Kapitel 14 | Greyson
Zuerst sehe ich nur einen Schatten, kann nicht erkennen, welcher Dämon es wagt, mich zu bedrohen. Die Schreie der Schattenwesen und das Knurren der Bestie sind laut, verwirren mich. Stimmengewirr überall, dass ich kaum meinen eigenen Gedanken folgen kann. Ich atme tief ein und wieder aus, konzentriere mich nur auf den Dämon. Je mehr er sich nähert, desto klarer werden die Umrisse und ich erkenne ihn. Schützend ziehe ich Elle hinter mich, um sie in Sicherheit zu wissen. Es ist ein Scratcher oder auch Höllenhund genannt. Ich habe in Vaters Aufzeichnungen einmal eine Zeichnung entdeckt, auf der dieses Schattenwesen abgebildet war. Ihn jedoch leibhaftig vor mir zu sehen, hätte ich nie für möglich gehalten.
Weiß er nicht, wer ich bin? Spürt er nicht, von welchem Blut ich abstamme? Wie kann er es wagen, seinen zukünftigen Meister derart zu bedrohen! Die Wut kocht in mir wie in einem brodelnden Vulkan, doch ich erhebe mich langsam, um ihn nicht unnötig zu reizen und Elle damit womöglich in Gefahr zu bringen. Auch wenn ich ein königliches Schattenblut bin, kann mich dieses Wesen in Stücke reißen. Ich bin nur ein Mensch.
Elle klammert sich hinter mir an meinem Oberarmen fest. Ich spüre, dass sie vor Angst zittert. »Grey-«
»Still!«, unterbreche ich sie und klinge dabei zorniger, als beabsichtigt. Ein Schwall schwarzer Flocken entlädt sich, tanzt um uns herum. Jedes Wort könnte den Zorn der Bestie auf sich ziehen, das will und darf ich nicht riskieren.
Erleichtert stelle ich fest, dass sie ausnahmsweise einmal tut, was man ihr sagt, und greife nach dem Dolch. Bei dem Überfall auf Elles Dorf ist mein Schwert und königliches Siegel verloren gegangen, weshalb mir nichts anderes übrig bleibt, als uns mit diesem mickrigen Messer zu verteidigen.
Der Scratcher fixiert mich mit seinen grünleuchtenden Augen und scheint sich auf einen Angriff vorzubereiten. Das Knurren ist so laut, dass die Erde erzittert. Ich höre noch, wie Elle zu würgen beginnt, bevor ich nach vorne hechtend zum Schlag aushole. Ich nutze den Überraschungseffekt und ramme dem Dämon meinen Dolch in die Seite. Er kreischt laut auf, weicht vor mir zurück. Ich umkreise ihn, versuche, ihn zu berühren, um es kontrollieren zu können und in die Traumwelt zu schicken. Das Grollen, das von der Bestie ausgeht, nimmt in der Luft die Form zahlreicher Wurfwaffen an, die auf mich zurasen.
Ich renne los, springe im Laufen, rolle mich ab und schaffe es so, auszuweichen. Sie bleiben in den Bäumen hinter mir stecken. Für einen kurzen Moment erhasche ich einen Blick auf Elle, doch sie ist nicht mehr dort, wo ich sie zurückgelassen habe. Schatten zerren sie fort!
Dem Dämon scheint das genauso wenig zu gefallen wie mir und grollt erneut. Doch diesmal bin nicht ich sein Ziel, sondern die frechen Schattengeister. Verwirrt sehe ich es mit an, verpasse den Zeitpunkt, ihm das Messer in den Nacken zu schlagen. Wieso rettet er Elle? Wurde er geschickt, um uns zu töten?
Die gewaltige Pranke des Scratchers trifft mich in der Seite und schleudert mich gegen einen Baum. Ich hätte nicht unaufmerksam werden dürfen. Der Schmerz lähmt mich für kurze Zeit, zieht mir durch den gesamten Rücken. Ich winde mich vor Qualen und schaffe es nicht, auf die Beine zu kommen. Ich spüre eine warme Flüssigkeit, die sich beginnend an den Schultern löst und ihren Weg hinunter sucht. Nach Atem ringend sehe ich mich um, doch das Biest ist verschwunden. Verdammt Elle! Ein beklemmendes Gefühl befällt mich, das meinen Puls in die Höhe schießen lässt. Es ist so stark, dass es mir gelingt, den Schmerz zu vergessen und ich mit einem Satz aufspringe. Doch unbewaffnet kann ich ihm nicht nachsetzen, blicke nach unten und suche nach dem Dolch im aufgewühlten Erdboden.
Als ich es endlich finde, eile ich durch das Dickicht immer dem heftigen Schnauben nach. Wieso schreit sie denn nicht? Panik steigt in mir auf, greift mit ihren kalten Klauen nach mir und lässt meinen Körper erzittern. Ich darf sie nicht verlieren! Nicht um Vaters Willen, sondern um meinetwillen.
Ich stoße auf die Lichtung vor, wo ich Elle zurückgelassen habe und erblicke den Scratcher, der mir den Rücken zuwendet. Entsetzt erkenne ich, dass er sich schon über sie beugt und mir nicht mehr viel Zeit bleibt, ehe er Elle den Kopf von den Schultern reißt. Ich eile zu ihr, stelle mich neben das Biest und will es gerade berühren, um es in eine mörderische Traumwelt einzusperren, als ich plötzlich von gleißendem Licht geblendet werde, das aus Elles Hand zu kommen scheint. Es erfüllt den schwarzen Körper des Schattenwesens und die schuppig-ledernde Haut wird immer heller. Ohne weiter darüber nachzudenken, was genau sie da tut, und dem Höllenhund eine weitere Gelegenheit zu geben, mich zu überrumpeln, strecke ich die Hand aus und berühre ihn. Ich rufe die Finsternis meines Blutes an und sperre ihn auf ewig in die Traumwelt.
Nun gehört er mir und wird teuer bezahlen! Ich tauche sekundenschnell in seine Träume ein, und was ich sehe, zieht mir fast den Boden unter den Füßen weg. Ich erkenne Crane im Dunkelwald, der mit dem Wesen kommuniziert. Um ihn herum hat sich ein kleiner Trupp Soldaten versammelt. Er scheint den Scratcher geschickt zu haben. Eigentlich verständlich, da er vermutet haben muss, dass ich tot bin, weil ich so lange fort bin. »Finde die Solea und bring sie mir lebend. Den Schattenprinzen kannst du erledigen. Für einen langsamen und qualvollen Tod werde ich dich belohnen.« Seine Worte treffen mich bis tief ins Mark. Der Dämon senkt demütig das Haupt, ehe er unsere Spur aufnimmt.
Erschüttert und voller Wut ramme ich dem Scratcher den Dolch ins Rückenmark und drehe ihn tief in seinem Fleisch, um ihn leiden zu lassen. Schließlich sinkt er tot zusammen und mein starrer Blick ruht noch einen Moment auf seinem Leib, Gedanken schwirren um die Worte meines Bruders, bis ich das blonde Haar darunter entdecke.
Ich stoße die sich bereits auflösende Schattenbestie mit dem Stiefel von ihr herunter. Der Schock über den Verrat meines Bruders, der mich bis eben beherrscht hat, schwindet und nur ein einziges Gefühl bleibt zurück, erfüllt meinen Körper bis runter in die Zehenspitzen. Erleichterung. Ich helfe Elle auf die Beine, flüstere zärtlich ihren Namen und nehme ihr wunderschönes Gesicht in beide Hände. Wäre ihr etwas zugestoßen, hätte ich mir das nie verzeihen können, dabei weiß ich nicht einmal, seit wann ich so für sie empfinde.
Die Angst um sie traf mich wie ein Donnerschlag. Ich suche ihren Blick, tauche erneut in die Tiefen dieser grünen Augen, lege die Arme um sie und drücke sie fest an mich. Dabei vergrabe ich den Kopf in ihrem Laub bedeckten Haar, atme Elles unverkennbaren Duft tief ein. Trotz der Erde riecht sie noch immer nach Sonne und Wildblumen. Ein Duft, der mir die Sinne raubt, mich verzaubert. Ein warmer Schauer erfüllt mich und geht fließend über in heiße Begierde. Meine Hand wandert zu ihrem Haar, über das ich zärtlich streiche.
»Alles in Ordnung? Hat er dich verletzt?«, frage ich besorgt. Sie antwortet mir nicht, aber an der Anspannung, die ich in ihren Schultern spüren kann, weil ich sie immer noch halte, merke ich, dass etwas nicht stimmt. Gerade, als ich ihr Mut zusprechen will, beginnt ihr Herz panisch zu rasen, dass ich ihr Kinn anhebe und den angsterfüllten Blick erkenne. »Elle, was ist los? Sag doch was!«
Wieder tanzt ein Schwall schwarzer Flocke um uns herum, den ich das erste Mal schon nicht zuordnen konnte. Verliere ich Magie? Bin ich nicht fokussiert genug? Wegen Elle?
Plötzlich stößt sie sich energisch aus meinen Armen, holt laut Luft, als hätte sie diese bis zum baldigen Ersticken anhalten müssen, und stützt sich nun auf den Knien ab. Schwer atmend sieht sie mich aus dieser geduckten Haltung an, ehe sie sich aufrichtet. »Mach das ja nie wieder!«, brüllt sie fuchsteufelswild, schlägt nach meinen Händen, die ich ihr in dem Moment hilfsbereit anbiete. Ihre Worte treffen mich hart. Sie will nicht, dass ich sie berühre? Ich dachte immer, dass sie auch mich begehrt. Zumindest hat es den Anschein gemacht.
Elle verschränkt die Arme vor der Brust, wirkt geradezu verstört. Ist es wirklich wegen dieser Umarmung oder hat der Scratcher sie erwischt? Sie wendet sich von mir ab und geht auf unseren Schlafplatz zu. Bedacht, einen Sicherheitsabstand einzuhalten, um sie nicht noch weiter zu verärgern, gehe ich ihr nach. Mist verdammter! Ich hätte der Versuchung nicht nachgeben sollen, sie zu umarmen. Doch es erschien mir richtig.
»Hör zu, Elle. Es tut mir leid.« Natürlich war das gelogen, aber irgendwie musste ich sie schließlich beruhigen. »Es kommt nicht wieder vor.« Jedenfalls nicht, wenn du es nicht auch willst. Ich hoffe inständig, dass ich das auch durchziehen kann. Ihre Anziehungskraft scheint mit jedem Tag, den ich mit ihr verbringe, und mit jeder Nacht, in der ich neben Elle liege und ihre Träume besuche, stärker zu werden.
Energisch dreht sie sich und funkelt mich an. Ich versuche, dem Blick standzuhalten, bemerke aber schnell, dass es mir wahrhaftig etwas ausmacht, dass sie böse mit mir ist. Elle macht Anstalten, auf die Entschuldigung zu reagieren, versteift sich jedoch, als sie an mir hinuntersieht und auf Bauchhöhe hängenbleibt.
»Greyson! Du bist ja verletzt!«, ruft sie erschrocken und eilt die letzten Schritte auf mich zu. Ich blicke an mir herunter, bemerke, dass mein Gewand an der Seite tiefrot gefärbt ist. Nachdem das Adrenalin des Kampfes nun endlich meinem Körper entweicht, fühle ich mich benommen und schwach. Wohl wegen des Blutverlusts. Sie deutet auf unseren Schlafplatz.
»Leg dich hin«, weist sie mich an. Ich gehorche, lege mich auf die Decke, die ich eigentlich für Elle mitgenommen habe, damit sie die Nächte nicht mehr so friert. Sie kniet sich neben mich und begutachtet die Wunde. »Ein Ast hat sich offenbar tief in dein Fleisch gebohrt. Ich werde ihn entfernen und dich danach heilen. Ist das für dich in Ordnung?«
Wenn schon eine leichte Berührung stechende Schmerzen verursacht, wie schmerzhaft wird es dann wohl sein, wenn sie mich mit ihrem Licht berührt? Ich bin unschlüssig, ob es eine gute Idee ist, diese Magie in mein Blut zu lassen, doch ich nicke nur und will nicht als Schwächling dastehen. Nicht vor ihr. Nicht vor Elle, meiner kleinen Hexe.
Als nichts passiert, blicke ich sie an und bemerke, wie sie plötzlich verlegen wird. Elle presst die Lippen zusammen und ich spüre sofort, dass ihr etwas Unbehagen bereitet. »Stimmt etwas nicht?«, frage ich überrascht, da ich bisher nicht den Eindruck gewonnen habe, dass sie sich vor egal welcher Verletzung ekelt.
»Du ... müsstest dafür das Hemd ausziehen. Ich muss ... es mir ansehen, damit ich -«, flüstert sie, bricht jedoch ab. Ich grinse belustigt, als sich ihre Wangen tiefrot färben. Es macht sie tatsächlich nervös, mich mit nacktem Oberkörper zu sehen? Das lässt mich schmunzeln. Meine Spiellaune ist geweckt. Na dann wollen wir die kleine Elle ein bisschen verwirren.
Ich öffne sachte die Knöpfe des dunkelblauen Seidenhemdes, erhebe mich, um sie vor mir sitzend zu haben und ihr einen schönen Anblick zu schenken, ehe ich es quälend langsam abstreife. Ihre Augen weiten sich, als sie meine muskulöse Brust betrachtet, senkt jedoch schlagartig den Blick. Anscheinend bin ich der erste Mann, dem sie so nah kommt, und es erfüllt mich mit einer verrückten Art von Stolz.
»Na, na. Wieso so schüchtern?«, grinse ich und deute auf meine festen Bauchmuskeln, die ihren Blick für einen viel zu kurzen Augenblick gefangen nehmen. »Sonst macht es dir doch auch nichts aus, mich zu berühren.«
Sie boxt mir gegen das Knie. »Lass den Unsinn!«
Ich lache laut auf, bis mich der Schmerz jäh in die Knie sinken lässt. Dahin ist der magische Moment. Elle holt tief Luft, setzt sich direkt vor mich und begutachtet das Holzstück, das aus meinem Fleisch ragt, bevor sie danach greift. »Das wird jetzt wehtun«, warnt sie mich vor und ich nicke.
