Kapitel 6 ~ Beschützer #6

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Ich merkte genau, wie meine Hände anfingen zu schwitzen. Beide, auch die, die er hielt. Angestrengt biss ich die Zähne zusammen. Noch war es ihm offenbar nicht aufgefallen, denn er machte keine Anstalten, sie loszulassen. Trotzdem fühlte ich mich irgendwie eingeengt, zwischen dem was ich wollte und dem, was ich bereit war, ihm zu zeigen.

„Also?", fragte ich, nachdem er sicher zwei Minuten lang immer noch nichts gesagt hatte. Meine Nerven lagen in diesem Moment wohl ziemlich blank. Ich war es nicht gewohnt, mich in ernste Gespräche mit Jungs zu manövrieren und dass ich diesen hier besonders mochte, machte es auch nicht unbedingt besser. Seufzend fuhr sich Jason durch die Haare, die vom Wind jedoch sofort wieder verweht wurden.

Das war der Vorteil von langen Haaren; selbst wenn sie verweht wurden und einem im Mund landeten, sahen sie nie wirklich schlecht aus. Mit einem versteckten Schmunzeln betrachtete ich seine zerstörte Frisur. Das sollte er definitiv öfter tragen, dann kam ich mir nicht ganz so unperfekt neben ihm vor.

„Wir sind ja jetzt noch ein paar Tage hier", begann er und um ein Haar hätte ich schon wieder vergessen, wie man atmete. „Und wir haben ja gemerkt, dass ich nicht rund um die Uhr auf dich aufpassen kann, noch dazu, weil Zoey sonst früher oder später auf die Idee kommen würde, zu fragen, warum." Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „In Filmen funktioniert das mit einer Fakebeziehung auch immer, also hab ich gedacht, dass wir es zumindest probieren könnten. Was sagst du?"

Gleichermaßen überrumpelt und enttäuscht starrte ich auf das Meer. „Ähm." Was sollte ich denn darauf antworten? Einerseits wollte ich natürlich eine Beziehung mit ihm, sogar mehr als alles andere. Aber wenn er nur so tat, als würde er mich auf diese Weise mögen, half mir das auch nicht. Im Gegenteil, es verletzte bloß meinen Stolz und am Ende wäre ich doch nur wieder enttäuscht, dass es nicht geklappt hatte.

„Ich will eigentlich nicht so tun, als wäre ich mit irgendwem zusammen." Langsam entzog ich ihm meine Hand. Seufzend blickte ich nach oben, um den Tränen keine Chance zu geben, über meine Wangen zu rollen. Es war wirklich verflucht. „Das wäre die erste Beziehung, die ich hätte und die muss ja nicht direkt falsch sein. Die paar Tage halte ich jetzt auch noch so durch. Und ich kann verstehen, dass du keine Lust mehr hast, ständig auf mich aufpassen zu müssen. Das hätte ich um ehrlich zu sein auch nicht."

Daraufhin sagten wir beide nichts mehr. „Gehen wir trotzdem tanzen?", fragte er schließlich und ein Teil des schlechten Gefühls verschwand in den Tiefen meiner Gedanken. „An deiner Stelle, würde ich es nicht als Tanzen bezeichnen. Es hat eher was von einem gestrandeten Wal." Als er wieder meine Hand nahm, fing der ganze Arm an zu kribbeln.

„Ich hab doch schon mal mit dir getanzt und besonders schlecht war es nun wirklich nicht. Da hab ich wahrlich schon Schlimmeres gesehen." Mit einer gehobenen Augenbraue sah ich ihn an: „Und zwar was?" „Kennst du das, wenn in der Schule jemand vor dir eine Frage stellt und der Lehrer streckt dir seinen Hintern ins Gesicht? Das zum Beispiel. Oder einmal, als ich skaten war, hab ich einen ziemlich üblen Unfall beobachtet. Der Junge war vielleicht 14 und hatte einen gebrochenen Arm. Der Knochen stand raus. Das war auch ziemlich schlimm. Oder damals, als..."

