Kapitel 6 ~ Beschützer #1

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Kerim war mir in den letzten beiden Tagen aus dem Weg gegangen. Zum Glück, denn ich hatte überhaupt keine Lust, auf eine Konfrontation mit ihm. Es war schon schlimm genug, ihn zu sehen. Wenn ich gewollt hätte, hätte er mit mir geschlafen. Ich konnte es immer noch nicht so recht fassen. Man las zwar ab und zu in der Zeitung von sowas, aber es passiert einem nie selbst. Und jetzt war es doch passiert. Beziehungsweise fast, denn ich war ja noch rechtzeitig abgehauen.

Trotzdem musste ich immer wieder daran denken, was hätte sein können. Prinzipiell war ich weder Optimist noch Pessimist, sondern eher ein Realist, aber in diesem speziellen Fall konnte ich nur pessimistisch denken. Ich hasste das Gefühl, so wenig Einfluss auf meine eigenen Gedanken zu haben.

Bisher kannte ich das nur, wenn ich über Jasons nachdachte, aber das ließ immer ein Kribbeln auf meiner Haut zurück. Es machte mich glücklich, auch wenn ich nicht mit ihm zusammen war. Aber das mit Kerim war etwas ganz anderes. Das brachte mich zum Zittern. Nach wie vor hielt ich meine Reaktion für übertrieben, aber ich behielt meine Gedanken ohnehin für mich.

Mal abgesehen von Jason wusste ja auch gar niemand davon. Es war bisher auch noch niemandem aufgefallen, wie viel Zeit wir jetzt miteinander verbrachten. Er hielt sich an sein Versprechen, und ließ mich kaum noch aus den Augen. Ich fand es echt schön, dass ich jetzt so viel Zeit mit ihm verbringen konnte.

Es hatte durchaus seinen Charme, dass er sich andauernd danach erkundigte, wie es mir ging, aber irgendwann bekam ich das Gefühl, als hätte ich einen an der Waffel. Inzwischen sollte er doch wissen, dass es mir soweit gut ging. Da brauchte er nicht alle halbe Stunde fragen. Beim nächsten Mal würde ich ihm genau das sagen, sonst würde ich noch wirklich verrückt werden.

Die meiste Zeit des Tages verbrachten wir am Pool und Strand, und weil sowieso alle mit sich selbst beschäftigt waren, fiel auch niemandem auf, dass wir nur noch Sachen zu zweit machten. Zoey hatte zwar einmal gefragt, ob ich es ihm schon gesagt hatte, aber ich war mir nicht sicher, ob das was damit zu tun hatte.

Ich hatte mir wirklich vorgenommen, es ihm zu sagen. Aber wie sollte ich das anstellen? Direkt mit der Tür ins Haus fallen und dabei das Risiko eingehen, dass er nie wieder mit mir sprechen würde? Andererseits war das wirklich eher unwahrscheinlich. Am besten fände ich es zwar immer noch, es gar nicht zu machen, aber das würde Zoey wohl kaum zulassen.

„Wie geht‘s dir?“, fragte er schon wieder. Diesmal reichte es mir: „Jason, mir geht's gut. Ich hab keine dauerhaften Verletzungen und das schlimmste, das mir hier passieren kann, ist ein Sonnenbrand. Mach dir nicht so viele Gedanken, ich wird‘s überleben.“ „Es beschäftigt mich eben. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass dich das wirklich so kalt lässt.“

„Na also hör mal! Als ich mich da letztens zu dir getraut hab, hat es mich ja wohl alles andere als kalt gelassen. Ich will halt nicht, dass sich mein ganzes Leben jetzt nur noch um sowas dreht. Es hat sich doch nichts verändert, ich bin immer noch derselbe Mensch. Klar, es war eine Erfahrung, auf die ich verzichten hätte können, aber das geht jetzt halt nicht mehr.“

Darauf folgte Schweigen, weil wir beide nicht wussten, was wir dazu noch sagen sollten. „Also gut, ich frag dich nicht mehr alle paar Minuten, wie es dir geht... Aber dafür musst du morgen Abend mit mir in die Disko gehen.“ Ich zuckte mit den Schultern, als wäre es mir vollkommen egal, dabei freute ich mich insgeheim wirklich über die Einladung.