Als sie den Ast mit dem Durchmesser einer geballten Faust aus mir herauszieht, ächze ich kurz auf. Es schmerzt so enorm, dass ich die Zähne zusammenbeiße, damit mir kein Laut aus dem Mund dringen kann. Ich kann fühlen, wie ein großer Schwall Blut dem Holz folgt, meinen Schoß durchnässt und Elles Gesicht bei dem Anblick bleich wird. Doch diese Schmerzen sind nichts im Vergleich mit den Qualen danach, als sie sanft die Finger in das Loch in meinem Fleisch führt. Ihr Licht heilt mich zwar, aber die Pein benebeln mir den Verstand, dass ich nicht länger weiß, wohin damit. Mein Schrei erfüllt den Dunkelwald, dass sogar die Schatten aus der Nähe flüchten. Immer wieder sinke ich in einen dämmernden Trancezustand, nehme um uns herum kaum etwas wahr, nur das goldene Haar der Frau, die mich zu retten versucht.
Nach einer gefühlten Ewigkeit lässt sie von mir ab, streichelt mir liebevoll über die Wange und der stechende Schmerz erreicht mich kaum mehr, so benebelt bin ich. »Es ist vorbei, Greyson«, haucht sie mir ins Ohr. Ich bin wie gelähmt, unfähig mich zu bewegen, und Elle scheint das genau zu erkennen, denn sie legt sich direkt neben mich.
Nach einigen Augenblicken bin ich wieder Herr meiner Sinne. Der Schmerz verebbt. Ich richte mich sitzend auf, brauche nicht an mir herunterzusehen, um zu wissen, dass ich vollständig geheilt worden bin, stütze daher den Kopf auf der Handfläche ab und sehe auf Elle, die starr in den Himmel sieht. Ihre Augen sind feucht. Weint sie etwa? »Elle!« Sie scheint mit den Gedanken weit weg zu sein, so beuge ich mich über ihr Gesicht. Sie lächelt mich mit solch einer Wärme an, dass mir schwindelig wird. Ihre Lider flattern und mit einem Mal erkenne ich auch, wieso. Die Schmerzen! Sie sind auf sie übergegangen, genauso, wie ich es im Traum gesehen habe. Ist ihr kleiner Körper diesen Qualen überhaupt gewachsen?
»Verdammt, Elle! Du hättest mich nicht retten sollen!«, sage ich wütend über meine eigene Dummheit, ihr erlaubt zu haben, mich zu heilen, wo ich doch genau wusste, dass das passieren würde. Ich streiche ihr liebevoll eine Strähne hinters Ohr, versuche zu begreifen, was in ihr vorgehen mag. Diese junge Frau hat mich gerettet. Mich! Ihren Feind, der sie dem Mann ausliefert, der sie umbringen wird! Etwas in mir sträubt sich dagegen, sie zum König zu bringen. Und dieses Etwas wird immer größer, je näher ich sie kennenlerne. Es ist zu viel passiert. Elle ist passiert!
Sie stöhnt schmerzlich auf, versucht, meinem Blick auszuweichen. »Sieh mich an.« Elle schüttelt den Kopf, Tränen perlen aus den Augenwinkeln in ihr Ohr. »Sieh mich an, Solea.« Meine Stimme ist leise, doch die Intensität darin lässt sie gehorchen. »Wieso?«, frage ich sie. Mein Gesicht ist so dicht vor ihrem, dass wir einander fast berühren, aber ich achte darauf, es nicht zu tun. Sie leidet schon genug für mich. »Wieso hast du mich gerettet? Du hättest mich verbluten lassen und fliehen können. Dich hätte ein völlig neues Leben erwartet.«
Elle schnaubt lächelnd, schüttelt erneut den Kopf und senkt den Blick. Ich greife nach ihrem Kinn, hebe es an, um sie zu zwingen mich anzusehen. »Sag es mir«, bitte ich sie nun sanfter.
»Ist es nicht offensichtlich?«, haucht sie und für einen kurzen Augenblick erlaube ich mir, das Glänzen dieser Augen nicht mit Tränen zu verwechseln und etwas anderes darin zu erkennen, ehe ihr Kopf kraftlos zur Seite fällt.
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Lichtschatten - Die letzte Solea
FantasyDas Land Wyonell versinkt im Schatten des grausamen Königs Balan. Er beraubte die Zirkel ihrer Magie, tötete jene, die mit der Prophezeiung um seinen Sturz verbunden schienen. Schließlich setzt er seinen Sohn Greyson darauf an, das letzte Kind des L...