Kapitel 6 | Greyson

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Kapitel 6 | Greyson

Blind vor Wut greife ich nach einem blutgetränkten Zügel meines Rosses und binde das Ende um die Handknöchel der Solea. Ich höre ihr schmerzhaftes Aufzischen, als ich das Lederband so fest zubinde, wie ich kann. Na warte, das ist erst der Beginn deiner Odyssee! Das lange Ende der Zügel ergreife ich so fest, dass meine Knöchel weiß hervortreten.

Heute ist ein Tag, den ich nie vergessen werde. Heath, mein Freund, Vertrauter und Bruder im Geiste wurde auf bestialische Weise getötet. Mit welcher Brutalität er ermordet wurde ... So etwas habe ich noch nie zuvor gesehen, nicht einmal auf dem Schlachtfeld. Mit einem brennenden Schmerz in der Brust sehe ich auf die Überreste meines Freundes. Wie gerne würde ich seinen Leib oder das, was noch davon übrig geblieben ist, beisetzen. Allerdings sind diese Barbaren noch immer in der Nähe und ich kann nicht riskieren, dass sie uns finden.

Mein Blick schweift rüber zur Hexe, die mich mit durchdringenden Augen ansieht, die mich erschauern lassen. Wieso fühle ich solch ein Kribbeln in den Fingern, wenn sie in meiner Nähe ist? Warum habe ich das Gefühl, als würde mich ihre Haut auf unnatürliche Weise anziehen, wo eine bloße Berührung nichts als Schmerz bringt? Schwarze Magie! Das muss es sein!

Wütend über diese mir unbekannten Gefühle, zerre ich an den Zügeln und sie fällt vor mir auf die Knie. Ihr Haupt ist gesenkt und ich genieße die Macht, die ich über sie habe. »Es ist ein langer Weg zum Palast von Wyonell. Ich rate dir, keine Dummheiten zu machen, die könnten dich teuer zustehen kommen!« Meine Stimme ist ruhig, trotzdem lasse ich keinen Zweifel aufkommen, dass ich es vollkommen ernst meine. Als von ihr keinerlei Reaktion kommt, verliere ich die Geduld. Es war eine lange Nacht, in der ich meinen Feind gefangen und meinen Freund verloren habe.

»Habe ich mich klar ausgedrückt!?«, brülle ich sie so laut an, dass einige Nachtschwärmer aus den Dickichten flüchten.

»Ja«, flüstert sie verängstig.

»Gut. Nun komm!«

Den Blick noch immer gen Boden gerichtet, erhebt sie sich und bleibt dicht vor mir stehen. Ein süßlicher Geruch dringt mir in die Nase, lässt den Gestank der Kadaver augenblicklich weichen. Sie riecht nach Sonne, Wind und Wildblumen. Das Vollmondlicht lenkt meine Aufmerksamkeit auf ein Glänzen am Rücken der Solea. Sie blutet, hat aufgewetzte Schultern von meinem Angriff. Mein Blick gleitet über ihren Körper. Die Füße sind nackt, aufgerissen und ebenfalls blutig. Sie muss während der Flucht aus dem Dorf die Sandalen verloren haben. Das Kleid ist verdreckt und die Haare sind dreckig und voll Geäst.

Ohne weitere Umschweife trete ich tiefer in den schwarzen Wald, suche den Weg, den ich mit Heath genommen habe, zerre die Solea erbarmungslos hinter mir her. Zuerst laufe ich, doch je mehr ich an meinen Freund und seinen Tod denke, desto schneller werde ich. Wieso nur er? Er war ein guter Soldat und ein noch besserer Mensch und hat solch einen qualvollen Tod nicht verdient. Heath war es sogar, der einst mein Leben rettete, als wir noch Kinder waren.

Ein dunkles Grollen entfährt mir. Es ist ein verzweifelter Laut, voll Pein, Wut und Trauer. Die Hexe erschrickt, stolpert, schafft es kaum, sich auf den Beinen zu halten. Schließlich sehe ich ein, dass sie ein nahezu gewöhnliches, zerbrechliches Mädchen ist, und passe mich ihrer Geschwindigkeit etwas an.

Kurz darauf bleibt sie plötzlich stehen. »Wir werden hier rasten«, sagt sie und ich sehe sie überrascht an. Jedenfalls schaue ich in ihre Richtung. In dieser Finsternis lässt sich nur noch schwer was erkennen. Bisher habe ich sie nur schreien oder flüstern hören, jetzt ist ihre Stimme jedoch ernst, fast schon bestimmend.

Wie bitte? Hat sie mir gerade ernsthaft eine Forderung gestellt? Was glaubt sie, wer sie ist? Schließlich bin ich der Thronfolger von Wyonell! »Wer bist du schon, dass du glaubst, mir Befehle erteilen zu können?« Ich gehe auf sie zu und funkele sie vor Zorn an. Soweit soll es noch kommen, dass mir ein Weib sagt, was ich tun soll!

