Kapitel 5 | Elle
Da bin ich nun. Eine Gefangene König Balans. Vater hat Recht behalten, so wie immer. Wenn sie mich fänden, würden sie mich fortholen. Aber es bedeutet mir nichts, denn alles, was mich je hielt, ist verloren.
Der Kaufmann zerrt mich in seiner ansehnlichen Kleidung hinter sich her, läuft geradewegs in den schwarzen Wald auf der anderen Seite der Schlucht. Er weiß wohl nicht, dass dieser Teil des Dunkelwaldes nicht betreten werden darf, weil Kreaturen der Nacht dort sogar bei Tage lauern. Nur wenige Reisende schaffen es unverletzt hindurch. Oft war ich versucht, ihnen zu helfen, aber Vater hat es immer verboten. Hätte ich mich an seine Anweisung gehalten, hätten die Gerüchte niemals einen Gesandten des Königs in unsere Heimat gelockt. Hat er das Dorf meinetwegen angreifen lassen? Ich wäre mit ihm gegangen, wenn ich sie so hätte retten können. Wieso hat er mich nicht einfach darum gebeten?
Mein Arm tut weh, so feste packt er zu, in der Angst, ich könnte erneut fliehen. Aber wohin soll ich schon gehen? Begreift er das denn nicht?
Abrupt bleibt der Kaufmann stehen, dass ich gegen seinen Rücken knalle und ihn fast umwerfe, aber eben nur fast. Mit einem Knurren, das dem wütenden Schnauben eines Tieres ähnelt, stützt er sich an einem Baum ab, schiebt mich hinter sich, während er etwas oder jemanden beobachtet. Ich bemerke die Hand, die beinahe schützend handelt, wie sie mich verbirgt. Ein Prickeln zieht durch meine Finger und ich bemerkte das Licht, wie es anmutig den schwarzen Handschuh umspielt. Mein Herz setzt für einen Moment aus, ich kann kaum atmen. Erkennt es ... Vaters Geruch daran?
Wortlos reißt er mich mit sich. Ich stolpere über Geäst und kleine Dickichte, stoße immer wieder gegen ihn, wenn er so plötzlich anhält. Beim vierten Mal knurrt er nicht mehr, scheint akzeptiert zu haben, dass ich nun einmal nicht gleichzeitig schleichen und rennen kann - vor allem dann nicht, wenn man mir die Sicht versperrt und mich unkontrollierbar zieht und zerrt.
Wir erreichen eine Lichtung, die nur spärlich vom Mondlicht erhellt wird, und der Kaufmann bleibt wie erstarrt stehen. Ich wundere mich, dass er nicht in Deckung geht wie zuvor, blinzle an ihm vorbei und versteife mich. Übelkeit kriecht mir den Hals hinauf, während ein aufdringlicher Schmerz meinen Magen durchknetet, etwas von einer Seite zur anderen schlägt. Alles ist voller Blut und ich kann neben den Körperteilen eines Menschen auch Pferde ausmachen. Eine dicke Suppe aus Blut und Gedärmen sickert in den Erdboden des schwarzen Waldes und ich kann seine Bewohner bereits fühlen, die nicht nur blutgierig nach den Kadavern lechzen, sondern ebenso Vergeltung für diese Schändung fordern.
Ich spüre das schwache Leben eines der Pferde, aber nach Irmas Heilung habe ich keine Kraft mehr. Wieder ein Wesen, das ich nicht vor dem Tod bewahren kann.
Der Kaufmann lockert die Hand, lässt mich frei, dass ich mir das Handgelenk reibe vor Schmerz. In seinen Augen ist neben dem gewaltigen Zorn etwas anderes zu sehen. Das Eisblau wirkt mit einem Mal wie ein klarer Bergsee, dessen Kälte ein wohliges Gefühl bescheren könnte, wäre da nicht der Umstand, dass wir auf einer blutigen Lichtung stehen.
Er geht an mir vorbei, beugt sich über den zerteilten Leib des Mannes. Anhand der Kleidung vermute ich, dass es sich bei dem Opfer um seinen Weggefährten handelt. Heißt das, sie haben den Angriff auf das Dorf gar nicht befohlen?
