Kapitel 12 | Greyson
Elle wird von ihrem Vater auf den Dachboden gesperrt, windet sich vor Schmerzen. Ihr Fuß ist verdreht und der Knochen zu erkennen. Ich kann mir kaum vorstellen, wie sich dieses Kind fühlen muss. Während ich beobachte, wie sie mit mit einem zweiten Mädchen durch die geschlossene Türe spricht und versucht, ihre Schmerzen herunterzuspielen, empfinde ich Mitleid für dieses kleine Mädchen. Wie kann ein Kind offenbar freiwillig solche Qualen auf sich nehmen? Die kleine Elle hier neben der Tür gelehnt zu sehen, mit Tränen in den Augen und sichtlich erkennbaren, ungeheuren Schmerzen, lässt mein Herz schwer werden.
Bedacht langsam bewege ich mich in ihrem Traum, gehe ich auf sie zu und setze mich ihr gegenüber, um ihre Wange zu streicheln. Auch wenn sie mich nicht sehen kann, erhoffe ich mir, ihr Leid auch nur ein winziges Bisschen zu schmälern. Hier in der Traumwelt schmerzt es nicht, sie zu berühren. Ihre Magie scheint nicht so weit zu reichen.
Plötzlich neigt sie den Kopf meiner Hand entgegen und sieht mir tief in die Augen, als würde sie mich wahrhaftig sehen. »Wer bist du?«, flüstert sie und ich erstarre. Das ist unmöglich! Wieso kann sie mich sehen? Bis jetzt konnte mich nie jemand ausmachen, wenn ich in ihre Träume eingedrungen bin, außer, ich habe es ihnen erlaubt.
Mit einer Wischbewegung direkt vor ihren grünen Augen wechsle ich zu einem neuen Traum, tauche tiefer in ihr Unterbewusstsein ein und versuche, den Grund zu finden, wieso ihr Vater sie einsperrte.
Die Umgebung wandelt sich, die Wände verschwinden und ich sehe den offenen, blauen Himmel über mir. Ich sitze in ein paar Blumen auf einer Wiese, hebe den Blick und entdecke drei Kinder. Ein frecher Bengel klettert auf einen Baum und ein Mädchen, das ich nicht zuordnen kann, protestiert heftig. Elle dagegen sieht erneut in meine Richtung, als würde sie mich tatsächlich sehen, scheint aber keine Angst vor mir zu haben.
Plötzlich bricht der Ast des maroden Baumes, auf dem er gestanden ist, und der Junge stürzt in die Tiefe. Schwer verletzt bleibt er am Boden liegen, das fremde Mädchen schreit auf, doch Elle sieht mich immer noch an. Es ist nicht möglich, dass sie mich sehen kann. Ihre Magie dürfte die Traumwelt nicht erreichen. Schließlich wendet sie den Blick ab und beugt sich über den Jungen, um ihn zu heilen. Sie scheint nicht einmal eine Gegenleistung zu verlangen, ignoriert die Worte ihrer Schwester, gibt sich ganz dem Licht ihrer Hände hin. Solch Aufopferung ist mir fremd, komme ich doch aus einem Königshaus, wo selbst die Kinder auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind. Als sie schließlich vor Schmerzen aufschreit, starre ich Elle entsetzt an. Die Knochenbrüche des Jungen sind verschwunden, komplett geheilt, als wäre nie etwas passiert. Ich sehe entgeistert mit an, wie die Knochen der kleinen Elle splittern, ihre Haut aufreißt und Blut spritzt. Diese Solea ist nicht böse, nein, im Gegenteil.
Das junge Mädchen, das ich trotz allem, was ich hier gesehen habe, immer noch nicht richtig einzuschätzen vermag, lässt sich ächzend ins Gras fallen, legt sich hin. Ich sehe ihr die Qualen deutlich an, als sie stöhnend den Kopf zur Seite neigt und mich anblickt. Die kleine Elle bietet mir trotz ihrer Pein, die ihr ins Gesicht geschrieben steht, Hilfe an. Ich kann es nicht glauben, schüttele den Kopf, doch als sie mich auch noch hoffnungsvoll anlächelt, als würde ich ihr leidtun, breche ich den Traum ab.Elle erwacht, sieht mich überrascht an. Schwer atmend blicke ich auf meine Hand, die noch immer auf ihrer Wange liegt. Ihre Hand bedeckt nun meine und ein Schmerz geht davon aus, scheint sich auf meinen ganzen Körper auszubreiten, doch es ist nicht so qualvoll wie zu Anfang. Es mischt sich mit einem Prickeln, das mir völlig fremd ist.
Unfähig, den Mund zu öffnen, starre ich Elle an, versuche herauszufinden, wer diese junge Frau vor mir wirklich ist. Von ihr scheint nicht die geringste Gefahr auszugehen und doch will Vater sie tot sehen, opfert tausende Leben für ihren Kopf. Wieso zerstört er ganze Dörfer, nur, um Elle zu finden und niederzustrecken?
Ich bin durcheinander, lasse von ihr ab und mich nach hinten auf den Boden fallen, verschränke die Arme hinter dem Kopf. Dem Knistern des Feuers lauschend, versuche ich mich zu sammeln. Was genau habe ich in ihren Träumen gesehen? Was hab ich über sie erfahren? Und hat sie mich wirklich wahrgenommen?
Während ich in die Baumkronen blicke, höre ich sie flüstern. Die Schatten. Nicht wahr! Sie ist böse. Ein gemeines Weib! Tötet sie oder Ihr werdet wegen ihr den Tod finden. Die Solea bringt Unheil und Verderben! Shadow.
Elles Kopf taucht über mir auf, ihre Stirn ist in Falten gelegt. »Du siehst blass aus«, murmelt sie, fasst mir an meine.
Seht! Der Beweis, sie will euch töten. Licht tötet Schatten. Haltet sie auf!
Benebelt von den unheilvollen Worten fahre ich hoch und packe die Solea am Handgelenk. Wenn sie mich töten will, soll sie es mal versuchen! Ich ziehe sie dicht an mich heran, dass sie nicht auch nur einen Gedanken daran verliert, vor mir fliehen zu können. Unsere Gesichter trennen nur wenige Zentimeter und einen kaum endenden Moment sehen wir uns tief in die Augen. Das Grün leuchtet und ihr Blick durchdringt mich förmlich, als hätte sie erkannt, wer oder was ich bin. Ich verstehe das Funkeln in ihren Augen nicht. Ist es Argwohn, Angst oder Verlangen, das dort aufblitzt?
»Greyson, du verhältst dich so eigenartig«, haucht sie mit flüsterleiser Stimme. Sie hat ja Recht. Wieso kann ich nicht auf Abstand gehen? Wieso zieht es mich immer zu ihr? Sie ist doch der Feind!
Ihr Blick wandert tiefer, auf meine Lippen und verharrt dort. Ihr Atem geht schnell, was ich nicht nur an ihren schmalen Schultern erkennen kann, sondern auch an ihrem Atem spüre, der gegen meinen Mund bläst. Ob es wegen dieses Augenblickes ist oder doch wegen der Schmerzen, die unsere beiden Körper heimsuchen, seit wir die Traumwelt verlassen haben, weiß ich nicht. Ich kann sie nicht loslassen. Die Wut von vorhin ist wie weggefegt. Ich nehme nichts um mich herum mehr wahr außer dieser Frau, die ich begehre, wie keine zuvor. Aber es erschließt sich mir nicht. Es kann nicht allein an ihrer Schönheit liegen, da gab es so viele andere vor ihr.
Mein Griff hat sich mittlerweile gelockert, ich schwebe zu sehr in Gedanken, dass sie sich vor mir löst. Doch anstatt Abstand zu nehmen, wie ich angenommen hätte, legt Elle beide Hände an mein Gesicht. »Du jagst mir eine Heidenangst ein, Greyson. Bitte sag etwas!«, fleht sie. »Was ist mit dir?«
Ihre Gesichtszüge sind weich. Ich weiß nicht, was sie in meinen Augen sieht, aber ich hoffe inständig, dass sie mich nicht fürchtet. Nicht so, wie am Anfang. Mein Magen verkrampft sich mit jedem Augenblick, der vergeht, stärker, bis ein zartes Lächeln um ihre Mundwinkel spielt. Anscheinend hat sie gemerkt, dass sie es ist, die mich völlig verwirrt. Es gefällt mir so sehr, dass ich die Finger nach ihr ausstrecke und sanft über ihre Lippen streiche. Ich spüre den brennenden Schmerz, der sich warnend in meine Haut frisst, aber ich ignoriere ihn. Verloren in diesen wunderschönen Augen neige ich den Kopf, greife in ihren Nacken und ziehe sie zu mir. Ich höre, wie sie die Luft anhält, aber sie hält mich nicht davon ab, mich ihr noch weiter zu nähern. Elle ist mir so nah, wie nie zuvor. Meine Lippen brennen in freudiger Erwartung, als ich bemerke, dass sie den Mund einen Spalt weit geöffnet hat. Ich muss sie spüren, ich kann gar nicht anders. Ihre Finger klammern sich an meinen Ärmel und gerade, als ich ihr den ersten Kuss stehlen will, schreien die Schatten.
Ein Rascheln. Etwas schreitet durch die Dunkelheit und baut sich mit einem tiefen Grollen vor uns auf, das immer lauter wird.
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Lichtschatten - Die letzte Solea
FantasyDas Land Wyonell versinkt im Schatten des grausamen Königs Balan. Er beraubte die Zirkel ihrer Magie, tötete jene, die mit der Prophezeiung um seinen Sturz verbunden schienen. Schließlich setzt er seinen Sohn Greyson darauf an, das letzte Kind des L...