Kapitel 1 - Neuanfang

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Ich atmete tief ein.

Frischer Wind wehte mir um die Nase und ich nahm den zarten Geruch von weichem, unter nassem Geäst vergrabenem Moos wahr. Die zarte Note von moderndem Holz in Kombination mit der unverbrauchten, natürlichen Waldluft verschaffte mir tatsächlich ein Gefühl von Heimat.

Denn dort befand ich mich nun.

In unserem neuen 'Zuhause'. Ich befürchtete, dass wir auch hier nicht lange bleiben würden. Für gewöhnlich versuchte ich mich gar nicht erst an meine Umgebung zu gewöhnen, oder sie gar zu mögen, doch dieser Ort nahm mir die bewusste Entscheidung ab. Das freundliche kleine Haus, direkt am Rande eines großen Waldes war mir auf Anhieb sympathisch. Die Vorstellung, irgendwo zwischen Jamestown und Huger, zwei Kleinstädte South Carolinas im Nirgendwo zu leben, hatte Anfangs ziemlich öde geklungen. Doch jetzt freundete ich mich ziemlich schnell mit der Situation an. Beim Anblick des dichten Buschwerks, das nah an unser Haus grenzte, eröffneten sich mir ganz neue Möglichkeiten. 

„Ach hier steckst du! Sag mal, kannst du mir vielleicht mal helfen?", ein großer Junge von kräftiger Statur streckte seinen Kopf zur Tür herein. Seine verschiedenfarbigen Augen musterten mich mit einem Ausdruck von Empörung.

Es handelte sich hierbei um meinen eineiigen Zwillingsbruder Aurel. Er hatte, ebenso wie ich ein leuchtend grünes, sowie ein turmalinblaues Auge, was viele Menschen im ersten Moment irritierte. Außerdem teilten wir dasselbe, rabenschwarze Haar unserer Mutter und ebenfalls die Form unserer Gesichter ähnelte sich etwas, auch wenn seines im Laufe der Jahre deutlich markanter und der Kiefer deutlich breiter geworden war.

Unsere optische Erscheinung stach ziemlich aus der Masse heraus. Wenn wir uns gemeinsam unter die Leute mischten, und das taten wir oft, da wir regelrecht unzertrennlich waren, wurden wir entweder vorsichtig beäugt oder aber unverhohlen angestarrt.

Die Bindung zwischen uns war außergewöhnlich, was mit daran liegen konnte, dass Aurel einer der bloß zwei Freunde war, die ich hatte. Dank der vielen Umzüge waren wir kaum in der Lage andere Bekanntschaften zu machen. Irgendwann hatten wir uns entschlossen, dass es weniger schmerzen würde, wenn wir es gar nicht erst versuchten.

Der zweite Freund, von dem ich sprach, war Luc, mein älterer Bruder.

Ja, ich weiß wie das klingt. Ziemlich armselig.

Und wenn ich ganz ehrlich bin, das ist es auch. Ich hatte mir schon oft ein anderes Leben gewünscht, doch mich immer wieder damit abfinden müssen, dass mir nun mal dieses Schicksal in die Wiege gelegt wurde.

Eigentlich erinnerte Luc mehr an einen Vater, als einen Bruder. Ein ziemlich lässiger, entspannter Vater mit viel Humor, aber eben ein Vater. Das hatte den Grund, dass er seit einigen Jahren der Einzige war, der für Aurel und mich sorgte. Er arbeitete viel um uns über Wasser halten zu können und versuchte dennoch immer ein offenes Ohr und eine starke Schulter für uns, und insbesondere mich, übrig zu haben. In meinen Augen könnte sich so mancher Vater eine gewaltige Scheibe von meinem erst vierundzwanzigjährigen Bruder abschneiden.

Als unsere Eltern Jack und Claire Lockwood vor Jahren bei einem Unfall ums Leben kamen, dessen Ursache niemand von uns kannte, wurde unsere Familie auseinander gerissen. Aurel und ich waren damals im Säuglingsalter und wurden in eine Pflegefamilie einquartiert. Doch, aus für uns unerklärlichen Gründen hatte uns diese im Alter von drei Jahren ins Kinderheim zurückgegeben. Zu unserem Glück trafen wir dort wieder auf unseren Bruder Luc, dem das Glück ebenfalls nicht vergönnt gewesen war, von einer Pflegefamilie aufgenommen zu werden. 

Ein gewaltiger Zufall, für den ich jeden Tag dankbar war.

Wir lebten bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr mit ihm gemeinsam im Heim, ehe Luc einen Job angenommen und seinen Auszug beantragt hatte. Er hatte früh gelernt selbstständig zu sein und war immer Aurels und mein Vorbild gewesen. Zwei Jahre später adoptierte unser Bruder uns schließlich mithilfe gefälschter Papiere und entdeckte so sein Talent für Fälschungen jeglicher Art. Diese ermöglichten es uns immer wieder erfolgreich unterzutauchen und unsere Spuren zu verwischen.

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