Mit einem Mal dreht er sich zu mir um. Hass brodelt in diesen eisblauen Augen, als er auf mich zugeht, mit einem kräftigen Ruck an der Kehle packt und an einen Baum rammt. Er drückt zu, Schmerz und Atemnot wechseln sich ab, brennen in meinem Hals. »Ein weiteres Leben geht auf deine Kappe, Soleahure!«
Ich verliere den Boden unter den Füßen, schnappe nach Luft, halte mich verzweifelt an den Armen fest, die mich in die Höhe reißen. Die Rinde reißt Wunden an den Schultern, bis Blut fließt. Ich versuche, zu lächeln, wollte ich ihm doch nie etwas Böses bescheren. Wütend schreit er mich an, aber ich verstehe ihn nicht, spielen meine Sinne mir doch einen Streich. Ich sehe dunkle Flocken in seinem Haar, die auf und ab tanzen und das Licht meiner Hände drängt danach, sie zu berühren. Ich strecke die Finger aus, fühle die Weiche dieses finsteren Schwarz. »Töte mich«, flüstere ich, fahre ihm mit der Fingerspitze die Wange hinab, betrachte den entsetzten Ausdruck dieser Augen, während ein feuerheißes Prickeln meine Haut in Flammen setzt. »Wenn es dich befreit, töte mich. Ich werde dich nicht aufhalten.«
Seine Hand löst sich, ich falle und bemerke erst, als ich aufblicke, dass der Kaufmann kniet. Er atmet schwer, als hätte er einen heftigen Schmerz erfahren, ohne jedoch einen Laut von sich gegeben zu haben. Was ist passiert? Eine dieser schwarzen Flocken tanzt um einen meiner Finger. Es hat etwas Wunderschönes an sich, wie sie das Licht umspielt, bis sie sich plötzlich in die Haut hineinbohrt und mir einen blitzartigen Schmerz durch die Glieder jagt, dass ich aufschreie.
Dunkelheit. Ich drücke mich mit den Beinen von ihm weg, spüre wieder den Baum im Rücken. Finsternis leuchtet in seinem Haar, tritt in den Zorn dieser Augen, die mich zu bestrafen gedenken. Der Mann ist ... voll Dunkelheit. Wie kann das sein?
Als er sich erhebt, fürchte ich schon, er tut, was sein Blick sich wünscht, doch er wendet sich von mir ab und schlägt die geballte Faust an einen Baum. »Dein Tod gehört dem König allein«, zischt er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Ich wage, aufzustehen, nähere mich ihm jedoch nicht, bis er mich wieder ansieht. »Obwohl ich dir zu gerne selbst den Hals umdrehen würde - jetzt sofort!«
»Du hast Angst, der König glaubt dir nicht, wenn er mich nicht selbst tötet.« Ich kann es in deinen Augen lesen. Wer ... bist du?
»Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig«, sagt er, streckt die Hand nach mir aus, »und nun komm.« Ich bin versucht, diese Hand wirklich zu ergreifen. Die Furcht, die er in mir wachruft, schwindet und verfliegt genauso schnell, wie sie kommt, wenn er mich anschreit. Der Mann packt mich am Arm und ich bin so in Gedanken, dass ich an seine Brust pralle. Ich spüre die stählernen Muskeln unter meinen Fingern, ehe sein Blick mich erneut ängstigt. »Und gnade dir Gott, wenn du mich noch einmal so berührst!«, knurrt er und reißt mich hinter sich her.
Ich stolpere ihm nach, klammere mich an den dicken Ärmel seiner Jacke. Warum nicht? Das Herz schlägt mir bis zum Hals, als ich erneut die schwarzen Flocken im Haar tanzen sehe, doch sie verschwinden, je weiter wir in den Dunkelwald vordringen. Fühlst du auch etwas neben diesem Schmerz, den eine Berührung unserer Haut erzeugt? Spürst du das feuerheiße Prickeln, wie ich es tue?
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Lichtschatten - Die letzte Solea
FantasyDas Land Wyonell versinkt im Schatten des grausamen Königs Balan. Er beraubte die Zirkel ihrer Magie, tötete jene, die mit der Prophezeiung um seinen Sturz verbunden schienen. Schließlich setzt er seinen Sohn Greyson darauf an, das letzte Kind des L...