Kapitel 15 | Elle
Ich laufe durch die dichten Nebel, kann kaum etwas sehen. Es ist kalt und feucht, dass ich die Arme um mich schlinge. Doch das Gefühl bleibt.
»Claire? Bist du hier irgendwo?« Die Einsamkeit zieht an mir, lässt meine Schritte langsamer werden, bis ich gänzlich stehen bleibe. »Vater? Irgendwer?«
Dunkle Rauchschwaden mischen sich in den Weißnebel, greifen wie scharfe Klauen nach meinen Beinen. Ich renne los, getrieben von Angst und Schmerz, die ich plötzlich in der Brust spüren kann. Sie versuchen, mich zu lähmen, brechen in Rissen durch die Haut, die zu splittern beginnt. Ich schreie, doch meine Stimme bleibt stumm.
Tränenverhangen erkenne ich nur wenige Meter vor mir die dunkle Silhouette eines Mannes, der mir eine Hand entgegenstreckt. »Elle«, flüstert er. »Ich bin hier.«
Ein Schatten schlägt seine Pranke in mein linkes Bein. Leid und Schmerz überfluten mich, dass ich nahezu gelähmt scheine. Doch ich schaffe es nicht, den Blick von diesem Schattenmann zu lösen, der sich von den anderen zu unterscheiden scheint. Er ist einer von ihnen und doch nicht wie sie. Wer ist er?
»Elle!«, ruft er mich und ich renne los. Die Schatten verfolgen mich, schnappen nach meinen Füßen, als ich ihm in die Arme springe. Sanft fängt der Mann mich auf, umhüllt mich schützend und mit einem Mal lösen sich die Rauchschwaden um uns herum auf, dass nur der weiße Nebel zurückbleibt.
Ich schaue auf, um in sein Gesicht zu sehen, aber alles, was ich erkenne, sind eisblaue Augen, die warmherzig und gütig auf mich herablächeln. Solch eine widersprüchliche Mischung hatte ich noch nie zuvor gesehen.
»Wer bist du?«Den ganzen Morgen kann ich diesen Traum nicht vergessen, blinzele immer wieder zu Greyson herüber, der dieselben Augen zu haben scheint wie die Traumgestalt, während wir den Dunkelwald weiter auf dem Weg nach Wyonell durchqueren.
»Ist etwas?«, fragt er schließlich, als ihn mein Starren belästigt.
»I-Ich habe mich nur gefragt, ob die Wunde auch ganz verheilt ist«, lenke ich ab, ehe ich noch eine andere Antwort gebe. Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich heute Morgen nicht nachgeschaut habe, ob mein Licht auch alles absorbiert und geheilt hat, wie ich es mir gestern vorgenommen habe. Ich muss diesen Traum endlich vergessen!
Im selben Moment hebt Greyson das Hemd an und zeigt mir seine durchtrainierten Bauchmuskeln, die mir augenblicklich den Atem rauben. Im Dorf besaßen die Männer und Jungen entweder einen mächtigen Bierbauch oder waren so dünn, dass sie einer Hühnerbrust Konkurrenz machten.
Ich zwinge mich, näherzutreten und mich auf die Stelle zu konzentrieren, in der gestern noch der dicke Ast gesteckt und ein tödliches Loch hinterlassen hat. Es ist ein Wunder, dass er überhaupt so lange durchgehalten hat - nicht nur die Schmerzen, die mein Licht verursacht hat, was bisher bei keinem anderen Menschen je passiert ist, sondern auch das Leid, bis ich die Verletzung bemerkt habe.
Gedankenverloren berühre ich ihn mit den Fingerspitzen, bemerke ein Anspannen der Muskeln, das daher rühren mag, dass es Greyson wehtut. Ich höre, dass er die Luft scharf einzieht und wie ein Bulle in einem Atemzug ausstößt. Als ich aufblicke, hält er den Kopf gesenkt, sieht mich an. Etwas in seinen Augen hat sich verändert. Sie erinnern mich plötzlich an die des Mannes aus meinem Traum.
»Wie ... fühlst du dich?«, frage ich mit zittriger Stimme und versuche zeitgleich, all die Sinne auf seinen Bauch zu konzentrieren. Die Haut ist warm und glatt, fühlt sich weich an und ein Prickeln in den Fingerspitzen verleitet mich, zärtlich über die Stelle zu streicheln, an der Greyson eine Narbe haben müsste. Aber mein Licht hat ihm auch dieses Leid genommen.
»Nicht«, höre ich ihn flüstern, aber ich kann dem Drang, ihn anzufassen, nicht widerstehen. Etwas in dem Eisblau seiner Augen scheint mich zu warnen, flackert unstillbar auf. Ich kann nicht. Doch auch als er die Hand über meine legt, um mich davon abzuhalten, folge ich dem Prickeln, das meinen Hals sekundenschnell austrocknet. Ich berühre ihn mit der anderen Hand, um herauszufinden, was dieses Gefühl zu bedeuten hat, das mehr und mehr von mir Besitz ergreift, lasse die Finger auf seiner Haut kreisen.
Mit einem Mal packt Greyson mich an den Armen und stößt mich nach hinten, bis ich einen Baum in meinem Rücken habe. Jedoch nicht, ohne nachzusetzen und so nah bei mir zu stehen, dass ich seinen erhitzten Atem auf der Haut spüre. Er stemmt die geballten Fäuste direkt neben mich an das Holz, dass ich das Knacken und Knistern hören kann.
»Wieso nicht?«, hauche ich, fühle mich benebelt von einer Hitze, die sich meines Körpers zu bemächtigen scheint, und ich bin mir sicher, dass Greyson sie auslöst.
»Ich bin auch nur ein Mann«, knurrt er mir entgegen, doch es kommt mir nicht im Ansatz bedrohlich vor. Ganz im Gegenteil, es heizt das Gefühl in mir noch mehr an, dass ich versucht bin, ihn abermals zu berühren, doch der Ausdruck seiner Augen verbietet es mir. »Wenn du weitermachst, kann ich für nichts garantieren, kleine Hexe.«
Was sagt er da? Mein Blick scheint so erschrocken zu sein, dass Greyson sich mit einem wissenden Grinsen von mir abwendet. Wie meint er das?
»Genug jetzt!« Seine Stimme ist ernst und ich kann nur noch sehen, wie er das Wappen zurück in die Tasche steckt. »Wir müssen schnell weiter, bevor er uns findet und tötet.«
»Wer? Wovon redest du denn da?« Ich verstehe gar nichts mehr. »Ich dachte, du bringst mich zum König nach Wyonell?«
Greyson dreht sich zu mir um und ich kann nur vage erkennen, was in ihm vorgehen mag. Es wird schon wieder dunkler. Wir sollten bald rasten, aber er will jetzt weiterziehen? »Begreifst du denn nicht? Dass der Scratcher ... die Schattenbestie uns angegriffen war, war kein Zufall!« Bedeutungsvoll tritt er auf mich zu und ich sehe Sorge in seinem Blick. »Sie hat den Auftrag erhalten, dich zu entführen und mich zu töten, Elle.«
Blitze zucken durch die Haut, als er meine Hand nimmt und mich mit sich zieht, dass wir in Bewegung bleiben. Die Handschuhe muss er bei dem Kampf mit der Schattenbestie irgendwo verloren haben, aber es scheint ihm kaum noch was auszumachen. »Woher weißt du das? Haben die Schatten mit dir gesprochen? Verstehst du, was sie sagen?«
»Ich habe es in den Träumen der Bestie gesehen.« In ihren Träumen? Aber wie kann er ...?
»Greyson, stop!« Ich drücke mich gegen ihn, dass er stehenbleibt und mich ansieht.
»Wir haben keine Zeit, Elle. Wir müssen hier weg!«
»Nein!«, schreie ich, als würde ich wirklich denken, damit mehr Gehör geschenkt zu bekommen. Aber er steht bereits bei mir, nimmt mein Gesicht in seine Hände und zeigt sich so sanft und verständnisvoll, dass ich ihm jedes Wort glaube, das er sagt. Was passiert hier? »Wer will dich töten?«
»Mein Bruder.« Greysons Stimme ist so ernst, dass ich fast überhöre, wie sehr sie von Trauer und Zorn getränkt ist.
»Dein ... Bruder? Aber wie ...« kann das sein?
»Elle, bitte!«, fleht er und zieht mich abermals mit sich. Ich stolpere hinter ihm her, bin durcheinander. Wie kann man nur die eigene Familie töten wollen? Vor meinem inneren Auge erscheinen Vater und Claire. Niemals hätte ich ihnen ein Haar krümmen können, wie hätte es je anders sein sollen?
Greyson umklammert meine Hand fest, führt mich zwischen den immer wieder aus der Dunkelheit auftauchenden Bäumen hindurch. Ich höre die Schatten flüstern, glaube fast, sie warnen uns vor etwas, doch das wäre lächerlich.
Ich erinnere mich an eine Geschichte von zwei Brüdern, die einander so sehr hassten, dass sie schon im Kindesalter aufeinander losgingen. Ein Vater, der ihnen ein Geschenk versprach, das einer mehr begehrte als der andere. Doch um es zu erhalten, mussten sie ein Duell um Leben und Tod beschreiten - gegeneinander. So gab es nur einen Sieger, einen Erben.
Die Geschichte hat mich schon damals schockiert, als Claire sie mir erzählte. Ein Minnesänger trägt sie noch heute durch das Land. Niemand weiß, wie viel Wahrheit in diesen Worten liegt, aber wenn ich Greyson so ansehe und mir ausmale, wie es sich anfühlen muss, wenn die eigene Familie deinen Tod wünscht, kann ich kaum atmen. Meine Brust zerriss innerlich vor Schmerz, als hätten die Lieder des Barden das Leid der Brüder zu mir geführt, und auch jetzt spüre ich das wilde Pochen der Angst in den Gliedern.
Ich schluchze leise, während fremde Gefühle mich übermannen und ich nicht dagegen ankomme. Tränen schießen hervor und ich kann kaum noch etwas sehen, als mein Herz einen Schlag aussetzt. Rechts von mir bricht der Erdboden weg, als ich mich vertrete. Ich verliere seine Hand, falle in die Finsternis.
»Elle!« Greyson springt hinunter, greift nach mir und zieht mich an sich, versucht, mich zu schützen. Wir stürzen den steinigen Abhang runter, doch nicht nur der Schmerz unserer Berührung fährt durch meinen Körper. Etwas riss an meinem Bein, dass mir für den Moment schwarz vor Augen wird, noch bevor er mich erreicht hat.
Der Aufprall tut weh und ich fühle mich, als wäre ich von einem Scheunendach auf harten Kies gefallen. Ein Stöhnen entfährt mir, während ich mich aufrichte. Neben mir erkenne ich Greyson, der sich umblickt. Erst nachdem er glaubt, dass wir alleine sind, kommt er zu mir. Ein prickelndes Pochen frisst sich meine Wade entlang, doch ehe ich die Wunde verstecken kann, hat er sie bemerkt.
»Verflucht! Wir müssen -« Er kniet sich vor mich, schiebt vorsichtig den Rock hoch, um sich die Verletzung anzusehen, doch etwas stimmt nicht. Der Ausdruck seiner Augen verschwimmt und ich kann nicht ausmachen, was in ihm vorgeht. Ist er böse mit mir, dass ich nicht aufgepasst habe? In sanften Bewegungen streicht er mit den Fingern meine Wade entlang und ich wundere mich, was das für eine Untersuchung wird, als er plötzlich hochfährt und sich haareraufend von mir entfernt.
Das schlechte Gewissen nagt an mir. Ich möchte mich erheben, auf ihn zugehen, aber der Schmerz zwingt mich, sitzen zu bleiben. Er steht mir den Rücken zugewandt da, wirkt unruhig. »Kannst du dich mit deinem Licht heilen?«
»Nein, tut mir leid«, antworte ich. »Es ist nur für die Schmerzen und Wunden anderer Menschen gedacht.« Er brummt, aber ein Gefühl sagt mir, dass es nicht das ist, was ihm wirklich auf dem Herzen liegt. »Es tut mir leid, dass ich nicht aufgepasst habe, ich -«
»Entschuldige dich nicht!«
»J-Ja.« Sein Rücken kommt mir so abweisend vor, dass ich ihn am liebsten bitten würde, sich zu mir umzudrehen, aber ich glaube, das wäre zu viel verlangt. »Greyson?« Ich strecke die Hand nach ihm aus, spiele mit dem Gedanken, meine Finger in seinem Hemd zu vergraben und mich an ihn zu lehnen, um ihn bei mir zu wissen. Aber ich widerstehe, kann ich schließlich nicht alleine aufstehen. Der Schmerz ist zu stark. »Was ist eigentlich los mit dir?«
»Was los ist?« Er lacht bitter, als er sich zu mir umdreht, und geht ein paar Schritte auf mich zu, ehe er vor mir auf die Knie geht. »Merkst du denn nicht, wie sehr du mich verzauberst, Elle?« Wieder kann ich dieses seltsame Flackern in seinen Augen sehen, als würde das Eisblau in schwarzen Flammen stehen. Doch ich fürchte mich nicht davor, obwohl ich weiß, dass ich es sollte, spüre ein Verlangen in mir, das Feuer zu berühren. »Wie ich kaum atmen kann, wenn du in meiner Nähe bist?« Greyson ergreift meine Hand. Der Schmerz durchzuckt jedes einzelne Fingerglied und treibt mir die Tränen in die Augen, aber ich bekämpfe sie, will mehr von diesem zärtlichen Gefühl erfahren. »Ich muss mich von dir fernhalten, sonst werde ich mich nicht mehr lange zurückhalten können. Das weiß ich jetzt.«
Er will die Hand von meiner lösen, aber ich umklammere sie, blicke ihn an. Ein Feuer brennt unter der Haut, begehrt diesen Mann auf eine Weise, die ich nicht kenne und doch verzehre ich mich nach der Mischung aus Zärtlichkeit und Schmerz, die seine Berührungen mir schenken. »Dann tu's nicht«, flüstere ich, spüre ein Pochen auf den Lippen, das ihn ruft.
Ich sehe das schwarze Feuer in den eisblauen Augen, das mich zu mustern scheint, ob ich wirklich ernst meine, was ich da gerade gesagt habe. Greyson streicht mir eine Haarsträhne hinters Ohr, ehe er mit dem Daumen über meinen Mund fährt. Das wilde Pulsieren schreit in mir, ich kann es hören, spüre seinen heißen Atem auf der Haut. Ich will mich ihm entgegenstrecken, da senkt er bereits den Kopf und legt die Lippen auf meine.
Sie sind weicher, als ich angenommen habe, zärtlich und sanft. Ich öffne den Mund, um Luft zu holen, da gleitet er mit der Zunge hinein und entlockt mir ein köstliches Stöhnen, das bis tief in meinen Unterleib hallt. Ich fühle, wie Greyson mich mit den Händen an sich drückt, gewinne das atemberaubende Gefühl, immer mehr mit ihm zu verschmelzen. Er haucht meinen Namen mit solch einer liebevollen Stimme, dass ich wie Kerzenwachs dahinschmelze, doch mit der nächsten Berührung unserer Lippen stirbt etwas.
Ich schmecke Blut, bin wie gelähmt, sitze einfach nur starr da und blicke ihn an. Greyson wirkt entsetzt, denn auch wenn er kaum einen Schmerz spüren mag, was ich nicht begreifen kann, rollen sie in Wellen über mich hinweg. Meine Unterlippe platzt auf, ich bekomme Nasenbluten, die Hände zittern. Tränen der Angst bahnen sich ihren Weg über mein Gesicht, dass Greyson mich flehend an sich drückt. Ich verstehe ihn nicht, da sich ein dumpfes Geräusch in meinen Kopf eingeschlichen hat, glaube, die Götter bestrafen mich für die Selbstsucht, Gefühle für einen Mann zu entwickeln, den ich niemals lieben darf.
Plötzlich tritt ein Schattenmann aus der Finsternis, gefolgt von zwei Höllenhunden. Greyson reißt mich hinter sich, doch die Wucht wirft mich um, dass ich am Boden liegen bleibe. Die Welt dreht sich, Schatten treten hervor, doch sie scheinen nicht dem Fremden zu gehorchen, sondern uns schützen zu wollen.
»Du sollst sie nicht lieben, Bruder, sondern ausliefern! Oder war diese Aufgabe zu schwer für dein weiches Herz?«
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Lichtschatten - Die letzte Solea
FantasyDas Land Wyonell versinkt im Schatten des grausamen Königs Balan. Er beraubte die Zirkel ihrer Magie, tötete jene, die mit der Prophezeiung um seinen Sturz verbunden schienen. Schließlich setzt er seinen Sohn Greyson darauf an, das letzte Kind des L...