Klar, ich konnte nicht tanzen, aber das musste ich vielleicht ja auch gar nicht. Ich war ziemlich gut darin, mich vor unangenehmen Dingen zu drücken. Was nicht heißen sollte, dass ich das gnadenlos ausnutzte, aber ab und an, machte ich durchaus davon Gebrauch. Sonst konnte man ja ohnehin nichts mit seinen Talenten anfangen.

„Wenn es dich glücklich macht“, murmelte ich und tat weiterhin so, als hätte ich eigentlich gar keine Lust. Er sollte nicht glauben, dass ich leicht zu haben sei. Was ich vermutlich auch gar nicht war, aber in seinem Fall wurde ich einfach weich. Wenn er mich mit seinen Schokoladenaugen ansah, konnte ich ihm keine Bitte abschlagen. So kitschig es auch klang, es war eben so.

„Und solange ich nicht tanzen muss“, grummelte ich noch. „Ne, weißt du? Ich geh mit dir in eine Disko, um unter keinen Umständen zu tanzen. Das macht doch Sinn, oder?“ „Klar“, sagte ich, ohne jegliche Ironie in der Stimme. Jason seufzte. „Du bist echt unmöglich.“ Langsam drehte ich mich auf meiner Liege um.

Das Brathähnchengefühl, das ich allmählich bekam, war nicht so unangenehm, wie man meinen sollte. Allerdings musste ich mich selbst wenden, um die schöne goldene Färbung zu bekommen. „Das bekomm ich oft zu hören.“ Für einen Moment war ich versucht, ihn zu fragen, ob er mich eincremen wollte. Ich hatte jedoch die Befürchtung, dass das dann doch zu übertrieben wäre.

Schließlich war mein Leben kein Film, in dem das Ganze dann etwas halbwegs Erotisches hatte. Bei uns würde das sehr blamabel enden, also ließ ich es. Besser so. „Bei der Hitze ist selbst das bloße Herumliegen anstrengend“, murmelte Jason irgendwann. Ich verstand nur zu gut, was er meinte, weil ich ebenfalls total fertig war. „Stimmt. Es fühlt sich an, als hätte ich einen Marathon hinter mir, dabei hab ich mich nur umgedreht. Stell dir mal vor, ich würde jetzt aufstehen.“

„Du hättest bestimmt einen Kreislaufzusammenbruch. Und dann würdest du umkippen und ich müsste einen Krankenwagen rufen.“ „Bloß nicht. Am besten bleib ich einfach noch eine Weile liegen.“ „Ja, das wird wohl das Sinnvollste sein. Und ich bleib auch einfach liegen, damit du nicht so alleine bist.“ Darauf erwiderte ich: „Sehr großzügig von dir.“ „So bin ich halt. Ein durch und durch guter Mensch.“

Wenn ich die Energie dazu gehabt hätte, wäre ich jetzt aufgestanden und hätte etwas nach ihm geworfen. Vielleicht hätte ich ihn auch mit Wasser übergossen oder so. Auf jeden Fall hätte ich irgendwas gemacht. Aber ich hatte weder die Energie, noch den Elan dazu, also musste er sich wohl oder übel mit einem protestierenden Brummen zufrieden geben.

Eigentlich wäre das die Gelegenheit gewesen, um ihm zu sagen, dass ich in ihn verliebt war. Er war schläfrig und später könnte ich behaupten, er hätte das bloß geträumt. Aber wollte ich das? Wenn ich es ihm sagen würde, sollte er nicht denken, dass er es sich bloß ausgedacht hatte. Vielleicht würde ich es ihm morgen sagen. Mal schauen.

My heart is on vacationWo Geschichten leben. Entdecke jetzt