Fünf

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Wie viel Zeit mittlerweile vergangen war wusste ich nicht. Waren es Tage gewesen? Wochen? Monate? Oder nur ein paar Stunden, in denen ich auf meinem Sofa gesessen hatte, den Blick starr auf die Bilder vor mir gerichtet. Die Bilder, die uns gemeinsam zeigten. Glücklich. Lachend. Zusammen vereint. Weit weg von dem Tag, der uns auseinandergerissen hatte. Der Tag, seit dem die Zeit keine Bedeutung mehr für mich hatte. Sie verging einfach. Die Uhr tickte unaufhaltsam, ohne dass ich sie aufhalten konnte. Ohne dass ich sie zurückdrehen konnte. Was ich nur so gerne tun würde. Um alles ungeschehen zu machen. Den Lauf der Dinge zu verändern. Aber ich konnte nicht. Es war unmöglich. Niemals würde es gehen. Nie wieder würde er zurückkommen. Auch wenn es da einen Teil in mir gab, der es immer noch nicht akzeptieren wollte. Weiterhin auf seine Rückkehr hoffte. In einer fiktiven Welt lebte. Mit ihm.

In der Gegenwart ankommen wollte ich nicht. Ich wollte nicht, dass es zu Ende war. Meine Beziehung mit Rouwen. Unsere gemeinsame Zeit. Unsere Zukunft, die es nicht geben würde. Der Traum, in dem ich ihn wiedergesehen hatte, es war eine Art Hoffnungsschimmer für mich gewesen. Dass es alles nicht real war. Dass die Ärzte es irgendwie geschafft hatten, ihn zurückzuholen.

Ich wusste noch, dass es nicht allzu lange her war, da war ich jedes Mal zur Tür gesprintet, hatte es geklingelt. Nur, um immer wieder, jedes Mal enttäuscht zu werden, wenn ich durch den Spion gesehen hatte. Nie war er es gewesen. Immer jemand anderes. Selbsternannte Freunde waren es meistens gewesen. Sie alle waren aber nie wieder gekommen. Einmal hatten sie vor meiner Tür gestanden. Nur ein einziges Mal. Keinem bedeutete ich so viel, dass es sich für ihn lohnen würde, wieder zu kommen. Erneut zu versuchen, mich zu erreichen. Mit mir zu sprechen. Mich zu trösten.

Doch es war mir fast recht, dass es so war, wie es jetzt ist. Das Mitleid von anderen Leuten, was brachte es mir? Davon würde er auch nicht zurückkommen. Es würde mir sein Verschwinden nur noch deutlicher vor Augen führen. Mich noch tiefer in meinen Kummer stürzen. In eine Trauer, von der ich nie gedacht hatte, dass ich sie jemals in diesem Ausmaß erleben würde. Mein Leben war einfach perfekt gewesen. In den vergangenen Jahren hatte ich niemals einen Grund gehabt, um so etwas zu befürchten. Mich darauf vorzubereiten, wenn man das denn überhaupt konnte.

Wieder klingelte es an der Tür.

Ich blieb sitzen. Schaute mit tränenverschleiertem Blick auf das Bild vor mir. Er und ich. Zusammen am See. In seiner Sommerpause. Nach Wimbledon. Nach dem großen Triumph, den ich nie wieder wiederholen konnte.

Erneut drückte jemand auf die Klingel. Dieses Mal länger. Schriller. Hartnäckiger als alle Male zuvor.

Noch immer bewegte ich mich nicht. Mein Körper schien wie eingefroren zu sein. Meine Beine würden sich nicht bewegen, selbst wenn ich den Drang dazu verspürt hätte aufzustehen. Aber ich wollte nicht. Vielleicht war das auch der Grund, weshalb sich meine Beine nicht bewegen ließen. Weil sich mein Kopf, mein Geist, alles in mir dagegen wehrte, den Besucher zu empfangen. So zu tun, als sei alles in Ordnung. Als würde ich darüber hinwegkommen. Über ihn hinwegkommen. Denn ich wusste, dass ich das nicht können würde. Nicht jetzt und nicht in zehn Jahren. Er würde immer bei mir sein. Für immer würde er einen Platz in meinem Herzen haben. Dass hatte ich ihm versprochen. Und dieses Versprechen würde ich auch ganz bestimmt halten. Im Gegensatz zu allen anderen, die ich nicht würde halten können und die ich ihm gar nicht erst geben konnte.

Ein Schlüssel klapperte. Die Tür zu meiner Wohnung wurde aufgeschlossen. Schritte. Jemand kam herein. Sie rief nach mir. Aber sie erreichte mich nicht. Nicht einmal ihre Worte konnte ich verstehen. Ihre Stimme drang nur wie durch dicke Watte zu mir hindurch.

Ihr Auftauchen verursachte nicht einmal die kleinste Reaktion bei mir. Ich bewegte mich nicht. Schaute nicht zu ihr, als sie neben mir stand und die Hand auf meine Schulter legte. Lediglich in Gedanken machte ich mir eine Notiz, dass sie da war. Dass sie an mich gedacht hatte. Sich vielleicht Sorgen gemacht hatte. Wahrscheinlich kam sie gerade frisch aus dem Urlaub zurück und hatte davon gehört. Womöglich war es auch Sam, der sie informiert hatte, damit sie mich aus meinem Loch herausriss.

Es Gibt Kein ZurückWo Geschichten leben. Entdecke jetzt