Bevor er weitersprechen konnte, hielt ich ihm dann doch lieber den Mund zu. „Oder damals, als Onkel Benni Bohnensalat gegessen hatte und beim Abendessen Blähungen bekam." Lachend knuffte er mich in die Seite. „Deine Familie klingt so, als müsste man sie auf jeden Fall kennenlernen." „Das denken sie von sich selbst auch", gab ich zu. Ein bisschen vermisste ich sie ja schon. Meine Familie ein ganzes Jahr lang nicht sehen, war letztendlich nicht so schlimm gewesen, wie ich erwartet hatte, aber sie fehlten mir trotzdem.

„Freust du dich schon, sie alle wiederzusehen?", fragte Jason unvermittelt ernst. Ich nickte ohne zu zögern: „Klar. Sie sind schließlich meine Familie." Sein Griff um meine Hand wurde ein wenig fester. Augenblicklich bereute ich es, von dem Thema angefangen zu haben. Ich wusste doch ganz genau, dass das Verhältnis zwischen ihm und seinen Eltern nicht gerade gut war. „Ich würde meine Eltern glaube ich auch vermissen. Gibt ja sonst niemanden, der so darauf aufpasst, dass mein Ego nicht zu groß wird."

„Ach, da mache ich mir bei dir gar keine Sorgen", stellte ich lächelnd fest und rückte ein bisschen näher an ihn heran. Er konnte das jetzt so interpretieren, wie er wollte: entweder als tröstende Geste, oder aber als Suche nach Nähe. In Wahrheit war es wohl eine Mischung aus den beiden Komponenten. Außerdem war mir kalt geworden, die Nächte waren wesentliche kühler als die Tage.

Und es herrschten am Strand durch den Wind sowieso immer kältere Temperaturen als im Rest der Anlage. „Wirst du uns dann auch vermissen, wenn du wieder daheim bist? Ich werde dich nämlich schon ziemlich vermissen." Schweren Herzens sprach ich die Wahrheit aus: „Ja, du wirst mir auch unglaublich fehlen." „Tu vas me manque." Überrascht sah ich ihn an: „War das etwa Französisch?" Wenn mich nicht alles täuschte, bekam er tatsächlich rote Wangen.

„Ja, war es, aber ich sag dir nicht, was es bedeutet." „Solange du mich nicht auch noch vergewaltigen willst", murmelte ich trocken und war selbst überrascht davon, wie makaber meine Aussage doch war. Und traurig nahe an der Realität. „Ich glaub, wenn ich jemandem sowas antun würde, dann sicher nicht dir. Aber allgemein hab ich nicht vor, in diesem Leben jemanden zu vergewaltigen."

„Das du dich aber auch immer an die Regeln halten musst", sagte ich enttäuscht und wir mussten beide gleichermaßen darüber lachen. Als wir endlich vor der Hoteldisko ankamen, hatte sich meine Nervosität mehr oder weniger in Rauch aufgelöst. Die Stimmung zwischen uns war nicht angespannt und allzu hohe Erwartungen hatte er an meine Tanzkünste offenbar auch nicht. Halt mal, wo genau hatte er mich denn schon mal tanzen gesehen?

Für ein paar Sekunden versuchte ich fieberhaft eine Antwort auf diese Frage zu finden, aber dann gab ich es auf. Wahrscheinlich hatte er das Herumzappeln vorhin bei der Kinderdisko gemeint. Da hatte ich mich allerdings auch nicht übermäßig angestrengt, wenn ich ehrlich sein sollte. Jason hielt mir die Tür auf. „Nach dir, Coco."

„Danke", rief ich ihm zu, da die Musik schon hier draußen so laut war, dass man normale Lautstärker wohl nicht mehr verstand. Als sich die Tür hinter uns schloss, befand ich mich in einem Raum mit stickiger Luft, voller Rauch aus einer Nebelmachine, blitzenden Lichtern und verschwitzten Körpern. Das konnte ja heiter werden.

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