»Ich bin jemand, der die Wälder hier kennt«, erklärt sie, nicht ohne einen Unterton mitschwingen zu lassen, der mir gar nicht gefällt. Wird sie jetzt etwa trotzköpfig? »Und wenn wir weiter in dieser Finsternis umherirren, werden wir uns nicht nur verlaufen, sondern auch die Schatten auf uns aufmerksam machen. Wie wollt Ihr mich zum König bringen, dass er mich töten kann, wenn wir schon vorher sterben?«

»Wirklich? Du glaubst an diese Märchen von dunklen Kreaturen und Schatten?« So ungebildet konnte auch nur eine Frau auf dem Land sein, dass sie derlei Ammenmärchen Glauben schenkt. Doch ihr aufmerksamer, beinahe schon lauernder Blick, den sie in die Finsternis direkt neben mir richtete, bereitete mir Unbehagen. Was, wenn sie doch Recht hat? Mit Männern kann ich es aufnehmen, aber magische Geschöpfe? Könnte ich meine Magie gegen sie anwenden? Ich bin ein Schattenblut. Sogar königlicher Abstammung. Doch würden die Schatten einem Befehl Folgeleisten?

»Wir werden hier kurz rasten«, entscheide ich. »Die Sonne geht in ein paar Stunden auf, dann gehen wir weiter. Ich mache uns ein Feuer.« Ich zerre sie zu einem Baumstamm, binde sie daran fest und begebe mich auf die Suche nach Brennholz.

Je weiter ich mich jedoch von der Hexe entferne, desto mehr bekomme ich das Gefühl, beobachtet zu werden. Ich sehe mich, um, soweit das bei tiefster Nacht überhaupt möglich ist, versuche jemanden oder etwas zu entdecken. Doch ohne den Schein eines Feuers bin ich nahezu blind hier draußen.

Seht! Ist sie es? Ist das möglich? Die letzte Solea?

Stimmen. Fremdartig und finster, wie das Zischen einer Schlange drängen sie sich in meinen Kopf. Ich höre sie laut und deutlich. Sie sprechen über das Mädchen.

Sie ist wieder da! Elenore, die letzte Solea. Zurückgekehrt! Hexe. Tot! Wir wollen sie tot sehen!

»Nein!«, sage ich mit fester Stimme. »Die Hexe gehört mir! Sie ist eine Gefangene König Balans und nur er darf ihrem Leben ein Ende bereiten«, knurre ich und warte. Nichts. Keine Stimmen.

Wie Ihr befehlt, Eure Hoheit! Shadow.

Ich erstarre. Haben die Schatten des Dunkelwaldes mich gerade so genannt wie der alte Seher meines Vaters? Das ist unmöglich. Mein Verstand und der Schlafmangel lassen mich Dinge hören, die nicht wahr sind. Ich schüttle den Kopf und setze den Weg fort.

Mit genügend Holz auf dem Arm, um in der Kälte der Nacht nicht zu erfrieren, mache ich mich auf den Rückweg zu dem Mädchen. Als ich zurückkomme und das Feuer entzünde, erkenne ich erst im schwachen Schein, dass die Solea sich auf den Boden gesetzt hat und eingeschlafen ist. Sie scheint keine Angst zu haben, keinen Gedanken an eine Flucht zu hegen. Merkwürdig.

Nachdem ich genug Holz nachgelegt habe, setze ich mich an einen Baum ihr gegenüber. Mein Arm ruht auf dem angewinkelten Knie und ich starre gedankenversunken in die lodernden Flammen, die das Holzscheit genüsslich verschlingen.

»Nein!«, höre ich die Hexe auf einmal laut rufen. Ihr kleiner Körper zittert, aber sie schläft weiter, scheint einen Alptraum zu haben. Was eine Solea wohl träumt? Sicher ergötzen sie sich an ihren Opfern, denen sie das Herz bei lebendigem Leib aus der Brust reißen. Wie sie es bei meiner Mutter taten. »Claire!«, wimmert sie und fängt an, zu wimmern.

Ich bin versucht, aufzustehen und ihr eine schallende Ohrfeige zu verpassen, doch in dem Moment, wo ich mich dazu aufraffen will, verstummt sie und schläft wieder tief und fest. Das Knistern des Feuers hat eine beruhigende Wirkung, lässt mich für kurze Zeit vergessen, dass ein ganzes Dorf von einer Horde Barbaren ausgelöscht wurde.

Wie viele Männer, Frauen und Kinder mussten wohl ihr Leben lassen? Ich sende ein stummes Gebet gen Himmel und hoffe, dass alle Seelen Frieden finden. Meine letzten Gedanken, bevor mich der Schlaf nun doch übermannt, gelten der Hexe. Um Wyonells Willen.Sie muss sterben und das schon bald. 


Lichtschatten - Die letzte SoleaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt