Epilog

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„Wenn du die Zeit zurückdrehen könntest, würdest du es tun?"

„Ja. Einfach, weil ich ihn wieder bei mir haben will. Wissen will, wie es wirklich war. Was er wirklich für mich empfunden hat. Oder ob es nur eine Lüge war. Ob ich meine Zeit verschwendet habe." Meine Stimme wurde immer leiser. Ich wollte nicht glauben, dass ich das sagen musste.

Schweigen zwischen uns. Ich wandte meinen Blick von dem Auto vor uns ab. Schaute Erik an. Blickte ihm direkt in die Augen. Er wirkte traurig. Ganz anders als sonst.

„Hast du nie versucht, mit der Zukunft zu leben? Oder wenigstens mit der Gegenwart?"

„Nein."

„Warum denn nicht?"

„Weil sie mir nichts mehr bieten kann."

„Bist du dir da sicher?"

Ich zuckte mit den Schultern. „Vielleicht. Aber in der Zukunft, da werde ich es auch nie erfahren. Ich müsste damit leben."

„Und deshalb schaust du lieber zurück?"

Ich antwortete nicht. Zuckte doch mit den Schultern. Was wollte ich schon? Was spielte es noch für eine Rolle, was ich wollte?

„Wäre es denn so schlimm?"

Ein Regentropfen prallte auf das Autodach. Unnatürlich laut in der Stille. Als würde der Regen für mich antworten.

Ein weiterer folgte. Bis es leise prasselte. Ein monotones Geräusch. Im Hintergrund. Das sich nur zu leicht ausblenden ließ.

Erik wandte den Blick ab. Umklammerte das Lenkrad des geparkten Autos fest. „Du solltest gehen." Seine Stimme klang hart. Wie nie zuvor.

„Was?" Mein müder Geist wollte die Worte nicht verarbeiten. Wollte sie nicht wahrhaben. Wollte sie überhört haben.

Er schluckte. „Du solltest gehen." Noch immer schaute er mich nicht an. Sondern starr durch die Windschutzscheibe. Auf das Rücklicht des vorderen Autos. Das langsam unscharf wurde durch die Regentropfen auf der Scheibe.

„Nein." Ich konnte kaum sprechen. Er meinte es ernst. Er wollte mich loshaben. Jetzt, wo ich ihn brauchte. Er war der Einzige, dem ich mich anvertraut hatte. Der mich für ein Stück weit wieder in die reale Welt geholt hatte. Und mich jetzt wieder zurückstieß. Tiefer in mein Loch, in das ich wieder gefallen war. In das Rouwens Frau mich wieder hineingedrückt hatte, als ich gerade herausklettern wollte. Das eine schier unüberwindbare Hürde war.

„Du musst aber. Du musst gehen." Endlich schaute er mich an. Seine Augen glitzerten verdächtig. Seine Lippen waren nur noch eine dünne Linie.

Langsam schüttelte ich den Kopf. Ich konnte nicht einmal weinen. So geschockt war ich. Es war so unerwartet. Ich wollte es nicht wahrhaben. Er konnte mich nicht auch noch verlassen. Nicht auch noch er. Mein einziger Halt in dieser Welt.

„Ich habe auch noch ein Leben, Zoe, das ich leben muss. Eine Karriere. Du hast gesagt, ich soll sie nicht wegwerfen, weißt du noch?" Flehend schaute er mich an. Hoffte auf Verständnis meinerseits. Dass ich loslassen würde.

Wie sollte ich den Mann loslassen, von dem ich so abhängig geworden war? In den letzten Tagen hatte er mein Leben bestimmt. Wie sollte ich ohne seine Hilfe weiterleben können? Mit dem Wissen, dass Rouwen ein hinterlistiges Spiel gespielt hatte. Mich womöglich nie geliebt hatte.

Wie sollte ich jetzt noch weitermachen? Es war unmöglich. Es ging nicht. Nicht ohne die Person, die in den letzten Tagen immer für mich da gewesen war. Mich sogar während der kurzen Autofahrt von der Polizeiwache zu seinem Zuhause hatte aufbauen können. Ein klein wenig. Mir ein winziges bisschen Hoffnung geschenkt hatte. Von der ich geglaubt hatte, dass ich sie nicht mehr besaß.

„Wie... wie kommst du darauf?", flüsterte ich. Meine Stimme klang erstickt. Heiser. Hoffnungslos.

„Ich war bei den Jungs im Training. Mein Trainer hat mir klar gemacht, dass ich Fortschritte machen muss, um...." Er brach ab. Wandte für einen Moment den Blick ab. Das Ende des Satzes ließ er in der Luft hängen. Ich wusste, was er sagen wollte. Was ihm klar wurde. „Ich will wieder dorthin zurück. Auf das Spielfeld. Und das kann ich einfach nicht, solange..." Wieder brach er ab. Seine Unterlippe zitterte. Seine Augen glänzten wieder feucht. Die Härte aus seinem Gesicht war verschwunden.

Zitternd atmete er tief durch. Ich konnte meinen Blick nicht von ihm abwenden. Wollte ihn anschauen, solange ich noch konnte. Solange er noch da war. Meine Droge sein würde, nach der ich süchtig war.

„Ich mag dich, Zoe. Aber ich mag dich zu sehr, um das weiter mitzumachen. So weiterzumachen. Es tut mir leid." Und nun lief sie doch. Die Träne. Über seine Wange. „Ich bringe dich gleich noch zum Bahnhof, wenn du willst."

Ich erwiderte nichts. Ließ mich im Sitz zurücksinken. Starrte nach draußen. Auf die Regentropfen, die die Windschutzscheibe hinunterliefen.

In mir war nichts mehr. Ich fühlte nichts mehr. Mein Geist schien wie betäubt zu sein. Von all den Dingen, die in den letzten Stunden passiert waren.

War es nicht erst heute Morgen gewesen, als ich angefangen hatte, mich besser zu fühlen? Jetzt war es Nachmittag. Und es sah alles anders aus. Alles hatte sich verändert. Nichts war mehr gleich geblieben.

Mein Freund. Er war nicht der, für den ich ihn gehalten hatte. Er hatte mir wahrscheinlich immer etwas vorgemacht. Nicht nur mir, auch seiner Frau. Seiner Tochter.

Die Erinnerung an ihre Worte versetzten meinem Herz Stiche. Kleine Nadelstiche, die es immer mehr zum Bluten brachten. Immer mehr Schmerzen verursachten, die nicht wieder aufhören wollten. Mich für immer begleiten würden. Nie mehr vergehen würden. Ein Teil von mir werden würden. Mich daran hindern würden, wieder normal zu sein. Ein normales Leben zu führen. Glücklich zu werden. Zu Vertrauen.

Vor Schmerz würde ich am liebsten aufschreien. Doch ich war wie gelähmt. Gefangen in meinem eigenen Körper. Gefangen in meinem seelischen Schmerz.

„Ich geh mal schnell deine Sachen holen." Eriks Stimme nahm ich gar nicht richtig wahr. Es war wie ein Hintergrundgeräusch. Seine Worte verstand ich nicht richtig. Sie flossen ineinander über. Ergaben keinen Sinn.

Das Zuschlagen der Autotür ließ mich zusammenzucken. Holte mich zurück in die Wirklichkeit.

Erik ging in das Haus. Er war gegangen. Es war vorbei.

An der Straße neben mir rauschte ein LKW vorbei. Ansonsten war es still.

Die Tränen flossen mir über die Wangen. Ich hatte es gar nicht richtig wahrgenommen.

Jetzt war ich wieder da. Und die Wände schienen immer näher zu kommen. Mich zerquetschen zu wollen.

Das Auto war beängstigend klein. Mir ging der Sauerstoff aus. Ich fühlte mich eingeengt in dem Wagen. Mit zitternden Fingern löste ich den Sicherheitsgurt. Es dauert viel zu lange, bis er sich gelöst hatte. Ich bekam keine Luft mehr.

Stieß die Autotür auf. Taumelte ins Freie. Atmete die frische Luft ein. Der Regen war stärker geworden. Hatte meine Kleidung in wenigen Sekunden durchnässt.

Es hatte nichts Beruhigendes, hier zu stehen. Nichts Befreiendes. Es war beängstigend. Die große weite Welt. Um mich herum. Mit der ich leben musste. In der ich irgendwie zurechtkommen musste.

Ohne ihn. Mit der Wahrheit. Wie sollte ich das hinkriegen? Wie sollte ich das je schaffen? Ganz alleine. Warum hatte es nicht mich erwischt? Warum war er es gewesen, der sterben musste.

Ich fuhr mir mit den Händen durch meine Haare. Schaute mich panisch um. Es war niemand da, der mir helfen konnte. Der mir helfen würde. Ich war alleine.

Meine langen Fingernägel bohrten sich in meine Kopfhaut. Doch auch der Schmerz hatte nichts Beruhigendes. Er machte mir nur noch deutlicher bewusst, wo ich war. Was mir fehlte.

„Dann komm doch!", schrie ich in die Wolkendecke über mir. Der Regen vermischte sich mit meinen Tränen. „Dann komm doch und hol mich auch!"


Es Gibt Kein ZurückWo Geschichten leben. Entdecke jetzt