mich loslassen. Flieh, weit weg! Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit mit dir verbringen können, meine kleine Hexe.« Eine Träne entweicht mir, denn ich will nicht sterben. Gerade, als ich gefunden habe, wofür es sich zu leben lohnt, drohe ich, es wieder zu verlieren und zu sterben, ehe ich es für mich gewinnen kann.
Elle kneift die Augen zusammen, weigert sich, schüttelt verbissen den Kopf und versucht verzweifelt, mich hochzuhieven. Mehr und mehr rutscht sie mir entgegen und die Angst, ich würde sie jeden Moment mit in den Abgrund reißen, ergreift von mir Besitz. Ich bereite mich darauf vor, meine Hand aus ihrer zu lösen, will ihr nur noch sagen, was ich für sie empfinde. Da umfasst plötzlich eine andere, männliche Hand meine, und zieht mich mit einem kräftigen Ruck aus der schwarzen Schlucht.


Lichtschatten - Die letzte SoleaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt